Lesung am 28. Januar 2016 im Literaturhaus Hamburg: Martin Walser las aus seinem gerade erschienenen Roman. »Ein sterbender Mann« ist ein Briefroman mit vielen Facetten und Tonarten, dessen Themen Altern, Sterben, Liebe und Verrat sind.
Handlung (dem Verlagstext entnommen): Theo Schadt, 72, Firmenchef und auch als „Nebenherschreiber“ erfolgreich, wird verraten. Verraten ausgerechnet von dem Menschen, der ihn nie hätte verraten dürfen: Carlos Kroll, seinem engsten und einzigen Freund seit 19 Jahren, einem Dichter. Beruflich ruiniert, sitzt Theo Schadt jetzt an der Kasse des Tangoladens seiner Ehefrau, in der Schellingstraße in München. Und weil er glaubt, er könne nicht mehr leben, wenn das, was ihm passiert ist, menschenmöglich ist, hat er sich in einem Online-Suizid-Forum angemeldet. Da schreibt man hin, was einem geschehen ist, und kriegt von Menschen Antwort, die Ähnliches erfahren haben. Das gemeinsame Thema: der Freitod.
Eines Tages, er wieder an der Kasse, löst eine Kundin bei ihm eine Lichtexplosion aus. Seine Ehefrau glaubt, es sei ein Schlaganfall, aber es waren die Augen dieser Kundin, ihr Blick. Sobald er seine Augen schließt, starrt er in eine Lichtflut, darin sie. Ihre Adresse ist in der Kartei, also schreibt er ihr – jede E-Mail der Hauch einer Weiterlebensillusion. Und nach achtunddreißig Ehejahren zieht er zu Hause aus. Sitte, Anstand, Moral, das gilt ihm nun nichts mehr. Doch dann muss er erfahren, dass sie mit dem, der ihn verraten hat, in einer offenen Beziehung lebt. Ist sein Leben “eine verlorene, nicht zu gewinnende Partie“?
Der große Saal des Literaturhauses konnte die vielen Menschen kaum fassen und es dauerte etwas, bis auch der letzte ruhig auf seinem Stuhl saß. Niemand wollte verpassen, wie Martin Walser von seiner Arbeit am neuen Roman berichtete. Leider gab ein ihm tatsächlich widerfahrener Verrat, über den er sich allerdings ausschweigt, den Anstoß zu dem Roman. Beim Recherchieren zu den einzelnen Themen tauschte Martin Walser sich mit Thekla Chabbi, interkulturelle Beraterin bei China Communications und Übersetzerin chinesischer Literatur, aus. Es entstand ein spontaner Briefdialog, da Thekla Chabbi sofort in die Rolle der Aster und später auch Sina schlüpfte. Beide Autoren mussten dann jeweils mit dem zurechtkommen, was der andere geschrieben hatte. Obwohl selbstverständlich Idee und Konzeption des Romans von Martin Walser stammen, brachte Thekla Chabbi immer wieder neue Aspekte und Blickwinkel hinzu. Nachdem Theo Schadt sich in einem Suizidforum angemeldet hat und dort kundtut, warum er sich das Leben nehmen will, nimmt Aster seinen Todeswunsch zum Beispiel nicht ernst, womit Martin Walser nicht gerechnet hatte.
»Die Figur Aster, die geb ich jetzt ab? Die konnte ich ja nicht abgeben, die hatte ich doch gar nicht – das hat mich als Theo Schadt empört. […]
Bisher hatte ich als Theo Schadt meinen Todeswunsch ernst genommen.«
Doch ist das ein Wunder? Theo Schadt meldet sich im Suizidforum an und ist gleichzeitig überzeugt davon, dass er es mit einer neuen Firma nochmals schaffen werde. Diese innere Zerrissenheit kann auch Aster nicht verborgen bleiben.
»Das Schreiben liefert den Hauch einer Weiterlebensillusion. Zweitens, weil er noch nach einer Technik sucht, die das Gehen sensationslos, schmerzlos und reinlich verlaufen lässt. Aber dass er schreiben muss wie noch nie, das kann nur daran liegen, dass er nicht andauernd mit einundvierzig Menschen verbunden ist, die ihn ununterbrochen durch Fragen und Antworten in der Schwebe halten, sodass er nie stumm bei sich selber landet, sondern immer im Vollzug ist, im Lebensvollzug. Sobald er wieder eine Firma haben werde – und er werde wieder eine haben! -, wird nicht mehr geschrieben. Da werde wieder gelebt.«
(Kapitel 8, Seite 62/63)
Thekla Chabbi hat die Passagen von Sina und Aster sowie ein 22-seitiges Kapitel über eine Algerienreise verfasst, aus welchem sie im Literaturhaus Auszüge las (Martin Walser: »Eine Romanfigur wird lebendig und liest uns vor.«)
Die Frauenfiguren werden durch Chabbis Mitarbeit sehr glaubwürdig und mit ihrem ganz eigenen Ton zaubert sie zusätzlichen Glanz in den Roman. Zwar befindet sich vorn im Buch die Anmerkung, »Der Autor ist Thekla Chabbi für ihre Mitarbeit an diesem Roman zu großem Dank verpflichtet. Ohne ihre schöpferische Mitwirkung wäre der Roman nicht, was er ist.«, doch meiner Ansicht nach, hätte ihr Name als Co-Autorin auf den Buchdeckel gehört! Warum dies versäumt wurde, ist unklar. Bei der Lesung wies Martin Walser jedenfalls mehrfach darauf hin, dass Thekla Chabbi ganze Teile des Romans verfasst hat.
Dass sich alle seine Figuren nach dem strukturierten Anfang des Romans rasch selbstständig machten und immer unkontrollierbarer für den Romancier wurden, kommentierte Martin Walser so:
»Irgendwann konnte man dann mit denen auch nicht mehr machen, was man will.
Dann musste man den Figuren dienen. Das gehört sich so!«
So ließ Martin Walser dann geschehen und schrieb auf, was seine Figuren ihm vorlebten. Mit Begeisterung erzählte er, wie Theo Schadt ganz plötzlich dieser Blick von Sina Baldauf trifft und wie dieser Blick allein Grund genug zum Umsturz seines Lebens war. Zu solchen Eingebungen sagte der Autor:
»Das ist nicht planbar. Das ist einmal passiert und für mich hat es zu
einem unerwartbaren Reichtum eines Buches geführt.«
Auch wenn der im Selbstmitleid badende Theo Schadt teilweise an Egozentrik (die er Carlos Kroll immer vorwirft) nicht zu überbieten ist, ließen Martin Walsers routinierter Stil, seine schöne Sprache und sein Einfallsreichtum mich immer wieder gespannt eine Seite weiterblättern.
»Seine Gesten: ein Ballett mit zwei Händen. Der Zeigefinger der Rechten schießt empor, dann ein jähes Hin und Her dieses Zeigefingers, die absolute Verneinung. Dann die Rechte, als Beil und Messer zugleich, zerhackt, zerschneidet mit blitzschnellen Schlägen alles Gegnerische, es wird zerstückelt zu lächerlichen Teilchen.
Dann beide Hände hoch und flach hingestreckt: Da, schaut, seht ihr, wie stark ich bin, ich kann mir Offenheit erlauben! […] Putin war sich seiner Sache sicher.«
(Kapitel 8, Seite 57)
Die Befindlichkeiten anderer nimmt Theo Schadt nie wirklich wahr. Selbst als die von ihm so verehrte Sina zum ersten Mal wirklich ihr Herz ausschüttet und von ihrem Vater berichtet – eine Geschichte, die sie sehr mitnimmt – geht Theo darauf überhaupt nicht ein. Was nicht ihn betrifft, ist für ihn nicht relevant. Auch beim zweiten Mal, als sie ihm einen unglaublich ausführlichen und ergreifenden Bericht ihrer Erlebnisse schickt, reagiert er nur mit Eifersucht, ohne zu sehen, was in ihr vorgeht. In welchen Abgrund er seine Frau Iris mit seinem Auszug stürzt, bemerkt er ebenso wenig. Es scheint, als sähe er von jedem Menschen immer nur das Bild, das er gern hätte und nie den Menschen selbst. Bei einer so langen Ehe wie zwischen Theo und Iris ist dies besonders tragisch. Dies gilt aber ebenso für seine Tochter, seinen Schwiegersohn und auch für Carlos Kroll.
Für mich wurde Theo Schadt trotz seiner Begeisterungsfähigkeit und schwärmerischen Ader kein Sympathieträger. Dennoch nehme ich an, dass seine Figur recht passend gezeichnet ist und dass viele Menschen, die so zerstört sind und sich mit Selbstmordgedanken tragen, nicht in angebrachter Weise Rücksicht auf die Nöte anderer nehmen können, da sie vermutlich unaufhörlich um ihre eigenen Probleme/Schmerzen kreisen.
Was den Roman so besonders macht, sind die vielen Erzählebenen. Da sind die Briefe, die Theo Schadt an Aster schreibt, an Sina, an seine Frau Iris und da sind die unabschickbaren Briefe, in die einzig der Leser des Buches voyeuristischen Einblick erhält. Dann gibt es das Suizidforum, deren Mitglieder einen ganz besonderen Umgang mit dem Tod und miteinander pflegen. Auch eine Laudatio, die zu Ehren Carlos Krolls bei einer Preisverleihung gehalten wird und die viele seiner Gedichte enthält, ist Teil des Romans. Martin Walser möchte diese Lyrik als Parodie verstanden wissen und sieht die Briefe, insbesondere die unabschickbaren, als wirkliches Schreiben, wie er sagte. Die schon erwähnten Briefe von Sina und Aster an Theo Schadt sind bemerkenswert gelungen und besonders schön ist der aphoristische Abschnitt »Ums Altsein«. Hier schafft Martin Walser es, dem Leser das Leben eines alten Menschen nahezubringen, auch wenn er selbst sagt, dass jeder, der auch nur ein Jahr jünger ist, schon nicht verstehen kann, wie sich der Ältere fühlt. Als I-Tüpfelchen gibt es zwischendurch immer wieder Briefe, die Theo Schadt einem gewissen Schriftsteller schreibt, der zwar nicht namentlich genannt ist, mit dem aber sicher Martin Walser selbst gemeint ist. Ein eleganter Schachzug und ein äußerst vielseitiger Roman.
»Sehr geehrter Herr Schriftsteller,
Theo Schadt, der durch Sie zu lernen versucht, von sich wie von einer dritten Person zu reden beziehungsweise zu schreiben, hat dadurch eine Erfahrung gemacht, die er, hätte man ihm so etwas vorausgesagt, nicht für möglich gehalten hätte. Etwas passiert ihm oder in ihm, und er schreibt es auf. […] seit er nicht mehr handeln kann, schreibt er!
Ist das vielleicht überhaupt Schriftstellerei: statt handeln schreiben?«
(Kapitel 17, Seite 188)
Hier ein Interview mit Martin Walser vom 8. Januar 2016. ZDF aspekte-Redakteur Frank Vorpahl spricht mit dem Autor über Verrat, die Uneindeutigkeit von Sprache, übers Altern und Sterben:
Im Oktober 2015 ist Martin Walser in Naumburg mit dem Internationalen Friedrich-Nietzsche-Preis für sein Lebenswerk ausgezeichnet worden. Der Preis ist mit 15.000 Euro dotiert und damit eine der höchstdotierten Auszeichnungen, die ausschließlich für philosophisch-essayistische Werke verliehen wird.
Fazit: Martin Walsers Roman bewegt zwar keine Weltenprobleme, aber die Thematik des Sterbens geht uns alle an. Menschen mit Depressionen, unglücklich Verliebte oder vom Leben Zerschmetterte sind überall unter uns und somit ist das Buch für jeden Leser ab zwanzig geeignet. »Ein sterbender Mann« ist ein spannendes Schreib-Experiment und hält einige überraschende Wendungen bereit.
Martin Walsers Roman »Ein sterbender Mann« ist im Januar 2016 im Rowohlt Verlag erschienen – gebunden, 288 Seiten, EUR 19,95, ISBN 978-3498073886.
Über den Autor: Martin Walser, 1927 in Wasserburg geboren, lebt in Überlingen am Bodensee. Für sein literarisches Werk erhielt er zahlreiche Preise, darunter 1981 den Georg-Büchner-Preis und 1998 den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. Außerdem wurde er mit dem Orden «Pour le Mérite» ausgezeichnet und zum «Officier de l’Ordre des Arts et des Lettres» ernannt.
Laila Mahfouz, 2. März 2016
Links:
Weitere Informationen zu Martin Walser auf der Seite des Rowohlt Verlages. Hier finden Sie auch die anstehenden Lesungstermine.
Wer mehr lesen möchte und sich dennoch bisher nicht zu einem Kauf entschließen konnte, findet hier eine Leseprobe.
Die Fotostrecke zur Lesung finden Sie hier. Alle Fotos sind von Anders Balari.
Einen Artikel der FAZ zu Martin Walsers Roman »Ein sterbender Mann« finden Sie hier.
Einen Artikel der Welt zu Martin Walsers Roman »Ein sterbender Mann« finden Sie hier.
Mehr Informationen zu Martin Walser finden Sie hier.
Informationen zu Laila Mahfouz
Informationen zum Photographen Anders Balari finden Sie hier.