Hilary Mantel erklärte, ihr Roman »Im Vollbesitz des eigenen Wahns« sei eine Satire. Allerdings ist dies noch lange nicht alles. Eine beklemmend böse, vor Sarkasmus und britischem Humor strotzende Geschichte, genial gezeichnete Figuren sowie unvorhersehbare Verwicklungen zeichnen diesen Roman aus.
Handlung (der Verlagsseite entnommen): In Muriels Elternhaus lebt mittlerweile Colin Sydney mit seiner Familie, einer der alten Nachbarn von ihr und ihrer Mutter Evelyn. Vor allem ihn und die Sozialarbeiterin Isabel Field macht Muriel für die Geschehnisse von vor zehn Jahren verantwortlich. Der verheiratete Colin und Isabel waren einst ein Liebespaar. Beide sind aus den Auseinandersetzungen mit Muriel und Evelyn nicht unbeschadet hervorgegangen. Isabel gab damals nicht nur Colin, sondern auch ihren Beruf auf, während Colin in seine trostlose Ehe zurückkehrte. Mittlerweile haben sie angesichts pflegebedürftiger Eltern, renitenter Teenager, schwangerer Töchter und fremdgehender Ehemänner längst resigniert. Dagegen ist Muriels Energie ungebrochen. Auch wenn sie sich selbst als verrückt und dumm bezeichnet, legt sie eine bemerkenswerte Kreativität an den Tag, um Rache zu üben. Bei den Sydneys schleicht sie sich als grell geschminkte Putzfrau Lizzie ein; bei Isabel pflegt sie deren Vater im Altenheim als selbstlose, arme alte Mrs Wilmot. Ihre Rollen spielt Muriel so gut, dass keiner sie erkennt – vielleicht auch deshalb, weil jeder die Ereignisse von damals vergessen will. Erschöpft vom alltäglichen Wahnsinn, ahnen sie nicht, dass sie längst nicht mehr allein über ihr Leben bestimmen.
Hilary Mantels Romane »Wölfe« (»Wolf Hall«) und »Falken« (»Bring up the Bodies«) wurden jeweils mit dem Booker-Prize ausgezeichnet. Diesen Preis zweimal zu erhalten, gelang bisher außer der Britin nur dem Südafrikaner J. M. Coetzee und dem Australier Peter Carey. Da diese beiden Romane, die den zweiten und dritten Band ihrer Tudor-Trilogie darstellen, auch hierzulande erfolgreich waren, wurden nun auch Hilary Mantels Erstlingswerke »Jeder Tag ist Muttertag« (»Every Day is Mother’s Day«) und seine Fortsetzung »Im Vollbesitz des eigenen Wahns« (»Vacant Possession«) von Werner Löcher-Lawrence ins Deutsche übersetzt und sind im DuMont Verlag erschienen.
Schon mit ihrem Debütroman hat die Britin ihre Leser begeistert. Mit ebenfalls dreißig Jahren Verspätung erscheint jetzt »Im Vollbesitz des eigenen Wahns«, die Fortsetzung ihres Sozialdramas um die psychisch kranke Muriel Axon. Zwar erzählt dieser Roman den deprimierenden Fortgang der Geschichte aller aus »Jeder Tag ist Muttertag« bekannten Figuren, dennoch ist er auch gut zu lesen, wenn man die Vorgeschichte nicht kennt. Sicher ist, dass ein paar Zusammenhänge nicht klar werden (was man aber nicht merkt) und auch ein Teil des Humor verloren geht, wenn man den ersten Teil nicht kennt.
»Was du auch brauchen könntest«, sagte er, »ist ein Phrenologen-Kopf.« Er zog ein Schädelmodell hervor und schob es über die Theke. […]
Muriel starrte den Kopf an und fuhr mit der Hand über die schwarzen Linien, die den Schädel aufteilten.
»Was sind das für Striche, Sholto?«
»Sie zeigen die Sitze der menschlichen Fähigkeiten. […]«
Sie dachte an ihren Perückenständer und die glatte weiße Fläche seines Schädels. Es wäre ein Fortschritt. Eines Tages würden sich all diese Fähigkeiten verbinden, und sie würde vollendet hinaus in die Welt gehen.
Kapitel 3 / Seite 91/92
Zehn Jahre nachdem Muriel Axon von ihrer herrischen Mutter zum Kindsmord angestiftet wurde, wird sie zu Beginn des Romans aus einer psychiatrischen Anstalt entlassen. Ihre Mitpatienten, Sholto und Crisp sind, ebenso wie die vier Kinder von Colin und Sylvia und die Mitbewohner ihres neuen Domizils, eine Bereicherung des Personals in Hilary Mantels irrwitziger Gruselwelt.
Muriel Axon hat sich während ihres zehnjährigen Klinikaufenthaltes in den Wahn hineingesteigert, dass ihre ehemalige Sozialarbeiterin Isabel Field, Colin Sidneys damalige Geliebte, ebenso wie die Familie Sidney Schuld an ihrer Lage sind und so will sie sich für ihr verpfuschtes Leben und den Verlust ihres Kindes an allen rächen, die ihr in irgendeiner Weise Unrecht angetan haben – auch wenn dies Unrecht teilweise nur in ihrem Kopf existiert.
»Ich bin einsam, Sholto, hier in der Stadt. Manchmal möchte ich zurück in meinen Kopf klettern. Ich möchte mich auf meinem Bett zusammenrollen und mir die eigene Kehle herunterrutschen. Verstehst du?«
Kapitel 7 / Seite 215
Die intelligente, bösartige und dadurch gemeingefährliche Muriel Axon erweist sich als Meisterin der Täuschung und ist zu allem bereit. Als Putzfrau Lizzie Blank schleicht sie sich bei den Sidneys ein und als alte, ärmliche Mrs Wilmot „pflegt“ sie im Altenheim Colins Mutter und Isabels Vater. Ob durch ihr Zutun oder ohne, das Haus der Sidneys scheint immer mehr verflucht zu sein. Es ähnelt im Verlauf des Romans mehr und mehr einem Gruselkabinett. Kein Wunder also, dass Sylvia und Colin selbst den Bezug zu Edgar Allan Poes Kurzgeschichte »Der Untergang des Hauses Usher« / »The Fall of the House of Usher« herstellen. Während des allgegenwärtigen Unglücks aller Beteiligten weidet sich Muriel daran und empfindet pure Vorfreude bei dem Gedanken an den baldigen Absturz und Zerfall der Familie Sidney.
Trotz Streitereien und offensichtlicher Antipathien scheint es den Figuren der Geschichte faszinierenderweise unmöglich, sich voneinander zu lösen. Ob Colin und Sylvia, Florence und ihre Mutter, Isabel und ihr Mann, Sylvia und Lizzie Blank oder andere – immer wieder schafft es Hilary Mantel auf geradezu magische Weise, die Menschen miteinander zu verflechten. Bald wird klar, dass die Leben aller Beteiligten unlösbar und auf teilweise schreckliche Weise miteinander verstrickt sind.
Sholto sah sie finster aus seinem kleinen Rattengesicht an. »Als ich dich das erste Mal sah, Muriel, habe ich dich gefragt, was du seist, verrückt oder dumm. Du meintest, beides. Dem sind wir auf den Leim gegangen.«
»Ich bin nichts mehr.« Sie schlug sich mit der Faust auf die Rippen und beugte sich vor, als wollte sie das hohle Geräusch ersticken.
Kapitel 7 / Seite 216
Das manchmal als Zufall getarnte Schicksal ist die eigentliche Hauptperson in Hilary Mantels groteskem Werk. Denn ob böse Planungen oder gute Absichten – das Schicksal hält viel mehr Verwicklungen für alle bereit, als der Leser sich vorstellen kann. Da mag es noch so unwahrscheinlich scheinen, dass zum Beispiel Colins älteste Tochter vom Ehemann seiner Ex-Geliebten Isabel geschwängert wird, die Geschichte entwickelt eine solche Dynamik, dass alles in diesem Gesellschaftsportrait Britanniens der 70er und 80er Jahre vom Leser geschluckt, ja nahezu verschlungen wird.
© Els Zweerink
Fazit: Das dichte Psychogramm der fast diabolisch bösen Muriel Axon und der anderen Charaktere des Buches regen ebenso zum Nachdenken an wie der Spiegel, den die britische Schriftstellerin der Gesellschaft und damit den Lesern vorhält. Mit Muriel Axon hat Hilary Mantel eine unvergessliche Romanfigur erschaffen. Diese irrgeleitete Irre aus »Jeder Tag ist Muttertag« und »Im Vollbesitz des eigenen Wahns« ist an Bosheit und Niedertracht kaum noch zu überbieten und dennoch erweckt sie ob ihrer traumatischen Vergangenheit Mitgefühl im Leser. Das zu schaffen, dabei bestens zu unterhalten und zu erschüttern, scheint für Hilary Mantel nur eine Fingerübung zu sein. Dieser Roman sollte Kritiker und Leser gleichermaßen erfreuen.
Hilary Mantels Roman »Im Vollbesitz des eigenen Wahns« (Originaltitel: »Vacant Possession«) ist in der Übersetzung von Werner Löcher-Lawrence im August 2016 für EUR 23,00 im DuMont Verlag erschienen – gebunden, 288 Seiten, ISBN 978-3832198329.
Wer in den Roman reinlesen möchte, findet hier eine Leseprobe.
Über die Autorin: Hilary Mantel wurde 1952 in Glossop, England, geboren. Nach dem Jura-Studium in London war sie als Sozialarbeiterin tätig. Sie lebte fünf Jahre lang in Botswana und vier Jahre in Saudi-Arabien. Für den Roman ›Wölfe‹ (DuMont 2010) wurde sie 2009 mit dem Booker-Preis, dem wichtigsten britischen Literaturpreis, ausgezeichnet. Mit ›Falken‹ (DuMont 2013), dem zweiten Band der Tudor-Trilogie, gewann Hilary Mantel als erste Frau in der Geschichte den Booker zum zweiten Mal. Die Royal Shakespeare Company brachte ihre Romane ›Wolf Hall‹ und ›Bring up the Bodies‹ 2013 in Stratford upon Avon auf die Bühne. Eine auf ›Wolf Hall‹ basierende, gleichnamige Fernsehserie wurde 2015 auf BBC Two ausgestrahlt. Im deutschsprachigen Fernsehen lief die sechsteilige Produktion auf Arte. Bei DuMont erschienen zuletzt der Erzählband ›Die Ermordung Margaret Thatchers‹ (2014) und der Roman ›Jeder Tag ist Muttertag‹ (2016) sowie 2015 Hilary Mantels Autobiografie ›Von Geist und Geistern‹.
Laila Mahfouz, 1. November 2016
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