Eine vermutlich in vielen Teilen autobiographische Lebensreise erzählt Olga Grjasnowa in ihrem Debüt-Roman „Der Russe ist einer, der Birken liebt“, in dem sie die Ich-Erzählerin Mascha Krieg, Verlust, Angst und Verzweiflung erleiden und wahre Freundschaft finden lässt.
„Der Russe ist einer, der Birken liebt“ – Sofort hatte ich mich in diesen poetischen Titel verliebt. Obwohl ich eine entsprechende Sprache leider erfolglos in Olga Grjasnowas Erstlingsroman suchte, packte mich die Geschichte der Ich-Erzählerin Mascha und mehr als einmal stellte sich mir die Frage, wie stark autobiographisch Olga Grjasnowa ihre Mascha und die Dinge, die ihr widerfahren, zeichnete. Mascha stammt, wie auch die Autorin selbst, aus einer jüdischen Familie aus Aserbaidschan, die in Deutschland ein neues Zuhause findet. Mascha, inzwischen 27 Jahre alt, verliert ihren Lebensgefährten Elias durch einen Sportunfall mit tödlicher Folge. Durch seinen Tod ausgelöst, verstärken sich ihre Alpträume und ihr Kindheitskriegstrauma gewinnt immer mehr an Macht. Die nun doppelt traumatisierte junge Frau kommt nicht über den Tod Elischas hinweg und ist durch seinen Verlust einmal mehr entwurzelt, heimatlos. Sie quält sich, klagt sich selbst an, weil sie Elischas Tod nicht verhindert hatte, ihn sterben ließ.
Obwohl die Kriegserinnerungen ihrer Kindheit sie noch immer heimsuchen, flüchtet sie vor den Erinnerungen an Elias schließlich ausgerechnet nach Israel und nimmt in Tel-Aviv eine Stellung als Dolmetscherin an. Hier verstärken sich ihre psychischen Probleme zu physischen Schmerzen, mehrmals auftretender Bewusstlosigkeit und häufiger Atemnot. Sie bekommt starke Beruhigungsmittel verschrieben, ohne die sie schon bald keine Panik mehr überstehen kann. Nach einem Liebesverhältnis mit einer israelitischen Frau, von der sie sich stark ausgenutzt fühlt, steht sie am Ende hilflos in einem palästinensischen Feld und will nur zurück zu ihrer Mutter, will wieder ein Kind sein und nicht verantwortlich, nur beschützt.
Durch die gesamte Handlung hindurch ist es jedoch nicht ihre Familie, die ihr Stärke und Geborgenheit vermittelt. Es sind vielmehr ihr alter Freund Cem, ein türkisch-muslimischer junger Mann und ihr libanesicher Ex-Freund Sami, der ihr seine Sprache beigebracht hat und am Ende der Handlung wieder in den USA studiert. Er ist es, den Mascha in ihrer Verzweiflung um Hilfe bittet und obwohl all die Schwermut, Hilflosigkeit und Angst Maschas sich beim Lesen des öfteren auf mich übertrug, zeugt die Beständigkeit und Zuverlässigkeit von Freundschaft und Liebe von einer positiven Kraft, die dem Ende des Buches gut tut.
Olga Grjasnowa beschreibt die heutige Jugend in Deutschland ebenso detailreich wie die Lebensumstände in Israel, wobei Mascha, die weder religiös noch politisch festgelegt ist, eher mit den Palästinensern sympathisiert. Doch die Protagonistin bleibt ungreifbar, nie angepasst oder bestimmt. Sie wirkt selbstbewusst und emanzipiert, doch bleibt stets seelisch zutiefst verletzt und leidet verständlicherweise an enormer Verlustangst. Ihr nach Außen freiheitsbekundender sexueller Lebensstil ist nur ein Weg, ihr wahres inneres Gefängnis zu überdecken und unbewusst an ihren Gitterstäben zu rütteln.
Einen Teil (3,5 Min) einer Lesung aus „Der Russe ist einer, der Birken liebt“ habe ich eingebunden.
Insgesamt ist „Der Russe ist einer, der Birken liebt“ ein bemerkenswertes Erstlingswerk, das auf spannende Weise einen Teil unserer europäischen Vergangenheit und Gegenwart verarbeitet. Die Handlung und die Emotionen sind sehr stark, auch zählt zu den stilistischen Merkmalen des Buches, dass die Ich-Erzählerin Mascha immer einen geradezu sachlichen Ton wahrt, dennoch weist das Buch sprachliche Schwächen auf. Da die Autorin aber über ein großes Potential verfügt, wird sicher eine steigende Tendenz in den künftigen Werken festzustellen sein. Olga Grjasnowa scheint wie ihre Protagonistin noch auf der Suche zu sein, auf der Suche nach einer äußeren und inneren Heimat, die diesen Namen auch verdient. Ich wünsche ihr herzlich, dass sie diese so bald wie möglich findet und dennoch ihre Inspiration nicht versiegen möge.
Leider habe ich die Lesung am 9. Mai in der Osterstraße verpasst und werde auch an der “Ziegel“-Lesung „Die Unversehrtheit der Dinge“, die am 17. Juni 2012 an den Magellan-Terrassen stattfindet und bei der Olga Grjasnowa als Special Guest angekündigt ist, nicht teilnehmen können. Dennoch möchte ich allen, die sich einen ersten Überblick verschaffen wollen, gern die weiteren Termine der Lesetour von Olga Grjasnowa empfehlen.
Olga Grjasnowa „Der Russe ist einer, der Birken liebt“ erschienen im Carl Hanser Verlag für EUR 18,90, gebunden, 288 Seiten, unter ISBN 978-3446238541.
Dieser Roman wurde gefördert durch das Grenzgänger-Stipendium der Robert Bosch Stiftung.
Laila Mahfouz, 03. Juni 2012
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Informationen zu Olga Grjasnowa
„Der Russe ist einer, der Birken liebt“ beim Hanser Verlag
Weitere Termine der aktuellen Lesetour von Olga Grjasnowa
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