Harbour Front Literaturfestival am 9. September 2015: Merle Kröger las auf der Cap San Diego aus ihrem brandaktuellen Roman »Havarie«, der ein Meer, vier Schiffe und elf Wirklichkeiten zum Thema hat und von der ersten bis zur letzten Seite fesselt.
Handlung des Romans: In einer windigen Nacht versuchen zwölf Männer von Algerien aus die Küste Spaniens in einem Schlauchboot zu erreichen. Außerdem verlässt der irische Frachter Siobhan den algerischen Hafen Oran mit leeren Containern an Bord. Der ukrainische Ingenieur Olek entdeckt das Schlauchboot, das sich in eine Nebelwand flüchtet und daraufhin kurze Zeit später fast mit dem gewaltigen Kreuzfahrtschiff »Spirit of Europe« kollidiert. Lalita Masarangi, Security Officer auf dem Kreuzfahrtschiff, forscht nach dem Verbleib des Bandleaders. Sie kann sein Verschwinden nicht auf sich beruhen lassen. Plötzlich unterbricht der Luxusliner seine Fahrt und meldet der spanischen Küstenwache ein manövrierunfähiges Schlauchboot mit Flüchtlingen. Laut Seerecht muss die »Spirit of Europe« bei dem havarierten Flüchtlingsboot bleiben, bis der Seenotrettungskreuzer eintrifft. Passagiere drängen sich an der Reling und fotografieren das Geschehen, während sich fünfzehn Decks tiefer in der Wäscherei ein Drama abspielt, von dem die zahlenden Gäste an Bord nichts bemerken. Lalita sucht noch immer nach dem philippinischen Musiker, als in Cartagena der Kreuzer der Seenotrettung aufbricht. Doch der Ire Seamus, eher unfreiwilliger Luxusgenießer an Bord der »Spirit of Europe«, entdeckt ein Geheimnis, das er nicht für sich behalten will.
Erfreulicherweise füllte sich der Raum unter Deck so, dass die Veranstalter die bestehenden Plätze auf ca. 150 ergänzen mussten. Dies ist vermutlich dem aktuellen Flüchtingsdrama geschuldet. Verlegerin Else Laudan, nach deren Ansicht der Kriminalroman heutzutage gesellschaftskritisch und politisch sein kann und sollte, stellte Merle Kröger und ihren Roman »Havarie« ausführlich vor. Danach las Merle Kröger einen Auszug aus dem ersten Teil des Buches »Die Nacht davor« und präsentierte auf diese Weise bereits ein paar der Hauptfiguren des Romans. Die Cap San Diego, die sehr passend als Veranstaltungsort gewählt wurde, quietschte, knarrte und ächzte dazu, als wollte sie daran erinnern, dass sie die Dokumentation »Ein Koffer voller Hoffnung – Auswandererhafen Hamburg« über das Schicksal der Auswanderer zwischen 1850 und 1930 beherbergt.
»Algerien ist Stillstand, ist Tod.
[…]Wenn der Wind innerhalb der nächsten zehn Minuten abflaut, fahren sie los.
Wenn nicht, werden sie eine weitere Nacht vorgeben, harmlose Typen auf Campingurlaub zu sein.
Junge Männer, die ihr Leben vergeuden, weil sie keine Zukunft haben. Nicht hier.«
Die erste Nacht des Harbour Front Literatur-festivals 2015 auf der Cap San Diego.
Foto: Laila Mahfouz
Fasziniert hat mich besonders, wie Merle Kröger es schafft, die Lebensgeschichten von so vielen unterschiedlichen Personen in einer Ausführlichkeit zu erzählen, dass ich den Eindruck gewann, diese Menschen mit Haut und Haar zu kennen. Jede ihrer Figuren bringt eine ganz eigene Lebensgeschichte mit, entstammt einem anderen Land oder Milieu. Merle Kröger erzählt, dass sie nach dem Entdecken des speziellen Erzählrhythmus einer Figur meistens ersteinmal in seiner Geschichte verblieb. Ihr Vorhaben gelingt bestens – jeder spricht mit einer vollkommen eigenen Stimme zum Leser, dem die Autorin nie ihre Meinung aufdrängt. Dabei werden die Geschichten so lebendig, dass ich mich auch jetzt dabei ertappe, über das zukünftige Schicksal von Lalita, Olek, Zohra, Diego, Karim, Sybille, Léon und der anderen nachzudenken. Krögers Figuren sind nicht gut oder schlecht, nicht schwarz oder weiß gezeichnet; sie werden zu Menschen aus Fleisch und Blut und all das schafft die Autorin auf nur 240 Seiten und sagt dazu schlicht: »Ich habe versucht zu verdichten. Deshalb ist der Roman auch so dünn.«
»Sobald er hier abmustert, können ihm all die Illegalen und Selbstmörder, die Gefräßigen,
die Kranken, die Spielsüchtigen und die Sonnenverbrannten gestohlen bleiben.
Doch bis dahin braucht er eine weiße Weste.«
Mit dem Schreiben des Buches begann Merle Kröger 2013, doch mit dem Thema der Heimatlosigkeit, des Vertriebenseins befasst sie sich schon seit mehr als zehn Jahren. Merle Kröger weist darauf hin, dass wir alle irgendwo in unserer Familiengeschichte Flucht und Krieg mit uns tragen und das Bewusstsein dessen allen ermöglichen sollte, einander auf Augenhöhe zu begegnen. 2016 wird ein Dokumentarfilm der Filmemacherin zum Flüchtlingsproblem im Mittelmeer in den Kinos anlaufen. Die Autorin erklärt, dass sie bei der Arbeit an der Dokumentation nur als Beobachterin unterwegs ist, aufnimmt, aber nicht direkt eingreifen, die Geschehnisse verändern kann. Das Schreiben des Romans beschrieb sie hingegen wie die Arbeit eines Dirigenten: »Ich begebe mich in einen anderen Raum und dort habe ich die Kontrolle.«
Die immense Recherchearbeit für »Havarie« konnte während der Arbeit am Dokumentarfilm erfolgen. Die Themen des Romans sind ebenso vielfältig wie das Personal selbst. Ob es vom Überfressen, der häufigsten Ursache für Herzinfarkte und Kreislaufkollapse auf Luxuslinern, berichtet, die Verschmutzung der Meere, den Fremdenhass und den Egoismus gegenüber Ärmeren thematisiert, immer wird auf unterhaltsame und nicht belehrende Art verdeutlicht, dass nur unsere »Geiz-ist-geil-Habgier-Gesellschaft« die Probleme verursacht und immer mehr zu einer Welt ohne Werte und Moral verkommt.
Für den einen oder anderen (vermutlich vor allem älteren) Leser mag der Stil des Romans eher gewöhnungsbedürftig sein, denn Merle Kröger bleibt auch hier unkonventionell und unberechenbar. In ihren schlichten und gerade dadurch ungeheuer präzisen Sätzen findet sie für jede Geschichte, Handlung und Person den richtigen Tonfall. Der Roman ist wie ein Episodenfilm erzählt, in dem von der einen zur anderen Person und Handlung gewechselt wird und erst nach und nach die Zusammenhänge aufgedeckt werden. Zur Verständnishilfe ist jedes Kapitel mit dem jeweiligen Handlungsort und der Hauptperson des Kapitels überschrieben, so dass sich der Leser mit Leichtigkeit zurechtfindet. Mir bereiteten diese Wechsel in Szenerie und Emotionen Spannung und Abwechslung.
»Sybille taucht vollends aus der Welt ihrer Gedanken auf. Der Geist sträubt sich. Was will er auch im Hier und Jetzt der Schmerzen und der Hilflosigkeit.«
Fazit: Die Schicksale im Roman berühren, erreichen, halten fest und bringen auf angenehmste Weise zum Nachdenken. Durch die rasant wechselnden Innen- und Außenansichten der Hauptpersonen steht dem Leser eine ganz neue Welt offen, die zuvor unbekannt war. Hier sind wir alle die »Spirit of Europe«, sind Passagiere eines Luxusdampfers, die nur Zugang zu den oberen Etagen haben und mehr meistens auch nicht sehen wollen. Doch bei der Lektüre von »Havarie« lässt sich der Blick nicht abwenden, hier wird schonungslos beschrieben, wie es sich anfühlt, in den Schuhen der anderen zu stecken. Ein Roman, der aktueller nicht sein könnte und der in Machart, Ton und Emotionen überzeugt. »Havarie« wäre für mich ein Anwärter auf den Deutschen Buchpreis 2015 gewesen oder hätte zumindest die Nominierung für die Longlist verdient. Ich kann diese Lektüre auf jeden Fall empfehlen.
Merle Krögers Roman »Havarie« ist im Frühjahr 2015 als Ariadne Kriminalroman im Argument Verlag erschienen – gebunden, 240 Seiten, EUR 15,00, ISBN 978-3867542241.
Über die Autorin: Merle Kröger, geb. 1967 in Plön, lebt als Drehbuch- und Romanautorin in Berlin. Mit dem Filmemacher Philip Scheffner leitet sie die Produktionsfirma pong, wo u.a. die Dokumentarfilme »The Halfmoon Files« (2007) und »Der Tag des Spatzen« (2010) entstanden. Außerdem ist sie Dozentin der Professional Media Master Class für Dokumentarfilm in Halle. Merle Kröger ist Autorin und Produzentin des international ausgezeichneten Kinofilms »Revision« (2012). In ihren Romanen verbindet sie historische Recherche, persönliche Geschichte und politische Analyse mit Elementen des Krimigenres: »Cut!« erschien 2003 bei Ariadne, wurde 2007 ins Englische übersetzt und in Indien verlegt. »Kyai!« stand 2007 auf der KrimiWelt-Bestenliste. Aus der Recherche zum Film »Revision« entstand ihr dritter Roman »Grenzfall«, der 2012 die KrimiZEIT-Bestenliste anführte und den Deutschen Krimi Preis 2013 sowie den Stuttgarter Krimipreis gewann. »Havarie« ist ihr vierter Roman.
Laila Mahfouz, 18. September 2015
Links:
Die Website von Merle Kröger finden Sie hier.
Weitere Informationen zu Merle Kröger auf der Seite des Argument Verlages.
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Weitere Fotos zu dieser Lesung und der Dauerausstellung auf der Cap San Diego finden Sie hier.
Informationen zu Laila Mahfouz