Lesung am 20. September 2016 im Rahmen des Harbour Front Literaturfestivals: Nina George las aus ihrem aktuellen Roman »Das Traumbuch« und nahm ihre Zuhörer mit in die Welt eines Koma-Patienten und seiner Angehörigen. Ein fesselndes, bewegendes und tröstliches Drama und Nina Georges bestes Buch.
Handlung (vom Verlag übernommen): Ein Unfall verändert die Leben dreier Menschen: Edwinna, genannt Eddie, die Verlegerin für phantastische Literatur mit besonderem Gespür für das Wunderbare. Sam, der hochbegabte 13-jährige, der Klänge als Farben sieht und Menschen, Orte oder Stimmungen intensiver wahrnimmt als andere. Und Henri, Eddies einstiger Geliebter. Der ehemalige Kriegsreporter ist Sams Vater, der nach einem Unfall acht Minuten lang tot war und nun darum kämpft, aus dem Koma zu erwachen. Denn von dort, wo er beinah verlorengegangen ist, bringt er eine Botschaft für die, die er liebt.
»Vielleicht sind wir alle Geschichten, die gerade gelesen werden, und vielleicht rettet uns das vor dem endgültigen Verlöschen?«
Henri / Seite 75
Nach ihren erfolgreichen Romanen »Die Mondspielerin« und dem Bestseller »Das Lavendelzimmer« erschien im März 2016 Nina Georges neuer Roman »Das Traumbuch«, der ihren Themen-Zyklus der Endlichkeit abschließt. Es handelt sich um ihren bisher längsten und auch besten Roman. Die Autorin stellt sich mutig schwierigen Themen. Feinfühlig begibt sie sich in die Welt eines Koma-Patienten und wagt mit ihm den Blick hinter den Schleier des Todes.
»Als ob wir zwei Bücher sind, die zufällig in einem Regal nebeneinanderstehen, während es brennt, und die Deckel schmelzen, und unsere Buchstaben kippen ineinander.«
Sam / Seite 95
Die Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin Regula Venske moderierte mit viel Gespür für den Roman und seine sensiblen Themen den Abend in den Hamburger Kammerspielen. Nina George las zu jedem der drei Hauptcharaktere des Buches eine Passage, die sie fast auswendig, mit viel Gefühl und teilweise von Musik begleitet vortrug.
Die Sprache des Romans ist von schlichter Schönheit und Leichtigkeit und steht doch nie im Widerspruch zu den Themen Verlust, Tod, Loslassen und Trauer. Mit Henri, der sich in seinen Traumwelten verliert, schwebt sie zwischen Leben und Tod, zwischen dieser oder jeder anderen Wirklichkeit dahin und nimmt den Leser jederzeit mit auf diese tiefgründige, bewegende Reise.
»Alle […] waren mehr oder weniger geschickt darin, etwas zu erzählen, was nicht mit Worten zu fassen ist – das ist die Magie der Literatur. Wir lesen eine Geschichte, und danach ist etwas anders. Was, das wissen wir nicht, oder warum, durch welchen Satz, das wissen wir auch nicht. Und dennoch hat sich die Welt verwandelt und wird nie mehr dieselbe sein wie vorher. Manchmal merken wir es erst Jahre später, dass ein Buch der Riss in unserer Realität war, durch den wir, nichtsahnend, entkommen sind aus Kleinheit und Mutlosigkeit.«
Eddie / Seite 111
Bei der Lesung berichtete die Schriftstellerin, dass sie, wie ihre Hauptfigur Sam, selbst Synästhetikerin ist, also eine sehr andere Wahrnehmung als die meisten Menschen besitzt. Nina George kann in die Seelen der Menschen schauen. Vermutlich sind die Charaktere in »Das Traumbuch« aus diesem Grund so echt, so lebendig geworden. Auch die Nebenfiguren wie zum Beispiel der Arzt Dr. Saul, der „Gott“ genannt wird, oder die Krankenschwester Marion sind gut ausgearbeitete Persönlichkeiten, die dem Leser viel Freude bereiten. Madelyn, die eigentlich vierte Hauptfigur des Romans liegt im Wach-Koma und doch verliebt Sam sich unsterblich in das Mädchen. Allein durch Sams Recherche nach ihrem Leben, nach dem, was sie ausmacht, wird Madelyn zu einer so plastischen und vielschichtigen Romanfigur, dass es mich freuen würde, sie als Hauptperson in Nina Georges Zyklus über das Leben wieder zu treffen.
»Es ist eine Realität des Lebens, dass das Unerklärbare dazugehört.«
Eddie / Seite 395
»Das Haus der tausend Türen«, ist ein Buch aus Edwinnas Verlag (Seite 118), in dem sich der Protagonist in den verschiedenen Möglichkeiten, wie sein Leben hätte verlaufen können, verliert. In solch einem Labyrinth ist auch Henri gefangen, denn während er im Koma liegt, durchlebt er Momente seines Lebens, die jeweils durch eine kleine Veränderung tiefgreifende Konsequenzen nach sich ziehen und somit sein Leben vollkommen verändern. Nina George sagte dazu im Gespräch mit Regula Venske:
»Ich wollte einen Mann zeichnen, der zwischen den Türen, die er öffnen oder schließen könnte, steckt.«
Diese Paralleluniversen erinnern an die Viele-Welten-Deutung der Quantenphysik und ist ein wirklich faszinierendes Thema, über das es zu rätseln und zu philosophieren lohnt. Zu den Themen Koma, Astralreisen, Klarträume und so weiter werden viele die Stirn runzeln, doch dies sind Themen, die gerade sehr intensiv erforscht werden. Irgendwann sind es für die Menschheit vielleicht ganz selbstverständliche Fakten und dieses Buch könnte dann sehr fortschrittlich genannt werden.
Eine Tatsache muss doch längst auch die Ratio-anbetenden Menschen wie den Arzt „Gott“ stutzig machen: wenn Koma-Patienten angeblich nichts mitbekommen und wie tot daliegen, warum können sie dann hinterher genau beschreiben, was im Raum sowie auch ganz woanders passiert ist? Im Augenblick beschäftigen sich viele namhafte Wissenschaftler mit den Fragen, wohin die Patienten in der Narkose, an die sie sich nicht erinnern können, gehen. Die Berichte von aufgewachten Koma-Patienten jedenfalls ähneln sich auf frappierende Weise. Was sie aber am Leben hält, was sie zurückkehren lässt, ist noch nicht genug erforscht. Auch dieser Frage geht der Roman mit viel Feingefühl nach. Wer sich auf diese Gedankenexperimente einlässt, wird bereichert aus der Lektüre auftauchen.
Fazit: Nina George wagt in »Das Traumbuch«, was sie am allerbesten kann: sie springt mutig und mit ganzem Herzen auf das Gefühlskarussell und zieht den überrumpelten Leser mit. Erst vierhundert Seiten und viele Tränen später steigt er schwankend wieder heraus, schaut sich benommen um und stellt fest, dass die Welt noch dieselbe ist und es doch nie mehr ganz sein wird.
Mit »Das Traumbuch« geht Nina George weiter als bisher, sie riskiert mehr und gewinnt dadurch noch mehr Authentizität. Ein tröstliches Buch, das bei eigenen Verlusten hilft und die Toleranz und das Mitgefühl für andere verstärkt.
Für alle, die offenen Geistes und Herzens lesen, ist »Das Traumbuch« wohl eines der schönsten Bücher des Jahres, denn es ist ein intensives Leseerlebnis, das man nicht mehr vergisst!
Für diesen Artikel wurden bewusst Zitate ausgesucht, die nichts über den Inhalt des Romans verraten. An diesen ausgewählten Stellen ist aber – wie schon im Lavendelzimmer – Nina Georges Liebe zur Literatur spürbar.
Hinzufügen möchte ich das Ende der Danksagung, weil es die Autorin, die in den letzten Jahren den Verlust eines geliebten Menschen und eine eigene Nahtoderfahrung durchlebt hat, besser verstehen lässt:
»Mit dem »Das Traumbuch« habe ich den Themen-Zyklus der Endlichkeit geschlossen. Es war nötig, über Angst und unsere Vergänglichkeit zu schreiben, und auch, die Berührung von Leben und Tod in diesem Roman als eine Art »märchenhaften Ort« voller Parallel-Realitäten zu gestalten, als »Dazwischen, zwischen allen Welten, Himmel und Erde«, von dem wir alle nicht wissen, ob es existiert oder sich aus unseren Gedanken, Hoffnungen und Ängsten speist.
Jetzt erst fühle ich mich innerlich frei und mit über vierzig Jahren »gelebt« genug, um mich dem nächsten großen Zyklus zu widmen: dem Leben.«
Nina Georges Roman »Das Traumbuch« ist im März 2016 im Knaur Verlag für EUR 16,99 erschienen – gebunden, 411 Seiten, ISBN 978-3426653852.
Wer in den Roman reinlesen möchte, findet hier eine Leseprobe.
Über die Autorin: Die mehrfach ausgezeichnete Schriftstellerin Nina George, geboren 1973, schreibt seit 1992 Romane, Essays, Reportagen, Kurzgeschichten und Kolumnen. Ihr Roman „Das Lavendelzimmer“ stand weit über ein Jahr auf der SPIEGEL-Bestsellerliste, wurde in 34 Sprachen übersetzt und eroberte auch international die Bestsellerlisten, so die New York Times Bestsellerliste in den USA, die Bestsellerlisten in England, Australien, Polen, Israel und Italien. Mit ihrem Ehemann, dem Schriftsteller Jens Jo Kramer, schreibt Nina George unter dem Doppel-Pseudonym Jean Bagnol Provencethriller. Nina George ist Beirätin des PEN-Präsidiums und Gründerin der Initiative Fairer Buchmarkt. Sie lebt in Berlin und der Bretagne.
Nina Georges Roman »Das Traumbuch« ist im März 2016 als ungekürztes Hörbuch im Argon Verlag auf 7 CDs mit einer Gesamtlaufzeit von 9 Stunden und 51 Minuten erschienen, EUR 19,95 – ISBN 978-3839814642.
Richard Barenberg (Henri) und allen voran Cathlen Gawlich (Eddie) gelingt es perfekt, die sensiblen Themen auf unsentimentale und doch sehr emotionale Weise zu lesen. Jacob Weigert (Sam) fehlt es teilweise an Feingefühl; er bewegt sich ein wenig wie ein Elefant im Porzellanladen. Besonders störend gelesen ist Sams Freund Scott, den Weigert nicht nur quäkig sondern fast schon proletenhaft dumm dastehen lässt, obwohl er einen IQ von 152 haben soll.
Wer in den Roman reinhören möchte, findet hier eine Hörprobe.
Laila Mahfouz, 19. Oktober 2016
Links:
Die Fotostrecke zu dieser Veranstaltung finden Sie hier. Alle Fotos von Anders Balari. Mehr Informationen zu Anders Balari finden Sie hier. Das Foto, das wir für die Gestaltung unseres Titelbildes nutzten, stammt von Urban Zintel.
Die Website von Nina George finden Sie hier.
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Die Facebook-Seite des Romans »Das Traumbuch« finden Sie hier.
Weitere Informationen zu Nina George finden Sie auf der Seite des Knaur Verlages. Hier finden Sie auch alle anstehenden Lesungstermine.
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