Roland Schimmelpfennigs Roman »An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts« war 2016 für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert und erzählt die Geschichten verschiedener Menschen sowie des ersten nach Brandenburg heimkehrenden Wolfes, deren Schicksale auf geheimnisvolle Weise verbunden sind.
»An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts überquerte ein einzelner Wolf kurz nach Sonnenaufgang den zugefrorenen Grenzfluss zwischen Deutschland und Polen.
Der Wolf kam von Osten. Er lief über das Eis der zugefrorenen Oder, erreichte das andere Ufer des Flusses und bewegte sich dann weiter Richtung Westen. Hinter dem Fluss stand die Sonne noch tief über dem Horizont.«
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»An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts« ist nicht nur der Titel des Romans sondern auch sein Anfang. Der hierin erwähnte Wolf wird durch Brandenburg bis nach Berlin wandern und auf seinem Weg die Schicksale unterschiedlichster Menschen streifen.
Da sind Micha und Elisabeth, zwei Jugendliche, die von zu Hause ausreißen. Wie in einem Grimmschen Märchen laufen sie durch den winterlichen Wald davon, ohne zu wissen, wie genau sie nach Berlin gelangen können. Ihrer Fährte folgt bald schon der Vater des Jungen, ein gerade aus der stationären Psychiatrie entlassener Mann, der auf seinem Weg gegen seine Alkoholsucht ankämpft und obwohl er seinen Sohn durch Zufall wiederfindet, diesen Kampf sowie seinen Jungen verliert.
Da ist Tomasz, ein polnischer Bauarbeiter, der nach einem Besuch bei seiner Familie in Polen zu seiner Freundin Agnieszka in Berlin unterwegs ist und auf der Autobahn den Wolf als erster erblickt. Er schießt von ihm ein Foto, das ihn reich machen könnte. Agnieszka hatte allerdings in seiner Abwesenheit eine Affäre mit einem Deutschen, so dass Tomasz‘ Welt auf den Kopf gestellt wird.
Da ist der Kioskbesitzer Charly, der von der Erlegung des Wolfs besessen ist, da er sich von ihm, aufgrund der Gleichgültigkeit des Wolfs ihm gegenüber, persönlich gedemütigt sieht. Nicht einmal seine Frau Jackie kann diesen nationalfarbengetreuen Möchtegern aufhalten. Charly ist eine Figur, die abstößt und entsetzt. Obwohl er der unsympathischste Charakter des Buches ist und man ihn getrost psychopathisch nennen kann, schafft Schimmelpfennig in diesen Teilen des Romans die größte Spannung, die meinerseits daher rührt, den Wolf vor Charly in Sicherheit wissen zu wollen.
»Charly hatte die Kamera um den Hals, aber er war vor Angst gelähmt. […] Der Wolf war groß und abgemagert. Er stand reglos da und beobachtete Charly. […] Der Wolf bewegte sich dann plötzlich sehr schnell. Er überquerte die Fahrbahn, sprang über den Straßengraben und lief über ein Feld Richtung Eiche und Richtung Marzahn. […] Charly schrie dem Wolf hinterher.«
Seite 75+76
Da ist eine Greisin, die aus einem Abrisshaus nicht ausziehen will und mit den eigenen Exkrementen einen alten Ofen befeuert, weil man ihr den Strom abgedreht hat. Da ist eine spirituelle Frau, die vor der Konfrontation mit ihrer Vergangenheit wegläuft, in dem sie diese verbrennt. Da ist eine junge Journalistin, die sich mit der Wolfsgeschichte profilieren möchte. Da ist ein verlorener Freund, der seine Wohnung und sich selbst verliert – wobei die Reihenfolge unklar ist. Da ist ein Mann, der seine Tochter in der Obhut ihrer gewalttätigen Mutter zurückgelassen hat und nun versucht, seinen Fehler wieder gutzumachen.
Alle irren umher und sind dem Winter und dem eigenen Schicksal ausgeliefert, ohne beiden etwas entgegen setzen zu können.
»[…] es kommt mir so vor, als ob es nur gerade Richtungen gäbe, die Wege sind vorgegeben, und man kann von dem Raster nicht abweichen, wie in einem Kanal, oder wie wenn man Fugen entlangliefe und man erst die Richtung wechseln kann, wenn man am Ende einer Fliese angekommen ist und die nächste anfängt.«
Seite 139
Viele Menschen bevölkern Schimmelpfennigs Roman, doch eine der wahren Hauptpersonen ist Berlin selbst. Bereitwillig lässt sich der Leser vom offensichtlich ortskundigen Autor durch den Osten der Hauptstadt führen. Der Roman erzählt vom Dorfleben ohne Privatsphäre, der Anonymität der Großstadt, der Orientierungslosigkeit in seiner Sozialwüste, von Arbeitslosigkeit, Alkoholismus, Vereinsamung und der Entfremdung von der Natur.
In sehr kurzen Kapiteln legt Roland Schimmelpfennig seine Geschichte dar, die sich aus vielen kleinen Puzzleteilchen zusammensetzt. Der Roman besteht aus den Geschichten von etwa einem Dutzend Menschen, manche sind Hauptfiguren, andere kommen nur am Rande vor, doch allen ist ein trübes Schicksal und eine intensive Auseinandersetzung mit diesem gemein. Nicht nur durch den Wolf sind all diese Menschen verbunden, ohne dass die Protagonisten selbst es bemerken wollen oder könnten, denn vielfach laufen sie schlicht aneinander vorbei.
Warum die Rückkehr eines Wolfes in sein ursprüngliches Verbreitungsgebiet die Menschen so in Aufruhr versetzt, kann ich weder im Roman noch im wahren Leben begreifen. Roland Schimmelpfennigs Roman zeigt den Menschen als Wolf, wie wir ihn aus den Märchen kennen und den Wolf selbst als das, was er ist: ein Tier, welches sein Verbreitungsgebiet erweitern und altangestammte Gegenden zurückerobern möchte. Im Gegensatz zum Menschen befindet sich der Wolf eindeutig jenseits der Einteilung von gut und böse und so muss er außerhalb der ländlichen Gegenden in der vom Menschen geschaffenen Wildnis der Großstadt früher oder später zugrunde gehen.
Roland Schimmelpfennigs Erzähltempo passt sich seiner verschneiten Landschaft an – alles wirkt verlangsamt und wie unter einer Schicht aus Schnee, der die Körper der Menschen vor Kälte taub sein und alle Töne verstummen lässt. Der Mangel an Adjektiven lässt sich dabei leichter verschmerzen, als der Mangel an Innenleben der Figuren. Ein wenig scheint es, als verließe der Dramatiker Schimmelpfennig sich beim Schreiben seines Debütromans auf die Schauspielkunst seiner Figuren. Diese jedoch sind auf den Seiten des Buches zur Stummheit verdammt, wenn der Autor sie nicht mit Leben füllt. So durchstreifen sie mit ausdruckslosen Minen die winterlichen Straßen Berlins und die Leser können nur vermuten, was in ihnen vorgeht.
Fazit: Tatsächlich gefällt mir das Buch jetzt, da ich es etwa zwei Wochen verdauen konnte, besser als direkt nach der Lektüre. Dies ist ein Roman der nachwirkt und seine Figuren lassen lange nicht los. Erzählt wird aus Sicht eines Chronisten, dessen Nüchternheit und Teilnahmslosigkeit fast schmerzt. Roland Schimmelpfennigs »An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts« ist alles andere als leichte Kost. Ja, diese Lektüre kann selbst hartgesottene Optimisten deprimieren und dennoch steckt in all den traurigen Schicksalen doch die Gewissheit, dass es einen Frühling geben muss, denn kein noch so kalter Winter währt ewig. Der Roman macht deutlich, dass wir alle miteinander verbunden sind und aufhören sollten, uns separat zu betrachten.
Wer traut sich nun, den Roman zu lesen und auf diese Weise im eiskalten Januar durch das winterliche Berlin zu streifen?
»Als der Zug vorbeigefahren war, war der Wolf nicht mehr da.
Die Sonne kam heraus.
Das war das letzte Mal, dass jemand den Wolf gesehen hatte, es war der Tag, an dem sich die Spur des Wolfs verlor.«
Seite 254
Roland Schimmelpfennigs Roman »An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts« ist im Februar 2016 für EUR 18,99 im S. Fischer Verlag erschienen – gebunden, 254 Seiten, ISBN 978-3104036359.
Wer in den Roman reinlesen möchte, findet hier eine Leseprobe.
Über den Autor: Roland Schimmelpfennig, Jahrgang 1967, ist der meistgespielte Gegenwartsdramatiker Deutschlands. Er hat als Journalist in Istanbul gearbeitet und war nach dem Regiestudium an der Otto-Falckenberg-Schule an den Münchner Kammerspielen engagiert. Seit 1996 arbeitet Roland Schimmelpfennig als freier Autor. Weltweit werden seine Theaterstücke in über 40 Ländern mit großem Erfolg gespielt. Im Fischer Taschenbuch Verlag sind erschienen: »Die Frau von früher«, »Trilogie der Tiere« und »Der goldene Drache«. »An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts« ist sein Romandebüt.
Laila Mahfouz, 17. Januar 2017
Links:
Informationen zum Autor auf den Seiten des S. Fischer Verlages finden Sie hier.
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