John Burnside gelingt es, den Zauber des Mittsommers, die sagenumwobenen Geschichten und die undurchschaubaren Farben des Nordens zum Leben zu erwecken und schafft eine Atmosphäre von ebenso unaussprechlicher Schönheit wie auch Angst. In seinem Roman „In hellen Sommernächten“ pocht unsere poetische Ader im Takt der Wellen, die sich an Norwegens nördlichsten Küsten brechen.
Eine kurze Einführung zum Inhalt: Die achtzehnjährige Liv lebt mit ihrer Mutter, einer berühmten Malerin, auf der kleinen norwegischen Insel Kvaløya inmitten der Lofoten. Dort, vom emsigen Treiben des Restes der Welt abgeschnitten, bringt das karge Leben, die langen Winter und hellen Sommer ihre Phantasie zum Blühen. Es ist der erste Sommer nach Beendigung ihrer schulischen Ausbildung und Liv weiß noch nicht, was sie mit ihrem Leben anfangen will. Vorerst verbringt sie ihre Tage so, wie sie es immer getan hat: Sie sieht sich tagelang in ihrem Sessel am Fenster die Fotos und Gemälde in den Bildbänden ihrer Mutter an, spioniert die Sommergäste ihres Nachbarn und väterlichen Freundes Kyrre mit dem Fernglas aus (in diesem Fall den englischen Autor Martin Crosby) oder besucht Kyrre auf eine Tasse Kaffee. Obwohl die Frage, was nun hier am Ende der Welt aus ihrem Leben werden soll, sie sehr beschäftigt, versucht sie nicht darüber nachzudenken. Als zwei ihrer Mitschüler, die Brüder Mats und Harald, zu Beginn des Sommers im Abstand einiger Tage auf unerklärliche Weise in einer ruhigen Bucht ertrinken, nimmt für Kyrre die Legende der Huldra, die junge Männer in den Tod lockt, immer mehr Gestalt an. Mehr und mehr verdächtigt er Livs geheimnisvolle, herumstreunende Mitschülerin Maia, die er für die Huldra hält. Livs Mutter nimmt zu spät wahr, wie sehr die Ereignisse ihrer Tochter zusetzen. Auch wird sie nie erfahren, wie real die Geschehnisse für das Mädchen geworden sind. Obwohl sich Liv mit all ihrer Vernunft dagegen zu wehren versucht, wird auch sie mehr und mehr in den Bann der Huldra gezogen und kann sich immer weniger in ihrer eigenen Realität halten. Als sie schließlich mit ansehen muss, wie Menschen vor ihren Augen für immer spurlos verschwinden, ist sie endgültig an jenen Ort und das Rätsel um die Huldra gebunden, findet dadurch aber auch endlich ihre Bestimmung.
Der Plot allein reicht für die Beschreibung des Buches „In hellen Sommernächten“ bei Weitem nicht aus. Viel mehr sind es die Beschreibungen von Atmosphäre und Stimmungen des mystischen und für uns fremdartigen Polarkreises, die John Burnside hier einzufangen weiß und die den Leser in ihren Bann ziehen. Für seinen aktuellen Roman verlegte der schottische Erzähler und Lyriker den Schauplatz seiner ungewöhnlichen Handlung auf die norwegischen Lofoten und schafft damit Raum für genau die richtige Portion Mystik. Die Ich-Erzählerin Liv berichtet von Ereignissen, die bereits zehn Jahre zurückliegen, jedoch bis heute ihr Leben bestimmen. Die damals 18-Jährige musste irgendwann erkennen, dass sie das zweite Gesicht besitzt und Dinge wahrnimmt, die anderen verborgen bleiben. Was sie nie wollte, ist sie geworden: Eine Zeugin. Sie wollte immer unerkannter Beobachter sein, aber es ist ihr trotzdem passiert, „etwas zu sehen, das nie geschehen sein konnte“, dennoch versucht sie, während der gesamten Handlung des Romans, die Oberhand zu behalten. Wie kann sie ihren Verstand bewahren, wenn sie ihren Augen nicht mehr trauen kann? Das Mädchen will sich nicht in den altmodischen Erzählungen und Mythen ihres Freundes Kyrre verlieren, der fest an deren Wahrheit glaubt. Schließlich muss sie jedoch feststellen, dass die Grenzen zwischen Realität und Einbildung dort, so nah am Ende der Welt, fließend sind. Durch Niederschreiben des Erlebten will Liv für sich selbst Klarheit und „im Gefüge der Welt die Schlupflöcher“ zu der anderen Wirklichkeit finden.
Wie besessen versucht Liv, sich an jede Einzelheit dieses „Sommers des Ertrinkens“ zu erinnern. Sie will ganz Realistin sein, sich weder von alten Legenden noch von den hellen Nächten verrückt machen lassen. Die „Midnattsol“ sorgte aber bei Fremden schon immer für schlaflose Nächte und Halluzinationen und auch Livs Verstand wird von dem eigenartigen nachtlosen Licht stark angegriffen. Was ist wirklich geschehen? Was hat sie sich nur eingebildet? Haben die nordisch hellen Nächte ihren Augen und ihrem Verstand nur einen Streich gespielt?
John Burnside zeigt mehr als deutlich wie durchlässig unsere „reale“ Welt ist und wie nah wir am Rande der anderen Welt stehen, die viele als Wahnsinn bezeichnen würden. Für den Autor sind das Böse, Dämonische, die Geisterwelt Fassetten unseres Lebens, die er, ohne sie wirklich zu bewerten, aufs Trefflichste zu beschreiben weiß, selbst wenn dies nur durch Ängste der „normalen“ Menschen geschieht.
Ist der Leser anfangs noch überzeugt davon, den Tatsachenbericht einer Zeugin zu lesen, wird sein Vertrauen in Livs Wahrheitstreue auf eine harte Probe gestellt. Sie verliert sich immer mehr in ihren Ängsten und je mehr sie sich gegen die verrückten Geschichten eines alten Mannes, wie sie die Legende um die Huldra nennt, wehrt, desto mehr wird sie selbst Teil der Geschichte und kann ihr nicht mehr entkommen. Liv sagt deutlich, dass sie an die Huldra nicht glaubt, tut aber im nächsten Augenblick etwas, das beweist, dass sie die Legende längst als wahr angenommen hat. Wie John Burnside es schafft, diese Widersprüchlichkeit in seiner Protagonistin zu zeigen, ist meisterlich. In all ihrer unterkühlten Weltabgewandtheit ist Liv nicht die größte Sympathieträgerin, aber immer fasziniert sie und in ihrer Unschuld rührt ihr „erwachsenes“ Verhalten oft tief.
Die immense Distanz zwischen allen handelnden Personen fällt besonders auf. Trotz der engen Bindung zur Mutter ist selbst zwischen den beiden Frauen eine Grenze, die nicht überschritten werden kann, weder mit Berührungen noch mit Worten. Alle sind allein, niemand erlebt wirkliche Nähe. (Selbst die Beziehung von Livs Vater zu seiner jahrelangen Freundin war von Distanz geprägt.) Die Nachbarn, die „Freier“, alle sind allein und wollen sich auf keinerlei wirkliche Bindung einlassen. Livs Mutter ist allerdings eine Figur besonderer Art. Sie zu greifen, scheint unmöglich, obwohl Liv sie so gut zu kennen glaubt und uns an den zahllosen berechenbaren und unerschütterlichen Ritualen teilhaben lässt, die sie so gut kennt, über die aber nie auch nur ein Wort zwischen den beiden verloren werden darf. Sie versucht, Liv eine gute Mutter zu sein, doch merkt sie nie, was ihre Tochter wirklich bewegt oder ängstigt und begeht schließlich mit einer sehr gedankenlosen und egoistischen Handlung einen riesigen Vertrauensbruch, der Liv mehr als alles andere zeigt, dass ihre Mutter ihr kein Wort glaubt.
Durch Livs Fixierung auf ihre geniale, aber unterkühlte Mutter, die einzige Familie, die sie je kennengelernt hat, wächst auch Liv zu einem emotional unterkühlten Menschen heran, dem es nicht möglich ist, seine Gefühle zu zeigen. Auch die Liebe zu Kyrre, der immer wie ein Vater für sie war, begreift sie erst, als er verschwunden ist. Als Maia, die Liv längst ebenfalls als Huldra ansieht, immer mehr Raum in ihrem Leben einnimmt und schließlich ihrer Mutter sogar Model sitzt, wächst die immer unterschwellig vorhandene Eifersucht gegen jeden, der von ihrer Mutter ein Stückchen Aufmerksamkeit erhalten könnte, ins Unermessliche. Liv steigert sich so in ihre Ängste, dass sie fast verrückt wird. Genau in diesem Zustand sieht sie, was niemand ihr hinterher glaubt. Vielleicht ist der Riss im Gefüge der Welt, den Liv sucht und füllen will, eigentlich ein Riss in sich selbst, dem sie nichts entgegen zu setzen hat.
Vielleicht bin ich ja ebenso irre wie Liv (Sie ist am Ende des Buches überzeugt davon, nicht verrückt zu sein.), denn für mich ist Livs Beschreibung und die Unerklärbarkeit, die mit ihr einhergeht, immer noch die logischste aller genannten Lösungen des Rätsels um die fünf verschwundenen Menschen. Wenn Martin Crosby und Kyrre nur weggegangen wären, dann wären sie ja irgendwo anders wieder aufgetaucht, ihre Wege wären nachvollziehbar gewesen. Sie sind aber eben wie vom Erdboden verschwunden und Liv hat schon zehn Jahre versucht, eine einfache Erklärung zu finden, die sicher inzwischen gefunden worden wäre, wenn es sie denn gäbe. Den profanen Erklärungen wie „vielleicht ist er nach Narvik gefahren“ (und seit zehn Jahren nicht zurückgekommen) kann ich jedenfalls weniger Glauben schenken, als Livs taumelnden Beschreibungen. Leider ist es so, dass auch Livs Mutter den Erzählungen und Ängsten ihrer Tochter nicht traut, sondern glaubt, Liv leide an Halluzinationen. Als Martin Crosby ertrinkt, erleidet Liv tatsächlich einen Nervenzusammenbruch, der u. a. darin begründet ist, dass sie ihrer Meinung nach nichts getan hatte, um seinen Tod zu verhindern. Warum aber sollte ich mich als Leser eher auf die fadenscheinigen Erklärungen der Mutter verlassen, die sich selbst nicht gerade durch ein intaktes Sozialverhalten auszeichnet?
Vielmehr scheint es mir so, dass das Verschwinden des britischen Autors und des einsiedlerischen Kyrre niemanden außer Liv wirklich interessiert. Die Einsamkeit dort draußen ist auch eine Abkapselung von der Welt. In dieser Hinsicht hat Livs Mutter für sich den idealen Lebensraum ausgesucht, denn sobald ein Mensch für sie nicht mehr von Nutzen ist (zum Beispiel als Model), verliert ihre Mutter jedes Interesse an ihm und würde ihn auch nicht vermissen, wenn er fort wäre. Vielleicht ist der einzige Unterschied zwischen Liv und den anderen Bewohnern der Insel nur, dass sie nach einem Grund sucht, während alle anderen das Leben so nehmen, wie es kommt, ohne nach dem Warum zu fragen.
„Heute gingen wir bis ans Ende der Welt. Es ist nicht weit, nur eine kurze Fahrt …“ (Seite 278)
Schon mit seinen großartigen Romanen „Die Spur des Teufels“ und „Glister“ sowie der Autobiographie „Lügen über meinen Vater“ (alle auch in deutscher Sprache im Knaus Verlag erschienen) gelang es John Burnside immer wieder, seine Leser zu fesseln. Übernatürliche Phänomene spielen durchaus auch eine Rolle darin. Doch erst durch den Wechsel des Schauplatzes von Schottlands regengrauen Industriestädten hin zu der Einsamkeit und trotz all der Leere und Undurchschaubarkeit Norwegens fünftgrößter Insel Kvaløya ist ein Roman wie „In hellen Sommernächten“ möglich geworden. Schon zu Beginn ist sicher: Hier kann alles geschehen. Alles kann wahr sein und alles Illusion!
Wie Martin Crosby, der englische Autor in der Geschichte, der in Kyrres „Hytte“ einen Sommer verbringen möchte, muss es auch John Burnside gemacht haben, denn in der Danksagung am Ende des Buches wird deutlich, dass er sich in der Gegend aufgehalten haben muss. Wie sonst wäre auch eine so detailgetreue Beschreibung des Landes, seiner Flora, Fauna und seiner besonderen Stimmung möglich gewesen?
Fazit: Mir ist diese Rezension denkbar schwer gefallen, denn die Figuren wie auch die Geschehnisse des Buches bleiben nicht greifbar. In fantastischen Bildern beschreibt John Burnside die menschenleere, zeitlose Schönheit auf den Lofoten, betont den Charakter der einsiedlerischen Menschen, die sich entschlossen haben, diese fast ungastliche Gegend zu ihrer Heimat zu machen. Verwirrende Figuren durchwandern seine hellen Sommernächte, bis der Leser mit ihnen einer Art Wahnsinn verfällt. Eine definitive Erklärung für alle die merkwürdigen Ereignisse bietet der Autor am Ende nicht an, aber wer sich auf den verstörenden Sommer im hohen Norden einlässt, dem kann ich ein poetisches und spannendes Lesevergnügen garantieren. „In hellen Sommernächten“ hat mich gefangen genommen, ich bin eingetaucht und ein Stück von mir ist wohl für immer dort verloren gegangen.
Zum Autor: John Burnside (* 19. März 1955 in Dunfermline, Fife in Schottland) ist ein schottischer Schriftsteller. Burnside studierte in Cambridge am damaligen College of Arts and Technology (heute: Anglia Ruskin University) Englisch und Europäische Sprachen. Danach war er in der Entwicklung von Computer-Software tätig, bevor er 1996 freiberuflicher Schriftsteller wurde.
Nachdem sein autobiographischer Roman „Lügen über meinen Vater“ für Aufsehen sorgte, wurde er nun für sein Gesamtwerk gemeinsam mit Judith Schalansky („Der Hals der Giraffe“) mit dem Spycher Literaturpreis Leuk ausgezeichnet, der den beiden hervorragenden Schriftstellern am 2. September auf Schloss Leuk verliehen wird.
John Burnside „In hellen Sommernächten“, Gebunden, 384 Seiten, erschienen beim Knaus Verlag für EUR 19,99 unter ISBN 978-3813504606.
Laila Mahfouz, 31. August 2012
Links:
Informationen zu John Burnside auf den Seiten des Knaus Verlags
Informationen zu „In hellen Sommernächten“ auf den Seiten des Knaus Verlags inkl. Leseprobe
Informationen zu Laila Mahfouz