Lesung am 22. März 2016 im Literaturhaus Hamburg: Michael Köhlmeier beantwortete die vielen Fragen von Moderatorin Sandra Kegel zu seinem neuen Roman »Das Mädchen mit dem Fingerhut« und seiner Arbeit als Schriftsteller und las fast ein Viertel des Buches vor – ein interessanter und in Erinnerung bleibender Abend.
Handlung (dem Verlagstext entnommen): Irgendwo in einer großen Stadt, in Westeuropa. Ein kleines Mädchen kommt auf den Markt, hat Hunger. Sie versteht kein Wort der Sprache, die man hier spricht. Doch wenn jemand „Polizei“ sagt, beginnt sie zu schreien. Woher sie kommt? Warum sie hier ist? Wie sie heißt? Sie weiß es nicht. Yiza, sagt sie, also heißt sie von nun an Yiza. Als Yiza zwei Jungen trifft, die genauso alleine sind wie sie, tut sie sich mit ihnen zusammen. Sie kommen ins Heim und fliehen; sie brechen ein in ein leeres Haus, aber sie werden entdeckt. Michael Köhlmeier erzählt von einem Leben am Rande und von der kindlichen Kraft des Überlebens – ein Roman, dessen Faszination man sich nicht entziehen kann.
Nachdem der österreichische Autor Leser wie Kritiker zuletzt mit dem Roman »Zwei Herren am Strand« über die Freundschaft von Charlie Chaplin und Winston Churchill begeisterte, führt uns sein neuer Roman ein gänzlich anderes Leben vor Augen. Michael Köhlmeier erklärte, er habe mit dem Schreiben von »Das Mädchen mit dem Fingerhut« praktisch bereits am Tage nach der Beendigung des vorherigen Romans begonnen. Zur Unterschiedlichkeit seiner Romane und deren Tonart sagt Köhlmeier:
»Ich habe es gern, wenn der Autor nicht erkennbar ist. Ich habe es immer so gehalten und gedacht, das Wichtigste ist die Figur und wie sie die Geschichte erzählt.«
(Foto: Laila Mahfouz)
Bei der Arbeit an »Das Mädchen mit dem Fingerhut« hätte er seine Kreativität ausleben können, sich treibenlassen. Daher sei es für ihn wie ein Gegenpendelausschlag zu »Zwei Herren am Strand« gewesen, bei dem sich alles um Recherche und Realität drehte.
»Dieses Gefühl der Freiheit hab ich benötigt nach diesem Buch [»Zwei Herren am Strand«].«
Vor vielen Jahren habe er einmal ein Mädchen auf dem Wiener Naschmarkt beobachtet, das dort eine Dreiviertelstunde praktisch bewegungslos und allein herumstand, als wartete es auf etwas oder jemanden, erzählte Michael Köhlmeier. Auch mit den Wolfskindern, von denen nach dem 2. Weltkrieg wohl bis zu 2.000 in den Wäldern des Baltikums umherzogen, hat er sich viel beschäftigt. Großen Einfluß hatte auch das bekannte Märchen »Das Mädchen mit den Schwefelhölzern« von Hans Christian Andersen, das Köhlmeier eine »Sozialreportage in Prosa« nennt. Der Titel seines Romans ist sozusagen eine Hommage an Andersens Geschichte. Märchen hält Michael Köhlmeier für extrem wichtig.
»Weil wir den Blick auf die Realität nicht ertragen, verklären wir sie in Märchen, spiegeln unerträgliche Situationen, weil sie so nah sind. In der verkleideten Form des Märchens kann man über so reale Themen sprechen, die sonst nicht auszuhalten sind.«
Seine Arbeit an diesem schwierigen Text, der leicht kitschig oder unverdaulich hätte ausfallen können, beschreibt Michael Köhlmeier so:
»Ich schreibe einen Satz und schaue, ob er geht, dann noch einen und schaue, ob er auch noch geht. Ich probiere, wie nah kann ich an sie herangehen? Wenn nach zwei Seiten kein ‚Sound‘ entsteht, dann geht’s nicht.«
Auf die Frage, ob er eher ein Makroplaner (ein Autor, der schon haargenau weiß, was er schreiben will) oder ein Mikroplaner (ein Autor, der eine Idee hat und dieser dann Schritt für Schritt folgt, sich von der Inspiration führen lässt) sei, bekennt Köhlmeier, eindeutig ein Mikroplaner zu sein:
»Eine Figur kündigt sich an. Ich kenne nicht den Plot. Ich gehe Satz für Satz und schaue, was kommt. Ich will ihr [dem Mädchen] einfach folgen. Ich will sehen, was sie tut.«
Auch sei dies nie zutreffender als bei diesem Buch. Er hätte keinen Plot gehabt, nur eine Idee und den Satz des Onkels des Mädchens: »Sie muss sehen, dass sie über den Winter kommt.«
Die Situation des kleinen Mädchens wird in einfacher Sprache, aber mit einer Intensität geschildert, die oft nur nach Luft schnappen lässt. Der Leser möchte aufspringen, eingreifen und doch sagt, Michael Köhlmeier:
»Wir schauen auf das Mädchen und finden das furchtbar, weil wir von unserer Perspektive darauf schauen. Aber das Kind selbst kennt es nicht anders und empfindet anders.«
Nach Köhlmeiers Meinung gibt es in »Das Mädchen mit dem Fingerhut« keine einzige Figur, die böse Absichten verfolgt. Obwohl alle nur das Beste wollen, ist dies ebenso relativ wie alles auf der Welt. Das Mädchen erfährt eigentlich von allen Seiten nur Liebe und Zuneigung, aber dennoch klappt es nicht. Köhlmeier begründet dies mit Verweis auf Mark Twains Roman »Huckleberry Finn«, der einer seiner Lieblingsbücher ist und in dem auch Finn sich plötzlich im Luxus wiederfindet und zurück in die ärmliche aber ihm vertraute Umgebung sehnt.
Ohne seine Ehefrau Monika Helfer, Autorin zahlreicher Kinder- und Jugendbücher, hätte er diesen Roman nicht schreiben können, so Köhlmeier. Ihre Erfahrung und Anregungen waren für sein Schreiben unerlässlich.
Das Schubladendenken der deutschen Literatur mag Köhlmeier übrigens ganz und gar nicht und hat mich mit seinem folgenden Ausspruch begeistert:
»Was heißt da Jugendliteratur? Literatur ist Literatur!«
Obwohl das Wort ‚Flüchtling‘ im Roman kein einziges Mal vorkommt, treten bei der Lektüre immer wieder reale Bilder vor das innere Auge des Lesers und »Das Mädchen mit dem Fingerhut« erhält eine vom Autor nicht beabsichtigte Aktualität. Ein Schicksal, wie das des Mädchens, gibt es überall auf der Welt und beim Lesen stellt sich betäubende Hilflosigkeit, das Gefühl der Ohnmacht gegenüber dieser Problematik ein.
Auch ob die ‚elterlichen‘ Ziele und Regeln immer die richtigen für das Kind sind, ob Erwachsene nicht in einer Art unbewusstem Machthunger Kinder unterdrücken und ihnen ihren Willen unter dem Deckmantel des ‚Du-weißt-noch-nicht-was-gut-für-Dich-ist‘ aufzwängen, fragt man sich automatisch bei der Lektüre und so manche Stelle im Buch, an der die Persönlichkeitsrechte des Mädchens massiv missachtet werden, lassen nur verzweifelt den Kopf schütteln und schlucken.
»So erlebte Yiza, wie in einem dunklen Zimmer der Tag zur Nacht wurde. […] Es war leicht, bei offenen Augen zu träumen. Wenn sie im Bett lag, waren Wachen und Schlafen gleich. Alles war gleich. Im Traum sprach Arian wie sie. Und sie wie Arian.«
(Seite 128)
Schon auf den ersten Seiten des Romans wird überdeutlich, was Menschen voneinander trennt: fehlt die gemeinsame Sprache, scheint wirkliches Verständnis für einander ausgeschlossen. Das Mädchen, das sich selbst Yiza nennt, versteht dort, wo ihr Onkel sie ‚ausgesetzt‘ hat, niemanden. Sie ist verloren in einer Welt ohne Worte. Eindringlich schildert Michael Köhlmeier, wie Yiza versucht, sich dennoch verständlich zu machen. Mit geradezu stoischem Gleichmut nimmt sie das Leben so, wie es kommt und lebt fast gänzlich im Moment, wie es für ein Kind ihres Alters typisch ist. Als dann mit Schamhan endlich jemand auftaucht, der ihre Sprache und sogar noch die Sprache der anderen spricht, ist es nur zu verständlich, dass Yiza sogar die scheinbar heile, geborgene Welt des Kinderheims aufgibt. Das Bedürfnis, verstanden zu werden, ist größer als das Bedürfnis, in einem weichen Bett zu schlafen. Als Schamhan und Arian nachts ausbrechen, schließt sie sich den beiden Jungen an. Ohne Sprache ist die Welt Ausweglosigkeit für Yiza, mit Schamhan und Arian an ihrer Seite fühlt sie sich geborgen. Auch als sie schließlich nur noch mit Arian unterwegs ist, der sich allerdings bemüht, ihre Sprache zu sprechen und ihr die seine beizubringen, bleibt das Gefühl der Geborgenheit bestehen, denn die beiden Kinder teilen ein gemeinsames Schicksal.
»Er nahm sie bei der Hand, und sie gingen durch den Raum, gingen zur Tür und verließen die Polizeistation und gingen durch den Schneesturm, hielten sich an der Hand und gingen und drehten sich nicht um.
Yiza wimmerte und sagte immer wieder etwas, aber Arian verstand sie nicht, auch er sagte immer wieder etwas, aber das verstand Yiza nicht. Sie wimmerten beide, aber sie blieben nicht stehen, und sie sahen sich nicht um, und einer ließ die Hand des anderen nicht los.«
(Seite 84/85)
Die große Sehnsucht der Kinder nach Normalität, nach Familienleben hat mich besonders bewegt. Arian und Yiza spielen heile Familie und behandeln sich im Leben und im Traum wie ein liebendes Ehepaar. Haben sie etwas zu essen, wird es nicht verschlungen. Arian versucht, eine besonders gemütliche Atmosphäre zu schaffen, so dass sie ihr Mahl gemeinsam zelebrieren. Seine Gedanken und Pläne sind sehr anrührend und nur allzu verständlich.
»Ihm [Arian] war schwindelig vor Hunger und Anstrengung. Er hätte gern ein Stück von dem guten Brot gegessen, das sie wieder in die Plane gesteckt hatten. Oder den Apfel hätte er gern gessen. Seinen Apfel. Oder seine Banane. Aber er wollte, dass sie es gemütlich hatten beim Essen. Als wären sie zu Hause.«
(Seite 98)
Der Hörverlag brachte ebenfalls im Februar die Hörbuchausgabe von »Das Mädchen mit dem Fingerhut« in – zum Glück – ungekürzter Form heraus.
Michael Köhlmeier liest selbst. Das Hörbuch liegt mir nicht vor, aber da der Autor bei der Lesung im März ganze dreißig Seiten, also fast ein Viertel des Buches, vorgelesen hat, habe ich eine gute Vorstellung von der Art und Weise, wie er »Das Mädchen mit dem Fingerhut« vorträgt und kann das Hörbuch daher empfehlen. Eine Hörprobe finden Sie hier oder mit Klick aufs Bild. Das ganze Buch ist auf 3 CDs verteilt und hat eine Laufzeit von 3 Stunden und 17 Minuten.
Den Abend im Literaturhaus Hamburg moderierte die gerade von der Jury-Arbeit des Preises der Leipziger Buchmesse kommende Redakteurin Sandra Kegel angenehm unterhaltsam. So fragte sie Michael Köhlmeier, ob er sich in einer Dauerschleife des Schreibens befände und praktisch immer, ohne Unterbrechung schreibe. Er bekannte, dass seine Eltern ihn unterstützt hätten, damit er den Beruf überhaupt machen und ernst nehmen konnte. Auch erzählte er von seiner Disziplin, sich täglich an den Schreibtisch zu setzen.
»Ich sitze zwei Stunden da. Wenn nichts kommt, dann hab ich die Pflicht erfüllt. […]
Das ist doch nicht zuviel verlangt.«
»Es ist offenbar genug!«
Lachte Sandra Kegel und ich kann ihr nur zustimmen.
Fazit: Michael Köhlmeiers Roman »Das Mädchen mit dem Fingerhut« hat mich sehr berührt. Ich habe das Buch ohne Unterbrechung gelesen und am Ende sogar eine S-Bahn verpasst, weil ich mich auch auf dem Bahnsteig nicht von den Seiten lösen konnte. Ich bin Yiza und Arian auf Schritt und Tritt gefolgt. Nichts trieb mich mehr zum Umblättern der Seiten, als die Hoffnung, der Wunsch, dass die beiden Kinder ihr Glück doch noch finden, dass sie am Ende in Sicherheit und ohne Entbehrungen leben werden. Durch die Nüchternheit seiner Sprache schafft Michael Köhlmeier in diesem Roman, durch nichts von der Handlung abzulenken. Das Schicksal des Mädchens zieht in den Bann und lässt viel über das eigene Tun grübeln. Das Buch kann ich allen Lesern ab 12 Jahren empfehlen.
Michael Köhlmeiers Roman »Das Mädchen mit dem Fingerhut« ist im Februar 2016 im Hanser Verlag erschienen – gebunden, 144 Seiten, EUR 18,90, ISBN 978-3446250550.
Michael Köhlmeiers Roman »Das Mädchen mit dem Fingerhut« ist im Februar 2015 im Der Hörverlag erschienen, EUR 19,99, ungekürzte Lesung von Michael Köhlmeier, 3 CDs mit einer Laufzeit von 3h 17 min, ISBN 978-3844521078 .
Über den Autor: Michael Köhlmeier wurde 1949 in Hard am Bodensee geboren. Bei Hanser erschienen die Romane »Abendland« (2007), »Madalyn« (2010), »Die Abenteuer des Joel Spazierer« (2013) und »Spielplatz der Helden« (2014, Erstausgabe 1988) sowie der Gedichtband »Der Liebhaber bald nach dem Frühstück« (Edition Lyrik Kabinett 2012) und zuletzt die Romane »Zwei Herren am Strand« (2014) und »Das Mädchen mit dem Fingerhut« (2016). Michael Köhlmeier lebt mit seiner Frau, der Autorin Monika Helfer in Hohenems/Vorarlberg und Wien. Ihre gemeinsame Tochter Paula Köhlmeier starb 2003.
Laila Mahfouz, 5. April 2016
Links:
Weitere Informationen zu Michael Köhlmeier auf der Seite des Hanser Verlages. Hier finden Sie auch die anstehenden Lesungstermine.
Wer mehr lesen möchte und sich dennoch bisher nicht zu einem Kauf entschließen konnte, findet hier eine Leseprobe.
Die Fotostrecke zur Lesung finden Sie hier. Alle Fotos sind von Laila Mahfouz.
Mehr Informationen zu Michael Köhlmeier finden Sie hier.
Informationen zu Laila Mahfouz