Bianca Bellovás Roman »Am See« entfaltet mit seiner bildstarken Sprache und einer Geschichte, die manchmal fast surreale Momente enthält, einen gewaltigen Sog. Umweltzerstörung, Elend und soziale Ungerechtigkeit dominieren die Handlung und lassen Nami, den Protagonisten dieses ungewöhnlichen Romans, mehr als einmal den Boden unter den Füßen verlieren.
Verlagstext: Nami wächst bei seinen Großeltern in einem Fischerdorf am Ende der Welt auf. Die Bewohner glauben an einen Seegeist, der über ihr Schicksal bestimmt. Doch als der See Nami das bisschen nimmt, das er hatte, beschließt er, sein Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Er will seine Mutter finden und bricht in die Hauptstadt auf. Nami begegnet tiefer Grausamkeit neben echter Freundschaft. Doch dem See entkommt er nicht.
Für ihren aktuellen Roman »Am See« (Originaltitel »Jezero«) wurde Bianca Bellová mit der höchsten literarischen Auszeichnung ihres Landes, dem tschechischen Buchpreis Magnesia Litera, sowie mit dem European Union Prize for Literature ausgezeichnet. Bianca Bellová wurde in Prag geboren und hat bulgarische Wurzeln. Die ersten zwanzig Jahre ihres Lebens hat sie in einem Land hinter dem Eisernen Vorhang gelebt, was die Authentizität des Romans ausmacht. Sie gilt als spannendste neue Stimme der tschechischen Literatur. »Am See« ist tatsächlich ein ungewöhnlich dichter und fesselnder Roman, dessen Protagonist Nami von der ersten Seite an mitreißt, dessen Welt aber nie ganz greifbar wird.
»Der Himmel lastet jetzt wie Blei auf dem See, die wuchtigen Wolken legen sich schwer über den gesamten Horizont und erinnern an einen alten dicken Mann, der sich in der Hochzeitsnacht auf seine frisch gebackene Ehefrau schiebt.«
I. Ei / Seite 22
Bianca Bellovás Sprache kommt vielfach ohne verschnörkelnde Adjektive aus, doch sie schafft Bilder, die den Leser tief ins Herz treffen und im Gedächtnis bleiben, wie die ausgewählten Zitate zeigen. Angesiedelt ist die Handlung in einer nicht klar bestimmten Republik inmitten der am Ende zerbröckelnden Sowjetunion. Der Roman um Namis Entwicklungsgeschichte ist in vier Teile untergliedert. Der erste Teil ist mit Ei überschrieben und erzählt Namis Kindheit. Im zweiten Teil Larve hat Nami sich ein wenig frei geschwommen und sammelt in der Hauptstadt Erfahrungen als Arbeiter. Erst im dritten Teil Puppe macht er sich mit neuen Hinweisen auf den Weg, um seine Mutter in einem Dorf in der Wüste zu suchen. Der letzte Teil Imago ist der geheimnisvollste, da Nami in ihm endlich die Wahrheit über seine Herkunft erfährt und er auf beinahe magische Weise wieder Teil seiner Heimat und des Sees wird. Mit dieser Zusammenfassung habe ich übrigens nicht zu viel verraten. Auf den gerade einmal 236 Seiten passiert unheimlich viel. Namis Leben ist ein Strom, der ihn mitreißt und dem er sich immer wieder mit aller Kraft zu entziehen versucht.
»Die Arbeitsbörse besteht aus Männern in Dreier- oder Viererreihen, die in allen Farben der Traurigkeit gekleidet sind und den gemeinsamen Duft nach Menschlichkeit und ungewaschener Unterwäsche verströmen. […] Wenn auf der Straße ein Auto mit einem potenziellen Interessenten an Arbeitskräften anhält oder abbremst, stellen sich die Männer aufrecht hin und ziehen die Bäuche ein. Aus dem Autofenster schiebt sich eine Hand heraus und winkt jemanden mit einem Finger heran.«
II. Larve / Seite 90
Die Natur spiegelt sich in den Menschen und die Menschen vernichten die Natur, von der und in der sie leben. Jeden Tag. Stück für Stück. Die innere Verrohung nimmt immer mehr zu und so halten sich in all dem Elend äußere und innere Krankheiten die Waage.
Namis Heimat, das Dorf Boros, liegt am See. Die Menschen leben vom Fischfang. Doch seit einiger Zeit trocknet der See immer weiter aus. Giftige Abwässer und Dünger haben ihn gefährlich gemacht. Die Menschen, die in ihm baden, müssen mit Ekzemen rechnen. Sein Wasser ist am Ende so verschmutzt, dass es den Tod verursacht, wenn jemand aus dem See trinkt. Um das Gewässer herum werden immer häufiger Kinder mit schrecklichen Missbildungen, wie z. B. einem dritten Arm, geboren. Dennoch ist der See alles, was diese Menschen haben.
Nami war der Klügste in seiner Klasse, aber nach dem Tod der Großmutter und einem traumatischen Erlebnis mit seiner ersten Freundin muss der Junge sehr schnell erwachsen werden. Die Zeit der Schule ist vorbei, die Schule des Lebens erwartet ihn bereits im Boxring.
Denn auch in der Hauptstadt geht es den ärmsten der Armen nicht besser. Sie müssen arbeiten, was auch immer ihnen angeboten wird. Sie müssen dankbar sein, wenn sie überhaupt Arbeit finden. Die Schwachen bleiben dabei auf der Strecke. Das Schaufeln von Schwefel ist eine harte Arbeit und eine giftige sowie gefährliche noch dazu. Sie macht Nami härter, lässt ihn einen Freund finden und wieder verlieren und sorgt dafür, dass der Junge noch verschlossener wird, als er es zuvor war.
»Sobald Nami mit dem frisch ausgebrachten Asphalt alleine ist, zeichnet er unauffällig seinen Schmerz hinein […] Wenn er rasch auf das Geschriebene pinkelt, bleiben seine Geheimnisse auf der Fahrbahn präsent, wenn auch nur in Form von unleserlichen und verlaufenen Runen.«
II. Larve / Seite 99 + 100
Nachdem Nami Schwefel geschaufelt und Straßen asphaltiert hat und dabei in einem stinkenden, feuchten Wohnheim mit elf anderen Männern sein Zimmer hat teilen müssen, bekommt er irgendwann eine Arbeit bei einem äußerst suspekten Mitglied der Upper Class. Obwohl er nun in einem sauberen Bett schlafen und nicht mehr so hart arbeiten muss, ist er noch weniger ein freier Mann, als er es zuvor gewesen ist. Sklavisch soll er alle Befehle ausführen, doch nach einer grotesken Szene muss Nami sich entscheiden, wie er zum Leben selbst steht. Erst seine vierte Station in der Hauptstadt bringt ihm schließlich das Gefühl von Sicherheit und außerdem wichtige Hinweise zum Verbleib seiner Mutter.
»Er […] weiß weder, wie seine Mutter heißt, noch, wie sie aussieht. Er weiß nicht einmal, ob sie überhaupt noch lebt. Er sucht eine Frau, deren Existenz genauso real ist, wie die des Seegeistes.«
II. Larve / Seite 96
Der See, dieses mystische Wesen, als welches Bellová ihn beschreibt, ist auf jeden Fall die zweite Hauptfigur des Romans oder Namis Antagonist. Er bestimmt den Buchtitel, er bestimmt das Leben und Sterben an seinen Ufern und darüber hinaus. Der Seegeist, ein Aberglaube der Dorfbevölkerung, fordert immer mehr Opfergaben. Alte und Kranke werden auf Flößen auf den See hinausgeschickt, in der Hoffnung, dass sich der Seegeist beruhigen und allen endlich wieder gnädig sein werde. Doch durch solch unmenschliches Verhalten lässt sich das Monster der Naturgewalt nicht beruhigen.
Die Umweltzerstörung ist eines der Hauptthemen des Romans. Obwohl sie immer nur am Rande erwähnt wird, bestimmt sie ganz entschieden die Gesundheit und das Leben der Menschen, die diesen Zusammenhang weder verstehen, noch verstehen wollen. Der ökologische Raubbau zeigt seine Auswirkungen überall.
Fazit: Bianca Bellová schont ihre Leser nicht. Sie wirft die Angel aus und ihre Leser springen in den See und lassen sich von ihr in diese bizarre Welt, an all die ungastlichen Orte des Romans führen, an denen das Leben nie einfach und fast immer hoffnungslos ist. Ob Nami am Ende findet, was er gesucht hat, soll an dieser Stelle nicht verraten werden. Ob das Ende der Welt oder doch nur ein Traum, eine Fata Morgana – die Wege des Lebens sind immer geheimnisvoll und wir können sie nur rückblickend verstehen. Auf jeden Fall ist »Am See« ein eindringlicher, existentialistischer und mit starker Bildsprache ausgestatteter Entwicklungs- und Coming-of-Age-Roman, der sicherlich niemanden kalt lässt.
Bianca Bellovás Roman »Am See« (Originaltitel »Jezero«) ist im Februar 2018 für EUR 19,95 in der Übersetzung von Mirko Kraetsch im kein & aber Verlag erschienen – gebunden, 240 Seiten, ISBN 978-3036957784.
Wer mehr lesen möchte, findet hier eine Leseprobe.
Über die Autorin: Bianca Bellová wurde 1970 in Prag geboren und ist Schriftstellerin, Übersetzerin und Dolmetscherin mit bulgarischen Wurzeln. Sie ist die Autorin mehrerer in ihrem Heimatland gefeierter Romane und Novellen. Ihr Roman »Toter Mann« (Originaltitel »Mrtvý muž«) wurde von der Literaturkritik sehr positiv besprochen und ist 2014 in deutscher Übersetzung von Mirko Kraetsch erschienen. Für ihren aktuellen Roman »Am See« (Originaltitel »Jezero«) wurde sie mit dem tschechischen Buchpreis Magnesia Litera sowie mit dem European Union Prize for Literature ausgezeichnet. Der Roman erschien in mehr als zehn Sprachen.
Laila Mahfouz, 30. August 2018
Links:
Mehr zu Bianca Bellová auf der Seite des kein & aber Verlages.
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