Jenny Erpenbecks Roman »Gehen, ging, gegangen« schildert detailliert und äußerst sorgfältig recherchiert die Einzelschicksale einiger Flüchtlinge, die auf dem Oranienplatz in Berlin gestrandet sind. Der Leser erhält Einblicke in ihre Schicksale, lernt, Zusammenhänge neu zu deuten, und begreift, dass JEDER ein Recht auf Frieden, Freiheit und Sicherheit hat.
Handlung (dem Verlagstext entnommen): Wie erträgt man das Vergehen der Zeit, wenn man zur Untätigkeit gezwungen ist? Wie geht man um mit dem Verlust derer, die man geliebt hat? Wer trägt das Erbe weiter? Richard, emeritierter Professor, kommt durch die Begegnung mit den Flüchtlingen auf dem Oranienplatz auf die Idee, die Antworten auf seine Fragen dort zu suchen, wo sonst niemand sucht: bei jenen jungen Männern aus Afrika, die in Berlin gestrandet und seit Jahren zum Warten verurteilt sind. Und plötzlich schaut diese Welt ihn an, den Bewohner des alten Europas, und weiß womöglich besser als er selbst, wer er eigentlich ist.
Die Zeit ist jetzt eine ganz andere Art von Zeit. […] Und dann denkt er, dass er, natürlich, nicht aufhören kann mit dem Denken. […] Auch, wenn wirklich kein Hahn danach kräht, denkt er. Er stellt sich einen kurzen Moment lang vor, wie ein Hahn mit dem Schnabel in seiner Abhandlung über den »Begriff der Welt im Werk von Lukrez« blättert.
(Kapitel 1, Seite 10)
Für Richard, den gerade emeritierten Professor für Alte Sprachen an der Humboldt Universität in Berlin, gleicht ein Tag dem anderen: er frühstückt jeden Morgen das Gleiche, geht einkaufen und wann immer sein Blick auf den See vor seinem Fenster fällt, denkt er an den Mann, der vor ein paar Wochen dort ertrunken und nie wieder aufgetaucht ist. Doch während Richard sein Büro räumt, erst allmählich in seinem neuen Alltag ankommt und über das Schicksal des Ertrunkenen sinniert, sitzen auf dem Oranienplatz afrikanische Flüchtlinge im Hungerstreik. Als Richard davon erfährt, schockiert ihn, dass er sie bei seiner Überquerung des Platzes nicht bemerkt hat, obwohl das Motto, welches sie auf Pappschildern kundtun »We become visible« / »Wir werden sichtbar« lautet.
Alles, was um ihn herum ein System bildet und nur sinnvoll ist, solange er seine Wege dazwischen geht, seine Handgriffe macht, sich an dies oder jenes erinnert – all das wird auseinandertreiben und sich verlieren, wenn er nicht mehr ist. […] Er muss aufpassen, dass er nicht irre wird, wenn er jetzt ganze Tage allein ist und mit niemandem spricht.
(Kapitel 1, Seite 14/15)
Richard geht erneut auf den Oranienplatz und dieses Mal schaut er hin. Er beobachtet das Treiben dort einige Stunden, in denen er darüber nachdenkt, wie das Leben, der Alltag dieser Menschen sich anfühlen muss und wie sie weiterhin dort bleiben wollen, wenn der Winter kommt. Dieses Problem löst die Stadt, indem sie die Männer auf mehrere Flüchtslingsunterkünfte verteilt. Eines, ein ausgedientes Altenheim direkt in Richards Nachbarschaft, besucht der Professor, da er sich entschlossen hat, eine Studie zur Herkunft und Sprache der Flüchtlinge durchzuführen.
Das Interesse des kinderlosen Richard, das anfänglich eventuell der Langeweile und der Einsamkeit geschuldet war, wird nach jeder Geschichte, die ihm erzählt wird, mehr zu einer Passion. Richard wird bewusst, wie wenig er über Afrika und die Menschen, die vor ihm sitzen, weiß. Nicht einmal die Hauptstädte ihrer Herkunftsländer Niger, Ghana oder Nigeria vermag der Professor zu nennen und versucht, sich die vielen Ortsnamen zu merken, die ihm die Männer nennen. Der Altphilologe kann nicht umhin, seinen Gesprächspartnern im Kopf Spitznamen zu geben. So nennt er die Männer Apoll, Tristan, Hermes oder auch Zeus, den Blitzeschleuderer, da ihm diese Assoziationen logisch erscheinen.
Am Anfang war ein unterschiedsloses Ganzes, das alles enthielt: das Weibliche und das Männliche, den Raum und die Zeit, das Gleiche und das Verschiedene. Dieses Ganze ist durch die Leere hinabgestiegen und hat sich dann in den verschiedenen Gestalten gezeigt. […]
Aber all diese Erscheinungsformen bedingen sich gegenseitig, keine ist der anderen übergeordnet, sie ergänzen sich und bleiben in ihrer Verschiedenheit das eine Ganze, bleiben ein einziger Körper. Genauso sind die einzelnen Menschen in der Gesellschaft Teile einer lebendigen Ganzheit – wie unterschiedliche Organe eines Körpers üben sie in der Gesellschaft unterschiedliche Funktionen aus, sind aber untrennbar miteinander verbunden.
(Kapitel 29, Seite 174/175)
Richard nimmt Anteil am Schicksal der Menschen und wird schnell hineingezogen in die Welt ihrer Schicksalsschläge, Traumatisierungen und Zukunftsängste. Anhand eines von ihm zusammengestellten Fragenkatalogs versucht er, sich der Geographie und der Kultur der Flüchtlinge zu nähern. Die meisten reden, manche bereitwillig, manche erst zögerlich, doch jede Geschichte, jedes persönliche Schicksal öffnet Richard das Herz und verwischt mehr und mehr das allgemeine Bild, das das Wort »Flüchtling« auszulösen vermag.
Zieht man all diese möglichen Grenzen in Betracht, scheint Richard der Unterschied zwischen dem einen Menschen und dem anderen dagegen eigentlich lächerlich gering, und ist es vielleicht gar kein Graben, der sich hier am Eingang eines Asylbewerberheims in Berlin plötzlich auftut, und gibt es auf dieser Ebene des Universums vielleicht gar keine Verschiedenheit und keine zwei Hälften, denn immerhin geht es nur um ein paar Pigmente in deinem Material, das von allen Menschen in der jeweiligen Sprache Haut genannt wird, und dann wäre die Gewalt, die sich hier gerade zeigt, durchaus nicht der Vorbote eines Sturms im Zentrum eines Universums, sondern beruhte nur auf einem absurden Missverständnis, das die Menschheit entzweit und sie davon abhält, sich klarzumachen, um wieviel länger der Atem eines Planeten im Vergleich zum Atem eines jeden von ihnen ist.
(Kapitel 44, Seite 259/260/261)
Richard beginnt, den etwas Fortgeschrittenen Sprachunterricht zu erteilen, er begleitet die Männer zu Anwälten, Ärzten, lernt viel über das Asylrecht und versucht denen unter ihnen, mit denen er sich inzwischen angefreundet hat, Herzenswünsche zu erfüllen. Als seine Freunde am Ende abgeschoben werden sollen und die Verzweiflung eskaliert, nimmt Richard das Zitat Tacitus über die Gastfreundschaft der Germanen (»Es gilt bei den Germanen als Sünde, einem Menschen sein Haus zu verschließen, wer es auch sei; […] Im Gastrecht macht keiner einen Unterschied zwischen Bekannten und Unbekannten. Zwischen Gastgeber und Gast gibt es keinen Unterschied von mein und sein.«) wörtlich und gewinnt dadurch mehr, als er geben muss.
Jenny Erpenbeck hat mit »Gehen, ging, gegangen« den Roman zur Stunde verfasst. Wie sie im November in der Literatursendung »lesenswert« im Gespräch mit Felicitas von Lovenberg erzählte, hat sie sich für ihre Recherche selbst mit Richards Fragenkatalog auf den Oranienplatz und in die Asylbewerberheime begeben und die Gespräche mit den Männern wirklich geführt. Alle wussten, dass sie ein Buch schreiben würde und gaben ihr bereitwillig Auskunft. Saleh Bacha, einer der Männer, mit denen sie sich angefreundet hat, zeichnete dann auch das Cover für ihren Roman.
Gefallen haben mir unter anderem die indirekten Zusammenhänge, Gemeinsamkeiten. So sehnt sich Richard im Ruhestand ebenso nach Arbeit wie die Männer im Asylbewerberheim. Auch er kann den Verlust des vorherigen Alltags nur schwer verwinden, und er teilt mit den Männern das Schicksal der eingefrorenen Zeit. »Gehen, ging, gegangen« steht als Motto sowohl über Richards aktuellem Lebensabschnitt wie auch über dem der Männer, die er kennenlernt.
Nach der Lektüre ist alles anders. Wenn klar wird, wie das Verhältnis unserer Luxusausgaben (Reisen, technische Geräte etc.) im Verhältnis zu dem Geld steht, das eine mehrköpfige Familie in Afrika zum langfristigen Überleben (Grundstückserwerb als Lebensgrundlage und Einnahmequelle) benötigt: nicht mehr als EUR 3.000! Jede Mahlzeit, jeder Einkauf, jedes Zubettgehen, alles ist nun eine bedachtere Handlung und wird von mir selbst mehr hinterfragt. Warum soll es uns soviel besser gehen als dem Rest der Welt? Und noch dazu, auch wenn es niemand gern hören will, sind wir am Elend der elendsten Länder des Planeten mit unserer Gier nach diesem Luxusleben und der Kriegstreiberei schuld. Ist das eine Frage der Hautfarbe? So wünsche ich mir mehr Farbenblindheit. Richards und damit auch Jenny Erpenbecks Meinung zur Verschiedenartigkeit der Menschen lässt sich mit diesem Zitat bestens verdeutlichen:
Es gibt schwarze Vögel, warum nicht auch schwarze Menschen?
Dieser Satz aus der Oper »Die Zauberflöte« hatte für Richard immer erschöpfend erklärt,
was es über den Unterschied zwischen den Hautfarben zu sagen gab.
(Kapitel 48, Seite 289/290)
In vielen Reflektionen und philosophischen Ansätzen erkennt Erpenbecks Hauptfigur Richard Zusammenhänge. Er zitiert Ovid und Lukrez, doch trotz der wunderschönen, aber eventuell nicht allen Menschen zugänglichen Passagen, ist »Gehen, ging, gegangen« in meinen Augen ein Buch für alle Leser. Wer mit den Philosophen nichts anfangen kann, sieht ja dennoch den Sinn der Worte, und die Romanhandlung an sich erschließt sich jedem. Ich hoffe, niemand lässt sich vom Lesen des Buches abhalten, weil einige Kritiker Jenny Erpenbeck vorwerfen, ihr Roman wende sich nur an das Bildungsbürgertum, nur weil die Hauptfigur ein Professor ist. Daher möchte ich mal Denis Scheck zitieren und sagen: Vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich tue, und lesen Sie dieses Buch!
Hier ein Interview von Wolfgang Herles für ins Blaue mit Jenny Erpenbeck zu »Gehen, ging, gegangen«:
Jenny Erpenbeck wurde schon im April 2013 mit dem Joseph-Breitbach-Preis für ihr Gesamtwerk ausgezeichnet, da sie laut Jury »die künstlerische Wahrhaftigkeit mit hoher Formkunst, Sprachschönheit und einer Evokationskraft verbindet, die uns in jedem Augenblick zu Mitleidenden und Mitfühlenden macht«. Nach der Lektüre von »Gehen, ging, gegangen« kann ich dem nur zustimmen.
Wer sich über das Gutmenschentum von Erpenbecks Hauptfigur aufregt oder lustig macht, dem möchte ich an dieser Stelle mangelnde Empathie vorwerfen und um die korrekte und nicht verunglimpfte Nutzung des Wortes bitten. »Gutmensch« wurde 2015 ja auch zum Unwort des Jahres gekürt und in der Jurybegründung hieß es ausdrücklich: »Als ‚Gutmenschen‘ wurden 2015 insbesondere auch diejenigen beschimpft, die sich ehrenamtlich in der Flüchtlingshilfe engagieren oder die sich gegen Angriffe auf Flüchtlingsheime stellen. […] Mit dem Vorwurf ‚Gutmensch‘, ‚Gutbürger‘ oder ‚Gutmenschentum‘ werden Toleranz und Hilfsbereitschaft pauschal als naiv, dumm und weltfremd, als Helfersyndrom oder moralischer Imperialismus diffamiert.«
Ich möchte an dieser Stelle einmal mehr den Schriftsteller Ernst Fischer zitieren: »In einer zerfallenden Gesellschaft muss die Kunst, wenn sie wahrheitsgetreu ist, diesen Zerfall widerspiegeln. Und wenn sie nicht von ihrer sozialen Funktion abweichen will, hat Kunst die Aufgabe, die Welt als veränderungsfähig darzustellen und zu ihrer Veränderung beizutragen.« So gesehen ist Jenny Erpenbeck für ihr engagiertes Buch nur zu loben!
Fazit: Jenny Erpenbeck will Verständnis schaffen und den Blick schärfen. Obwohl das Buch nicht direkt dazu aufruft, stellt sich beim Lesen sofort eine solidarische Grundhaltung ein. »Gehen, ging, gegangen« wirft Fragen auf, beleuchtet Zusammenhänge im Detail, regt zum Nachdenken an und bringt Einzelschicksale so nahe, dass wohl jeder empathische Mensch nach der Lektüre des Tatsachenromans mitfühlender, verständnisvoller und mehr guten Willens ist, allen Menschen zu helfen, die Hilfe brauchen, denn wie viel Wert ist unser Frieden, unsere Freiheit, wenn wir sie mit Zähnen und Klauen verteidigen, um sie für uns allein zu behalten?
Führt der Frieden, den sich die Menschheit zu allen Zeiten herbeigesehnt hat und der nur in so wenigen Gegenden der Welt bisher verwirklicht ist, denn nur dazu, dass er mit Zufluchtsuchenden nicht geteilt, sondern so aggressiv verteidigt wird, dass er beinahe schon selbst wie ein Krieg aussieht?
(Kapitel 49, Seite 298)
Jenny Erpenbecks Roman »Gehen, ging, gegangen« ist im August 2015 im Albrecht Knaus Verlag erschienen – gebunden, 352 Seiten, EUR 19,99, ISBN 978-3813503708.
Jenny Erpenbeck (Foto: Katharina Behling)
Über die Autorin: Jenny Erpenbeck wurde 1967 in Berlin geboren. 1999 debütierte sie mit der Novelle »Geschichte vom alten Kind«, der weitere literarische Veröffentlichungen folgten, darunter Romane, Erzählungen und Theaterstücke. Ihr zuletzt erschienener Roman »Aller Tage Abend« wurde von Lesern und Kritik gleichsam gefeiert und vielfach ausgezeichnet. Ihr Roman »Gehen, ging, gegangen« war 2015 für den Deutschen Buchpreis nominiert (Shortlist). „Dass Erpenbecks Buch trotz Favoritenrolle nicht den Deutschen Buchpreis zugesprochen bekam, ist auch der Scheu der Jury zuzuschreiben, ein solch kontrovers diskutiertes Thema für eine Saison in den Mittelpunkt des literarischen Lebens zu stellen“, so die Einschätzung von Andreas Platthaus in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.
Laila Mahfouz, 16. Januar 2016
Links:
Mehr Informationen zu Jenny Erpenbeck finden Sie hier.
Weitere Informationen zu Jenny Erpenbeck auf der Seite des Knaus Verlages. Hier finden Sie auch die anstehenden Lesungstermine.
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