Routiniert sowie gleichermaßen schnörkellos und präzise arbeitet sich Martin Suter in „Montecristo“ an der Begegnung des Videojournalisten Jonas Brand mit zwei Geldscheinen identischer Zifferung nebst deren durchaus die Bezeichnung „ausgewachsener Finanzskandal“ verdienenden Begleitumstände ab.
Handlung (von der Verlagsseite übernommen): Als sein Intercity gewaltsam zum Stehen kommt, ahnt Jonas Brand noch nicht, in welches Abenteuer er gerade gerät. Die Weiterfahrt ist blockiert, draußen liegt ein Toter. Brand schultert die Kamera, hält die beklemmende Situation fest und befragt die Mitreisenden. Er ist freischaffender Videojournalist, der allerdings von Höherem träumt: Er möchte Filme machen, und sein Projekt »Montecristo«, eine Geschichte über Verrat, Betrug und späte Rache, hat Blockbuster-Potenzial – wenn ihm nur jemand eine Chance geben würde. Als er sich in Marina Ruiz verliebt und sie ihm seine Träume entlockt, rücken diese erneut in den Vordergrund. Knapp drei Monate später spielt ihm der Zufall wieder etwas Seltsames in die Hände: zwei Hundertfrankenscheine mit identischer Seriennummer – beide, wie man ihm bei der Bank verblüfft bestätigt, eindeutig echt. Und dann wird Brands Wohnung durchwühlt und er selbst auf offener Straße zusammengeschlagen und beraubt. Jemand soll offenbar eine Ungereimtheit aus der Welt schaffen – und damit zugleich Zweifel an der Glaubwürdigkeit einiger staatstragender Persönlichkeiten.
Über weite Strecken wähnte ich mich bei der Lektüre eher im Kino als vor einem Buch sitzend. Dieses Erleben wurde genährt von der drehbuchartigen Erzählweise und dem an typischen Politthrillern aus Hollywood orientierten Plot. So verhandelt Suter seinen Stoff in mitunter extrem kurzen Szenen und setzt dabei die Schnitte so gekonnt, dass es manchem professionellen „Filmschnitter“ bei der Lektüre im Vergleich zur eigenen Arbeit ein volltöniges „Respekt!“ entlocken müsste. Man trifft sogar auf rasante Wechselschnitte, in denen simultan verlaufende Ereignisse auf sehr erfrischende Weise erzählt werden.
Ohne große Mühe ließe sich aus dem Roman ein Drehbuch machen: Handlungsanweisungen, Dialoge, Kameraanweisungen – alles fast schon copy-paste-bereit da, doch ist das weitgehend auch alles, was da ist. Zeitweise ertappte ich mich gar bei der Erwartung von Szenenüberschriften und -übergängen, der in einem Drehbuch eine Szene umklammernden Angaben, so stark war dieser Eindruck durch die die Erzählweise dominierende Beschänkung auf nur das, was man in einem Film erzählerisch zu vermitteln vermag. Das lässt sich übrigens in „Montecristo“ selbst gut vergleichend überprüfen, für den Fall, dass man noch nie ein Drehbuch gelesen hat – denn irgendwo im letzten Viertel wartet ein kurzes Solcheseines, als überaus kreativ eingesetztes erzählerisches Instrument, das mich sofort schmunzeln machte.
Die Sprache ist stark, manche Formulierungen ließen mich spontan mit der Zunge schnalzen, ob der Eleganz und Intelligenz, mit denen Suter das sagt, was er an den entsprechenden Stellen sagen möchte. Es gibt eine deutlich schweizerische Färbung, was bei einem Autor aus der und einer in der Schweiz verorteten Handlung zwar wenig überrascht, manchmal aber zu Begegnungen mit Begriffen führt, die außerhalb der Schweiz keine Begriffe sind, sondern bestenfalls intuitiv erfassbare Wörter. Mich störte das keinesfalls, ich fand es sogar charmant und unterhaltsam.
Die Würdigung des Plots ist schwierig, ohne dabei zu viel zu verraten, also lasse ich die ohnehin vielleicht zu sarkastische Detailbetrachtung in meinem Kopf. Zusammenfassend verläuft er nach meinem Geschmack zu sehr auf (vor allem in Hollywood) bereits breit ausgetretenen Pfaden, schrammt mitunter nur haarscharf, mitunter gar nicht an einem Absturz ins Klischeehafte vorbei, um dann wieder so zu wirken, als wäre er an sehr strapazierfähigen Haaren herbeigezogen worden. Würde es sich nicht um ein ernstes Buch handeln, läge die Vermutung einer auf das Genre zielenden Persiflage nahe, wobei ich das nicht ausschließen kann, denn freilich weiß ich nicht, was im Kopf von Martin Suter vorgeht und bin stets erstaunt über Rezensenten, die so gut Gedanken lesen können, dass sie die Gedanken von AutorInnen sogar besser kennen als die AutorInnen selbst. Den Plot finde ich also in Summe wegen seiner Ausgelutschtheit und Vorhersehbarkeit schlecht bis mittelprächtig, was aber stark von meinen persönlichen Lese- und eben auch Seherfahrungen beeinflusst ist, klarerweise.
Die verhandelten Themen sind zweifellos spannend, in vielerlei Hinsicht in der Skizzierung eines grundsätzlichen Möglichkeitsraumes je nach Leser zutreffend, augenöffnend oder reflexartig als „Verschwörungstheorie“ zu etikettierend. Vielleicht sind sie sogar in der Sache höchstselbst hoch relevant, was aber nur ein Blick hinter die Kulissen bestätigen könnte, der den allermeisten Menschen im realen Leben bis zur letzten, häufiger gar zigvorletzen Konsequenz verwehrt bleibt oder den sie nicht wagen, wenn dokumentarisches Material ihn ermöglichen würde – diese Scheu vor unbequemen Wahrheiten und den daraus resultierenden Implikationen greift auch Suter auf, dazu unten mehr. Wie schon bei Details zum Plot sollte ich auch bei Details zu den Themen, um es auf eine meinen österreichischen Wurzeln entsprechende saloppe Weise auszudrücken, besser „die Goschn halten“. Wer mitdenkt, wird bemerken, dass dieses Schweigen nur eines bedeuten kann: Die Empfehlung, das Buch zu lesen. So als Zwischenstand.
Häppchen
„Ein so gutes Leben, wie es die Schweizer hätten, sei eben kaum auszuhalten.“ – Kommentar eines Tamilen zu einem mutmaßlichen Selbstmord
„Es wäre nicht das erste Mal, dass in diesen Räumen etwas Verbotenes getan wird.“ – Bankkundenbetreuer Weber
„Marina erzählte ihm ihr Leben, als bewerbe sie sich um eine Stelle in seinem.“
Einschub zum Wort „Verschwörungstheorie“
Die inflationäre wie auch falsche Verwendung dieses Begriffes für fast alles, was sich zu weit abseits der kollektiven Konditionierungen befindet, ist ein krankhafter Reflex, der mir mittlerweile kaum noch erträglich ist. Es ist ein gefährlicher Fehler, sich dem Pawlowschen Hund in punkto Manipulationspotenzial überlegen zu fühlen. Wer sich von einem entsprechenden Leiden befreien oder seine wie auch immer motivierte Abwehrreaktion zumindest auf intelligente Weise sowie ohne diesen unsäglichen Fehlbegriff konstruieren möchte, sollte als erstes, kleines Heilmittel das hier lesen: http://www.wissensmanufaktur.net/verschwoerungstheorie
Und das Personal? Der Protagonist Jonas Brand wird rasch als zwar irgendwie ambitionierter, aber dann doch wieder zu träger Mensch vorgestellt, das auf sehr gefällige Weise und in Abweichung vom sonst weitgehend konsequent eingehaltenen Drehbuchstil. Brand freischafft sich als Videojournalist für den Boulevard durchs Leben, was er für sich damit rechtfertigt, dass er eigentlich Filmregisseur ist. Ein verhinderter Filmregisseur freilich, seit Jahren vergeblich um die Umsetzung von ein und derselben abgewetzten Projektidee bemüht und dann auch wieder nicht, denn in all diesen Jahren brachte er es nicht zu mehr als einem Konzept, das für eine Logline zu lang und für ein seriöses Exposé zu kurz ist.
Dieser, ja, Selbstbetrug ermöglicht es ihm, sich wider besseren (Ge)Wissens von seriösem Journalismus fernzuhalten, stattdessen in einer inakzeptablen Komfortzone zu bleiben, die er sich selbst geschickterweise als Zwischenhölle tarnt, des morgendlichen Blicks in den Rasierspiegel wegen – mal abgesehen von gelegentlich doch ernsthaftem Geplänkel mit sich selbst. Bis das Schicksal ihm zwei Geldscheine mit derselben Seriennummer vor die Füße wirft. Davon ausgehend gerät Brand in einen immer wieder aufbrandenden inneren Konflikt, der sich durch das gesamte Buch zieht und viele Facetten dessen beleuchtet, was man tagtäglich sowohl an anderen Menschen wie auch an sich selbst beobachten kann – wenn man denn mag. Was dann das neben dem Finanzskandal hauptsächlich verhandelte Thema ist, dessen weitere Ausdehnung und vielschichtigere Beleuchtung interessant gewesen wäre, aber unterbleibt. Apropos mögen: Auch wenn jetzt ein anderer Eindruck entstanden sein sollte, ich mochte Jonas Brand sofort.
Das übrige Personal bleibt mit Ausnahme des Wirtschaftsjournalisten Max Gantmann, dem ich – ohne mit der Wimper zu zucken – gleich ein ganzes Buch gönnen würde, sowie der bezaubernden, frechen und intelligenten Marina Ruiz, mehr oder weniger flach, was jedoch keineswegs schadet und den Fokus sehr stark auf den zwei Hauptthemen des Buches ruhen lässt: Den doppelten Geldschein mit Rattenschwanz, wobei korrekterweise eher der Schein der Schwanz ist, oder das letzte Glied des Schwanzes, oder ein unbeabsichtigt nach dem letzten Raubzug in einer Bäckerei dort verbliebenes Brotkrümelchen. Und dem Brandschen Wechselbad, gewürzt mit der frischen Liebesbeziehung und auch noch anderen externen Effekten, wie der Volkswirt sagen würde.
Fazit: Nüchtern betracht ergibt „Montecristo“ ein literarisch ambivalentes Buch und einen in Summe mittelprächtigen, handwerklich aber sehr soliden „Lesefilm“, jedoch immer wieder gespickt mit Genieblitzen, was allein schon fast zu einer Leseempfehlung führt. Der Geschehniskern ist hinreichend empörend, der innere Konflikt des Protagonisten interessant genug, um das „fast“ zu verschieben und unterwegs in ein „klaren“ zu verwandeln. Würde ich den Plot besser finden, wäre die Relevanz des Brandschen Mitsichselbstgeringes noch besser ausgelotet und wäre ich ein Lehrer, dann bekäme das Buch eine glatte 1. Da dies alles nicht zutrifft, konnte aus dem „fast“ kein „nachdrücklich“ werden, oder anders: „Montecristo“ ist mir sieben von zehn Doppelzifferungen wert.
Martin Suters Roman „Montecristo“ ist im März 2015 im Diogenes Verlag für EUR 23,90 erschienen – gebunden, 320 Seiten, ISBN 978-3257069204.
Über den Autor: Martin Suter, geboren 1948 in Zürich, arbeitete bis 1991 als Werbetexter und Creative Director, bis er sich ausschließlich fürs Schreiben entschied. Seine Romane sind auch international große Erfolge. Martin Suter lebt mit seiner Familie in Zürich.
Anders Balari, 30. Mai 2015
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Weitere Informationen zu Martin Suter auf der Seite des Diogenes Verlages
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