Marie-Sabine Rogers Erzählband »Die Küche ist zum Tanzen da« umfasst dreizehn Erzählungen voll überraschender und berührender Lesemomente. Mit ihrem besonderen Schreibstil, der einigen noch aus ihrem Roman »Das Labyrinth der Wörter« oder den nachfolgenden Romanen bekannt sein dürfte, verzaubert die Autorin auch in der Kurzform.
Handlung (dem Verlagstext entnommen): Berührende und poetische Geschichten über die Wunderlichkeiten des Lebens, in dem immer alles anders kommt, als man denkt: Eine Rollstuhlfahrerin begegnet zwei ziemlich bodenständigen Engeln und lernt mit ihrer Hilfe fliegen. Eine alte Dame wird abgöttisch von ihrem Papagei geliebt, der misstrauisch ihre Sorge um die undankbaren erwachsenen Kinder beobachtet. Eine schüchterne Sekretärin adoptiert ein Kätzchen, ohne zu ahnen, dass sich dadurch alles ändern wird.
Marie-Sabine Roger erzählt humorvoll von der Suche nach dem Glück, von Erinnerungen und Sehnsüchten – ein Buch, das tröstet und befreit.
»Sie gleiten mit konzentriertem Blick dahin, schlenkern rhythmisch mit den Armen, den Oberkörper leicht vorgebeugt. Manchmal richten sie sich auf und rollen im Freilauf weiter, aufrechte und stolze Könige auf dem Marmorschachbrett. Freie Vögel, die über einen See gleiten.«
(»Frei Vögel«, Seite 51)
Als Autorin des Erfolgsromans »Das Labyrinth der Wörter« ist Marie-Sabine Roger auch der deutschsprachigen Leserschaft seit einigen Jahren bekannt. Insbesondere seit der großartigen Verfilmung des Romans mit Gérard Depardieu in der Hauptrolle sind es nicht nur Leser, die sich von ihren Geschichten berühren lassen. Beim Atlantik/Hoffmann und Campe Verlag sind die Romane »Der Poet der kleinen Dinge«, »Das Leben ist ein listiger Kater« und »Heute beginnt der Rest des Lebens« ebenfalls sehr erfolgreich erschienen. Dass die Autorin allerdings auch wunderbare Erzählungen verfasst hat, ist hierzulande bisher unbemerkt geblieben. Schön, dass nun auch einige ihrer Kurzprosatexte ins Deutsche übersetzt wurden.
»Für ein Altenheim ist es gut, einen Hundertjährigen zu haben. Ein Hundertjähriger gibt der Warteliste immer einen kleinen Schub. Kaum sind die Kerzen ausgeblasen, trudeln drei oder vier neue Anmeldungen ein. […]
Wie Madame Prunier vom Empfang sagt: Hundertjährige verkaufen sich gut.«
(»Man wird nicht alle Tage hundert…«, Seite 59)
Die Erzählungen des Buches »Die Küche ist zum Tanzen da«, die den Erzählbänden »Les encombrants« (2007), »Il ne fait jamais noir en ville« (2010) und »La théorie du chien perché« (2003) entnommen wurden, thematisieren fast alle auf unterschiedlichste Weise die Probleme des Alters. Da verpflanzt ein Sohn seine Mutter vom Land in ein Altenheim in der Stadt. Da lässt sich eine alte Frau aus Einsamkeit von den eigenen Verwandten ausnutzen. Da lernt eine alte Frau durch zwei ganz besondere Engel fliegen. Da verhilft ein kleines Kätzchen einem ältlichen Mauerblümchen zu mehr Selbstvertrauen. Da verlieben sich zwei alte Menschen noch einmal aus tiefstem Herzen. Da verschafft eine Hundertjährige einem Bürgermeister ein ganz neues Image. Da tyrannisiert eine alte Pflegerin Nacht für Nacht die Insassen eines Altenheim. Da feiern alte Obdachlose gemeinsam Weihnachten. Da verliert eine Tochter ihre alte Mutter und gewinnt einen senilen Nachbarn. Da lebt eine Frau im Alter erst so richtig auf und wirkt jünger als die jugendliche Tochter. Da verliert ein Vater im Alter nach und nach seine Erinnerung. Da sorgt sich eine sterbende Frau um das Glück ihres Sohnes mit Down-Syndrom, doch verkennt, welcher ihrer Söhne dem Leben nicht gewachsen ist.
»Er ist ein wehmütiges Gespenst, das ohne rechte Überzeugung lebt, allein, traurig und still.«
(»Ihr Vater«, Seite 133)
In manchen Erzählungen spielt Marie-Sabine Roger mit dem Leser, führt ihn absichtlich aufs Glatteis und lässt ihn staunend zurück. Nicht immer hat ihr Trick bei mir funktioniert, dennoch habe ich jeden ihrer Kniffe bewundert. Sie wechselt oft die Perspektive und lässt sogar Tiere erzählen. Dennoch ist die Erzählperspektive außer in »Eine Nachtwache« immer stimmig. Durch den wunderbaren Schreibstil wirkt es, als wäre es unendlich leicht für die Autorin, in die Schuhe, in die Leben anderer zu schlüpfen. Die Erlebnisse, Gedanken und Gefühle ihrer Figuren bewegen tief und nachhaltig.
»Wenn ich draußen war, ging alles gut, da hatte die Welt für mich keine Geheimnisse. Und dann ging ich rein und es war, als hätte ich in meinem Kopf einen Fensterladen zugeklappt. […] Als müsste die Lunge die Luft kauen, bevor sie rauskonnte. […] Ich glaube, der liebe Gott kann keine Gedanken in meinen Kopf reinlassen, wenn zwischen mir und ihm eine Decke ist. […] Die Gedanken sind zu weich und die Decken zu hart. Man muss draußen sein, damit es funktioniert. Dächer sind Hindernisse für das Denken von Gedanken.«
(»Die Theorie vom Hund auf dem Baum«, Seite 178/179)
Fazit: Die gute Beobachtungsgabe und der sensible Umgang mit den besonderen Lebensumständen ihrer Figuren haben mich begeistert. Marie-Sabine Roger öffnet im Erzählband »Die Küche ist zum Tanzen da« Türen in andere Leben. Sie lässt ihre Leser durch die Augen ihrer Figuren blicken und bisher unbekannte Welten erobern.
Allen, die unaufgeregte Erzählungen mit unterschwelliger Kraft, Weisheit und stillem Zauber mögen, sei dieser Erzählband ans Herz gelegt.
Der Erzählband umfasst folgende Texte:
»Éliette und Léonard«
»Murphys Gesetz«
»Wie macht sie das nur?«
»Das Brautpaar«
»Freie Vögel«
»Man wird nicht alle Tage hundert…«
»Die Klammer«
»Es wird nie dunkel in der Stadt«
»Teerose«
»Ihr Vater«
»Vic«
»Eine Nachtwache«
»Die Theorie vom Hund auf dem Baum«
Marie-Sabine Roger »Die Küche ist zum Tanzen da«, aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer, ist im April 2016 im Atlantik Verlag erschienen – gebunden, 190 Seiten, EUR 18,00, ISBN 978-3455600285.
Über die Autorin: Marie-Sabine Roger wurde 1957 in Bordeaux geboren und lebt heute im Département Charente. Ihre Romane »Das Labyrinth der Wörter« (2010) und »Das Leben ist ein listiger Kater« (2014) waren in Frankreich und Deutschland Bestseller. Zuletzt erschien von ihr Roman »Heute beginnt der Rest des Lebens« (2015).
Laila Mahfouz, 1. August 2016
Links:
Informationen zu Marie-Sabine Roger auf der Seite des Hoffmann und Campe Verlages.
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