Lesung am 13. Oktober 2016 im Literaturhaus Hamburg: John Burnside las aus seinem im August erschienenen autobiographischen Buch »Wie alle anderen« und berichtete von seiner Arbeit. Der Schriftsteller setzt sich in seinem aktuellen Buch mit seiner psychischen Krankheit und seiner Alkoholsucht auseinander. Ein poetisches, kluges, mutiges und Mut machendes Buch.
Handlung (vom Verlag übernommen): Nach Jahren des Vorsatzes, ja nicht zu werden wie sein Vater, muss sich John Burnside eingestehen, dass er genau den gleichen Weg zur Hölle eingeschlagen hat wie der Mann, den er zutiefst verachtet: Drogen, Alkohol, Lügen und die systematische Weigerung, für sich und sein Handeln Verantwortung zu übernehmen. Ganz unten angekommen beschließt er, ein „bürgerliches“ Leben zu führen, zu sein wie alle anderen. Radikal ehrlich erzählt Burnside hier von seinem langen gewundenen Weg in die Normalität.
»Ich wusste, der einzige Weg, eine Ewigkeit vor Panoramafenstern, vollgepumpt mit Chlorpromazin und geschmacklosem, mit Kleie garniertem Frühstück zu vermeiden, bestand darin, allem, was ich kannte, zu entfliehen und als neuer Mensch neu anzufangen.
Als ein Mensch wie alle anderen.«
Surbiton / Seite 30
Nach John Burnsides wunderschönem Roman »In hellen Sommernächten« folgte mit »Lügen über meinen Vater« der erste Teil seiner Autobiographie, mit der er einem breiten Publikum bekannt wurde. In diesem Buch verarbeitet der Schotte seine unglückliche Kindheit mit einem alkoholsüchtigen und gewalttätigen Vater.
In »Wie alle anderen« erzählt Burnside die Jahre danach, seinen Wunsch, so zu sein wie alle anderen, obwohl er weiß, dass er – wie schon sein Vater – an Apophänie, einer Form der Schizophrenie, leidet, die ihn Stimmen hören und Dinge sehen lässt und ihn immer wieder in den Wahnsinn treibt. Die „normale“ Welt, in der er sich stets wie ein Phantom fühlt, führt ihn aufgrund seiner gelebten Normalitätslüge direkt hinein in den Abgrund von Alkohol, Drogen, Sex und Verzweiflung. So muss er feststellen, dass er seinem Vater – abgesehen von der Gewalttätigkeit gegen andere – auf erschreckende Weise ähnelt und auch im heutigen Alltag fürchtet er, dass sich in seinem Sohn die Anlagen wiederholen und diesen eines Tages in die Vorhölle führen könnten, die der Schriftsteller selbst nur zu gut kennt:
»Ich stierte mich im Spiegel an, musterte diese grauen, verwaschenen Augen – und im selben Moment überkam mich eine bittere Erinnerung an meinen Vater. […] Ich sah mich, und ich sah ihn. Wenn ich etwas gewollt hatte, als ich aufwuchs, dann anders zu sein als er, doch hier stand ich, sein Spiegelbild, sein Ebenbild. Spielte normal und redete mir eine dieser absurden, verwickelten Geschichten ein, wie er sie stets erzählt hatte.«
Der ungeheure Raum / Seite 293/294
»Er [Sohn] erwidert meinen Blick, das gleiche Gesicht, die gleichen Augen, und ich habe Angst um ihn, ganz plötzlich, Angst, meine Geschichte könnte seine Zukunft sein, Angst, dass das, was ich zurückließ, auf ihn wartet irgendwo entlang des Wegs, jenseits einer schmalen Brücke, in einer verqualmten Vorstadt am Ende der Straßenbahnlinie: die gleiche Ruhelosigkeit, die gleiche Schlaflosigkeit. Die gleiche Fantasie.«
Valium und Schlaflieder / Seite 107
John Burnside erinnert sich an Bekanntschaften (alle Namen wurden natürlich geändert), die sein Leben in dieser Phase prägten, an Greg, der ihn wie in Hitchcocks »Der Fremde im Zug« überreden will, seine verhasste Frau umzubringen, weil sie eine Vorliebe für »Tapestry« von Carole King hat, an Gina, die ihren Kindern regelmäßig Valium verabreicht, um ungestört ausgehen zu können, an Helen, die in ganz jungen Jahren plötzlich und unerwartet stirbt und die ihm immer wieder als Geist erscheint, an Adele, eine Schönheit, die seine ganze Welt auf den Kopf stellt, an Esmé, die viel zu jung für eine wirkliche Liebesbeziehung ist, aber innerlich so weise wirkt. Sie alle begleiteten John Burnside ein Stück seines Weges in den Abgrund. Schonungslos erzählt er von seiner Alkoholsucht, den unzähligen Besäufnissen mit anderen und allein, von Drogen und dem Gefühl, nicht zu wissen, wo und mit wem man aufwacht, von der Langeweile, die sich beim Versuch, normal zu sein, stets einstellte und zu weiteren Betäubungsversuchen durch Alkohol führte. Vom Horror des Großraumbüros ist die Rede, von seiner Bewunderung für die Pioniere der Luftfahrt und seinem Traum, ohne Maschine fliegen zu können. Dieser Wunsch begleitet ihn ebenso seit Kindertagen wie die Sehnsucht, einfach zu verschwinden, sich zu verlieren, „in einem unvorstellbaren Anderswo anzukommen“. Er berichtet von einigen kleinen Wundern und wunderbaren Augenblicken seines Lebens, aber auch davon, wie der Wahnsinn ihn nie ganz loslässt, wie er wieder und wieder am Normalsein scheitert und doch wie besessen ein um das andere Mal daran glaubt, geläutert zu sein und endlich einen neuen Anfang als Mensch wie alle anderen beginnen zu können.
»Der Irrsinn köchelte gleichsam vor sich hin, ein Brodeln unter der Oberfläche, nicht so sehr unterbewusst als vielmehr subkutan, ein Gebräu aus Fieber und Juckreiz unter der Haut, das manchmal ausbrach, ans Licht drang und alles überflutete. […] Mindestens einmal am Tag, an den meisten Tagen auch mehrmals, spürte ich diese Strömung unter der Oberfläche, eine stete Erinnerung daran, dass ich eine Lüge war, dass das, was ich tat, eine Lüge war, andererseits waren Lügen auch das einzig Spannende in meinem Leben, zumindest im Augenblick […]«
California Dreaming (I) / Seite 217
»Wie alle anderen« ist eine Autobiographie, die sich streckenweise allerdings wie ein Roman liest und von einer sehr poetischen Prosa ist. Im Gespräch mit Julika Griem erklärte John Burnside dann auch, dass er jedes Buch als Projekt verstehe und sich weder aus Literaturgattungen noch aus Genrebezeichnungen etwas mache. Nachdem der Autor selbst den Anfang des Buches im Original vorlas, fuhr der Schauspieler Sebastian Rudolph mit einer langen deutschen Passage fort. Der gelungene Vortrag entfaltete einen regelrechten Sog, so dass ich dem Ende der Lesung mit größtem Bedauern entgegensah.
Wie John Burnside in »Wie alle anderen« am Surbiton, seinem Normalitätsexperiment scheitert, liest sich ohne Sensationsgier. Im Leser entsteht dabei auch keine Schadenfreude. »Wie alle anderen« ist kein Buch für die, die sich humorvolle Unterhaltung wünschen, um sich ein paar Stunden zu vertreiben, doch es führt zu einer ungeheuren Bewunderung vor dem Mann, der sich aus solchen Tiefen zu einem der besten schottischen Autoren aufgeschwungen hat und vor dem Dichter, der mit seiner bildgewaltigen und poetischen Sprache auch in den düstersten Momenten zu verzaubern weiß. Wie es dem Autor gelungen ist, einen Weg aus seinem jahrzehntelangen Irrweg zu finden und welche Erkenntnis er aus alldem zieht, sollte jeder selbst lesen, wirklich begreifen kann es wohl nur, wer den ganzen Weg – zumindest in Buchform – mit ihm gegangen ist.
Übersetzung: Ein Buch von John Burnside im Original zu lesen, ist ein immenses Vergnügen, denn dass der Romancier auch Lyriker ist, zeigt sich in seinem wunderbaren Umgang mit der Sprache. Bernhard Robben, der Burnsides Werke übersetzt, zeigt auch in »Wie alle anderen« wie gut er den Stil des Autors umsetzen kann. Er schafft es, die Poesie einzufangen und in grandioser Weise zu übersetzen.
Warum allerdings so etwas wie zum Beispiel der Beatles-Song »With a Little Help from My Friends« wörtlich als „Mit ein wenig Hilfe meiner Freunde“ übersetzt wurde, bleibt mir ein Rätsel. Noch schwieriger wird es in diesem Fall: „als ich anfing, mich wieder auf Tage voller Wein und Rosen einzulassen.“ Der im englischen Sprachraum feste Begriff »The Days of Wine and Roses«, der sich seit Blake Edwards Film (1962, mit Jack Lemmon und Lee Remick in den Hauptrollen) als Synonym für Alkoholsucht und seine Folgen etabliert hat, muss die Nicht-Cineasten unter den Lesern der deutschen Übersetzung wohl fragend zurücklassen.
Fazit: John Burnsides Buch »Wie alle anderen« ist ein radikal-ehrliches, sprachlich gewandtes und feinfühlig die Gefühlswelt eines Menschen am Abgrund auslotendes Erinnerungsbuch. John Burnside gehört zu Recht zu den profiliertesten Autoren Schottlands, denn seine sprachliche Kraft, die sich in der Bildgewalt und der poetischen Sprachmächtigkeit zeigt, ist phänomenal. Die einzelnen Sätze gleichen oft kleinen Kunstwerken und dieses Buch, wie jedes andere des Autors, macht Lust auf mehr. Eine Leseempfehlung für alle, die bereit sind, diesen schweren Weg mit dem Autor zu gehen und sich auf die Fragen nach der Normalität, dem Hamsterrad des angepassten Lebens und den eigenen Zweifeln einzulassen.
Ein dritter autobiographischer Band, der sich hauptsächlich mit der Mutter Burnsides befasst, ist bereits 2014 unter dem Titel »I Put a Spell on You« erschienen und wird hoffentlich auch bald in der deutschen Übersetzung vorliegen.
John Burnsides Buch »Wie alle anderen« (Originaltitel: »Waking Up in Toytown«) ist im August 2016 in der Übersetzung von Bernhard Robben für EUR 19,99 im Knaus Verlag erschienen – gebunden, 315 Seiten, ISBN 978-3813507140.
Wer in den Roman reinlesen möchte, findet hier eine Leseprobe.
Übrigens ist parallel gerade John Burnsides Gedichtband »Anweisungen für eine Himmelsbestattung« übersetzt von Iain Galbraith in einer schönen Ausgabe im Hanser Verlag erschienen. Wer des Englischen mächtig ist, dem möchte ich aber insbesondere bei der Lyrik von John Burnside eher den Gedichtband im Original »All One Breath« ans Herz legen. Gerade bei Gedichten steckt in der Übersetzung selten der gleiche Zauber, der gleiche Umgang mit der Sprache, die im Fall von John Burnside oftmals geradezu betörend schön ist.
Einige Gedichte von John Burnside im englischen Original finden Sie auf der Website der Scottish Poetry Library.
Über den Autor: John Burnside, geboren 1955 in Schottland, ist einer der profiliertesten Autoren der europäischen Gegenwartsliteratur. Der Lyriker und Romancier wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Corine-Belletristikpreis des ZEIT-Verlags, dem Petrarca-Preis und dem Spycher-Literaturpreis. Sein Prosawerk erscheint auf Deutsch seit vielen Jahren im Knaus Verlag.
Laila Mahfouz, 25. Oktober 2016
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Die Fotostrecke zu dieser Veranstaltung finden Sie hier. Alle Fotos von Laila Mahfouz. Das Foto, das wir für die Gestaltung unseres Titelbildes nutzten, stammt von Helmut Fricke.
Weitere Informationen zu John Burnside finden Sie auf der Seite des Knaus Verlages. Hier finden Sie auch alle anstehenden Lesungstermine.
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