Zwischen den ca. 90.000 Neuerscheinungen allein in Deutschland können Bücher ohne viel Marketing leicht übersehen werden. Schade wäre dies im Falle von Dalia Staponkutés autobiografischem Buch »Jenseits vom Entweder-Oder: Meine persönliche Odyssee«, das seit 2015 in deutscher Übersetzung vorliegt und für welches die litauische Schriftstellerin die Auszeichnungen Buch des Jahres und Preis der Literaturkritiker in Litauen erhielt.
Inhalt (der Verlagsseite entnommen): Jenseits vom Entweder-Oder ist ein Buch über eine autobiographische Reise, die das Leben zwischen zwei grundlegend verschiedenen Ländern, Litauen und Zypern, beschreibt.
In einem persönlichen Mythos versucht die litauische Autorin, Übersetzerin und Philosophin Dalia Staponkuté beide zu vereinen. Sie beschreibt ihr Leben als Mutter und als intellektuelle Frau, die seit mehr als zwei Jahrzehnten in Zypern lebt und arbeitet. In vielen Details offenbart sie Themen wie begrenzte Chancen für Emigranten auf eine Anstellung, die Herausforderungen, die zweisprachigen griechisch-zypriotischen Töchter in einer anderen Kultur als der ihrer Mutter aufwachsen zu sehen und die nicht leichten Beziehungen zu den beiden Heimaten – Litauen und Zypern.
Gefangen in der ständigen Bewegung zwischen zwei Ländern, Sprachen und Kulturen fühlt sie sich nicht nur durch diese kulturelle Vielfalt bereichert. Ihre Ansprüche bleiben teilweise unerfüllt und sie fühlt sich in den Gegensätzen verloren. Die Frage stellt sich nach der dramatischen Möglichkeit, jenseits vom Entweder-oder der bisherigen ein weiteres – drittes – Land zu wählen.
»Meine litauischen Aufenthalte veränderten allmählich mein zypriotisches Leben und ich ließ mich auf die ständigen Reisen von einem Ufer meines Lebens zum anderen ein. Das eine Land befreite mich für kurze Zeit vom anderen, und ich glaubte, keine Wahl zu haben. Jahr für Jahr erlernte ich das Leben zwischen zwei Heimaten. Dies mündete in neue Zustände, in unerwartete Gefühlswallungen und rückte den Begriff „auswählen“ in weite Ferne.«
Teil I – Im Kreis gehen / Litauische Sommer und zypriotischer Alltag / Seite 24
Dalia Staponkuté bei der Preisverleihung Buch des Jahres (©Dalia Staponkuté)
Besonders im ersten Teil des Buches Im Kreis gehen wird der innere Konflikt zwischen dem Alltag auf Zypern und der Sehnsucht nach der Heimat Litauen spürbar und, für mich zumindest, absolut nachvollziehbar. Es sind wirklich zwei Welten vom regendurchtränkten, immergrünen, doch melancholischen Litauen zum sonnenverbrannten, immer gutgelaunten Zypern. So wie auch Bäume, die sich in einer der Regionen wohlfühlen, in der anderen keinen Lebensraum finden, fährt die Schriftstellerin einmal im Jahr nach Litauen, wie um nach Luft zu schnappen, endlich wieder die Luft atmen zu können, die sie zum Leben braucht.
»Manchmal fehlt mir die Muttersprache bis zum Verrücktwerden, bis zur Angst vor der Banalität. […] Die Sprache ist größer als die Welt, deshalb kann niemand sagen, was sie wirklich vermag und weshalb.«
Teil I – Im Kreis gehen / Die beste Schwiegermutter der Welt / Seite 78
Auf zauberhaft poetische Weise erzählt Dalia Staponkuté von der inneren Zerrissenheit, dem Konflikt mit ihren Töchtern, welche die Fremdheit, das Fremdfühlen der Mutter nicht akzeptieren wollen.
Im zweiten Teil des Buches Abschied von Freunden und Geliebten stehen die Entdeckungungen weiterer Welten im Mittelpunkt. New York, Kalifornien und auch Barcelona scheint Dalia Staponkuté fast wie im Traum bereist zu haben. Diese Passagen lesen sich entrückt, fast wie ein Drogenrausch. Es scheint als seien diese Orte an Dalia Staponkuté vorbeigezogen, ohne sie im Innern zu erreichen.
Vervollständigt wird das Buch durch die philosophischen, von Sinnsuche und Ideenexperimenten durchzogenen letzten Teile Selber Ort – neue Destination, Sprachrouten und Haltestellen und Vorahnung vom Dritten Land.
»Es ist stets der körpernächste Ring, der einen am meisten einengt.
Der Raum der Familie schien zu eng für die Entfaltung meiner angeborenen Leidenschaftlichkeit.«
Teil I – Im Kreis gehen / Die beste Schwiegermutter der Welt / Seite 67 + 68
Dass Dalia Staponkuté für die litauische Originalausgabe ihrer autobiographischen Reise »Jenseits vom Entweder-Oder – Meine persönliche Odyssee« / »Iš dviejų renkuosi trečią. Mano mažoji odisėja« die Auszeichnungen Buch des Jahres und den Preis der Literaturkritiker erhielt, verwundert mich keineswegs.
Ein Buch wie das vorliegende ist eine Seltenheit geworden. Klug reflektiert die Autorin über alle Stationen ihres Lebens, sieht die möglichen Abzweigungen, die sich ihr dargeboten haben und erkennt doch, dass ihr Leben nicht anders hätte verlaufen können. Sie war immer und bleibt wohl auch eine Suchende, eine Weltbürgerin, eine Fragende und eine schonungslos Hinschauende.
»Das Gefühl sagt mir manchmal, dass meiner Generation das Geschenk des natürlichen Todes abgeht. […] Wir sterben nicht mehr, wir kommen um. Ohne uns zu verabschieden und ohne langes Dahinsiechen. […] Das Dahinsiechen vor dem Tod trennt den Menschen […] nicht nur von der Welt, sondern auch von sich selbst, von der eigenen Geschichte. Er stirbt von sich selbst entfernt, wie jemand anderer. […] Diese Zeit ist so herrenlos und so mystisch, dass man sie nicht länger als Zeit der persönlichen Geschichte bezeichnen kann.«
Teil II – Abschied von Freunden und Geliebten / Widmung für alle, die nicht mehr sind / Seite 129 + 130
Obwohl Dalia Staponkuté einen Universitätsabschluss in Philosophie vorweisen kann, boten sich auf Zypern keine Vakanzen für sie. Nachdem sie einige Zeit als literarische Übersetzerin tätig war, verlegte sie sich auf Vergleichende Literaturwissenschaft und hat dies zehn Jahre an der University of Cyprus in Zyperns Hauptstadt Nicosia gelehrt. Ihren Doktortitel in Vergleichender Literaturwissenschaft erlangte sie 2008 an der University of Cyprus und der University of Warwick, UK. Von 2012 bis 2014 war sie als Dozentin auf diesem Gebiet an Universitäten in Litauen tätig.
Heute arbeitet sie als Dozentin an verschiedenen Universitäten und übersetzt Literatur u.a. aus dem Griechischen ins Litauische. Moderne Autoren wie Nikos Kazantzakis, dessen Werk sie ebenfalls übersetzte, hatten großen Einfluss auf ihre Arbeit als Schriftstellerin. Pendelnd zwischen den Welten sei sie auch literarisch zu einer Nomadin geworden, erklärte Dalia Staponkuté. Auf diese Weise sind ihre innere und äußere Odyssee und dieses Buch selbst zu ihrem Dritten Land geworden und zu einem Vermächtnis für ihre zypriotischen Töchter mit halblitauischen Wurzeln.
»Liebe und Misstrauen. […] Das Pendel dieser Zustände schwingt in die eine oder andere Richtung, je nachdem, ob du dich auf der Reise von dir selbst lossagen und dich vergessen, oder du dich unwiederbringlich der Vergangenheit anvertrauen kannst und dich zu Beginn eines neuen Lebensabschnittes als Kind fühlst, das die Welt von neuem zu erlernen vermag.«
Teil II – Abschied von Freunden und Geliebten / Widmung für alle, die nicht mehr sind / Seite 133
Auch wenn an der Gestaltung des Buches (gebunden mit Schutzumschlag und Lesebändchen) absolut nichts auszusetzen ist, hätte ich diesem Buch einen größeren Verlag gewünscht, der es bekannter hätte machen und ein gründliches Korrektorat hätte veranlassen können.
Fazit: Dalia Staponkutés autobiografische Reise »Jenseits vom Entweder-Oder: Meine persönliche Odyssee« ist schon aufgrund seiner Andersartigkeit eine Wohltat. Ihre klugen Gedanken bereicherten mich und regten dazu an, einen anderen Blick auf die eigenen Lebensstationen zu werfen.
Unterwegs, immer auf der Suche nach ihrem Dritten Land, legt Dalia Staponkuté Zeugnis von ihrer Odyssee ab und vereint Philosophie, Belletristik, Reisebericht und Biografie auf wundersame Weise. Empfehlen möchte ich das Buch in erster Linie allen Philosophie- und Reiseinteressierten und allen, die eine in Deutschland bisher noch recht unbekannte Autorin entdecken wollen.
Am 16. März liest Dalia Staponkuté übrigens in London aus ihrem Buch. Die weiteren Informationen zu der Veranstaltung finden Sie hier.
»Jahrzehnte sind vergangen und noch immer bin ich eine Reisende, die sich Morgen für Morgen einen Weg von der Schwelle ihres symbolischen Hauses bahnt. […] Reisen ist ein innerer Zustand.«
Teil II – Selber Ort – Neue Destinationen / Namen ohne Heimat / Seite 147
Dalia Staponkutés »Jenseits vom Entweder-Oder: Meine persönliche Odyssee« ist im März 2015 in der Übersetzung von Markus Roduner im Verlag Expeditionen für EUR 19,90 erschienen – gebunden, 260 Seiten, ISBN 978-3943863215.
Über die Autorin: Dalia Staponkuté (geb. 1964) ist eine litauische Schriftstellerin, Philosophin und Übersetzerin von griechischer und englischer Literatur. Sie lebt seit mehr als zwanzig Jahren in Nikosia, Zypern, und hat zwei dort geborene Töchter. Staponkuté schloss ihr Philosophiestudium 1987 an der Universität von St. Petersburg, Russland, ab. Sie unterrichtete an Universitäten von Litauen, arbeitete aber nach ihrer Übersiedelung nach Zypern hauptsächlich als Übersetzerin und Schriftstellerin. Sie besitzt einen Doktortitel in Vergleichender Literaturwissenschaft der Universität Zypern. Sie ist Übersetzerin der Bücher von Nikos Kazantzakis aus dem Griechischen ins Litauische.
Dalia Staponkuté hat Essays über Übersetzungstheorien, Emigration und Zweisprachigkeit geschrieben und hat neben Artikeln, Essays und Aufsätzen 2007 den Essay-Band »Regen contra Sonne«, der als Buch des Jahres in Litauen nominiert war, und 2014 ein akademisches Buch über den litauischstämmigen amerikanischen Philosophen Alphonso Lingis veröffentlicht. »Jenseits vom Entweder-Oder: Meine persönliche Odyssee« erschien im Jahr 2014 in Litauen unter dem Titel »Das dritte Land«, wofür sie in 2015 mit dem Preis der Literaturkritiker, der höchsten literarischen Auszeichnung in Litauen und in 2016 dem mit Publikumspreis Buch des Jahres ausgezeichnet wurde.
Laila Mahfouz, 14. März 2017
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