Ian McEwan versetzt in seinem Roman »Nussschale« die Geschichte des dänischen Prinzen Hamlet ins heutige London und lässt sie aus der Sicht des noch ungeborenen Sohnes erzählen, der von dem Verrat der Mutter und den Plänen zum Brudermord an seinem Vater erfährt, ohne etwas gegen das familiäre Komplott unternehmen zu können. Der britische Bestseller-Autor ergänzt den Shakespeare-Kosmos mit diesem scharfzüngigen Roman auf hochintelligente und humorvolle Weise.
Verlagstext:
Eine klassische Konstellation: der Vater, die Mutter und der Liebhaber. Und das Kind, vor dessen Augen sich das Drama entfaltet. Aber so, wie Ian McEwan sie erzählt, hat man diese elementare Geschichte noch nie gehört. Verblüffend, verstörend, fesselnd, philosophisch – eine literarische Tour de Force von einem der größten Erzähler englischer Sprache.
Trudy betrügt ihren Ehemann. Sie wohnt nach wie vor in seinem Haus – einem heruntergekommenen Einfamilienhaus in London, das ein Vermögen wert ist –, aber ohne ihren Gatten, den Dichter und Verleger John. Stattdessen geht dort sein Bruder ein und aus, der zutiefst banale Bauunternehmer Claude. Trudy und Claude haben einen Plan. Doch ihre Intrige hat einen Zeugen: das wissbegierige, knapp neun Monate alte, ungeborene Kind in Trudys Bauch.
O Gott, ich könnte in eine Nussschale eingesperrt sein und mich für einen König von unermesslichem Gebiete halten, wenn nur meine bösen Träume nicht wären.
Oh God, I could be bounded in a nutshell and count myself a king of infinite space – were it not that I have bad dreams.
Aus William Shakespeares »Hamlet«
Pünktlich zum 400. Todestag des großen englischen Dramatikers William Shakespeare ließ sich Erfolgsautor Ian McEwan von dem o.g. Zitat inspirieren und die Handlung um seinen Helden Hamlet in dem 2016 erschienenen Roman »Nussschale« von dem noch ungeborenen Sohn erzählen, der sich zwar in seiner engen Behausung wohlfühlt, doch von den Plänen seiner Mutter und seines Onkels zur Ermordung seines Vaters erschüttert wird. Hin- und hergerissen zwischen seiner hilflosen Verzweiflung aufgrund seiner Ohnmacht, seiner Wut und seinem Hass auf seine Mutter und seiner aus Abhängigkeit geborenen Liebe zu der Frau, deren Bauch er bewohnt, versucht das Kind seine ungemein klugen Gedanken zu sortieren.
Ich zähle mich zu den Unschuldigen, und doch spiele ich offenbar eine Rolle in einem Komplott. Meine Mutter, gesegnet sei ihr unablässig laut mahlendes Herz, scheint darin verwickelt zu sein. […]
Lasst mich ihn heraufbeschwören, jenen Moment der Schöpfung, der übereinfällt mit meinem ersten Gedanken. Vor langer Zeit […] wölbten sich die Neuralwülste auf, um mein Rückgrat zu bilden, und viele Millionen junger Neuronen, wuselig wie Seidenwürmer, spannen und webten mit Hilfe ihrer Axonschweife das herrliche goldene Gewebe meiner ersten Idee – ein so simpler Begriff, dass er sich mir heute wieder entzieht. […] Meine Idee […] hieß sein. Und wenn nicht sein, dann die grammatische Variante ist. Das war mein Urbegriff, der springende Punkt – ist. […] Im Geiste von: Es muss sein. […] Meine Mutter ist in eine Verschwörung verwickelt, und folglich bin ich es auch, selbst wenn es mir zufiele, ihre Pläne zu durchkreuzen.
Kapitel 1 / Seite 10 – 12
I count myself an innocent, but it seems I’m party to a plot. My mother, bless her unceasing, loudly squelching heart, seems to be involved. […]
Let me summon it, that moment of creation that arrived with my first concept. Long ago […] my neural groove closed upon itself to become my spine and my many million young neurons, busy as silkworms, spun and wove from their trailing axons the gorgeous golden fabric of my first idea, a notion so simple it partly eludes me now. […] my idea was To be. Or if not that, its grammatical variant, is. This was my aboriginal notion and here’s the crux – is. […] In the spirit of Es muss sein. […] My mother is involved in a plot, and therefore I am too, even if my role might be to foil it.
Kapitel 1 / Seite 2 + 3
Eigentlich haben wir hier nun also einen Helden, der nichts von der Welt außerhalb des Mutterleibs sehen, wenig hören und noch weniger oder sogar nichts verstehen kann. So ist zumindest anzunehmen. Doch erstens ist in der Literatur nicht nur alles erlaubt sondern auch alles möglich und zweitens sagt ja nicht nur Sir Ken Robinson in seinen wunderbaren Vorträgen, dass wir möglicherweise alle einmal Genies waren und uns erst das Bildungssystem dümmer macht. In wieweit diese Aussage auf die Handlung des Buches übertragbar ist, sei der Phantasie der Leser oder künftigen Wissenschaftlern überlassen.
Natürlich ist es von Ian McEwan mit viel Humor und Augenzwinkern ausgearbeitet, wie eloquent sich dieser noch ungeborene Hamlet auszudrücken versteht und wie immens viel (und wie viel mehr als seine Erzeuger) er von der Welt begreift. Gerade dieses Spiel mit der Unwahrscheinlichkeit des Plots als Tatsache und die wunderschöne Sprache McEwans machen den Charme des Romans aus.
Der Sohn von Trudy und John und Neffe von Claude (im Original-Hamlet natürlich Gertrude und Claudius genannt) hat ein wunderbares Gehör und merkt sich alles, was er im Radio hört, zu dem seine Mutter während ihrer Schwangerschaft so oft eingeschlafen ist. So ist er nun in der Lage, die Welt zu verstehen, ohne sie je gesehen zu haben. Auch hat er eine ungeheure Phantasie und kann sich Dinge leicht vorstellen, die er in seinem kurzen Leben nie gesehen hat. Wer sich an diesem Romankonzept stört, wird mit dem Buch wenig Freude haben. Wer sich aber auf dieses Gedankenexperiment einlässt, wird mit einer intelligenten und irrwitzigen Geschichte auf sprachlich hohem Niveau belohnt werden.
Außerhalb meiner warmen, lebendigen Wände schlittert eine eiskalte Geschichte ihrem schrecklichen Ende entgegen. Am Himmel schwere Hochsommerwolken, kein Mond, nicht die leiseste Brise. Mutter und Onkel aber reden einen Wintersturm herbei. Eine weitere Flasche wird entkorkt, und nur allzu bald noch eine. Der Wein spült mich fort, weit über bloße Trunkenheit hinaus, meine Sinne lassen die Worte verschwimmen, doch entnehme ich ihnen noch, welcher Untergang mich erwartet, schemenhafte Gestalten auf blutiger Leinwand, die in hoffnungslosem Ringen mit ihrem Schicksal hadern. Die Stimmen werden lauter, leiser, und wenn sie nicht anklagen oder sich zanken, schmieden sie ihren Komplott. Gesagtes schwebt in der Luft wie der Smog über Peking.
Es wird böse enden, und auch das Haus spürt den drohenden Untergang. […] Eiseskälte kriecht unterm morschen Kitt ungeputzter Fenster durch, staut sich im Küchenabfluss. Ich zittere hier drinnen. Doch es hört nicht auf, das Böse setzt sich endlos fort, bis ein böses Ende dann schon wie ein Segen wirkt.
Kapitel 8 / Seite 107 + 108
Outside these warm, living walls an icy tale slides towards its hideous conclusion. The midsummer clouds are thick, there’s no moon, not the faintest breeze. But my mother and uncle are talking up a winter storm. The cork is drawn from one more bottle, then, too soon, another. I’m washed far downstream of drunkenness, my senses blur their words but I hear in them the form of my ruin. Shadow figures on a bloody screen are arguing in hopeless struggle with their fate. The voices rise and fall. When they don’t accuse of wrangle, they conspire. What’s said hangs in the air, like a Beijing smog.
It will end badly, and the house fells the ruin too. […] This chill works its fingers past the rotted putty of the unwashed panes, it backs up through the kitchen drains. I’m shivering in here. But it won’t end, the bad will be endless, until ending badly will seem a blessing.
Kapitel 8 / Seite 73
Übersetzung: Der Originaltext von Ian McEwans Roman »Nussschale« (Originaltitel »Nutshell«) ist wirklich meisterhaft. Der versierte Autor schwebt geradezu durch das ungewöhnliche Szenario und den altbekannten Plot der Geschichte. Der Stil ist ausschweifend und verspielt und die deutsche Übersetzung von Bernhard Robben ist gewohnt gelungen.
Teilweise fehlt der Übersetzung allerdings doch die Poesie der Sprache und so wirkt manch bedeutungsschwerer und mit leichter Hand hingezauberter Satz in der Übersetzung nur wie ein dröger Abklatsch. Dies ist allerdings nicht die Schuld Robbens, vielmehr ergibt sich der Humor und die Eleganz oft ganz klar aus der englischen Sprache, so dass die Übersetzung kaum besser zu machen war. Ebenso schwierig wäre es, einen gleichwertig brillant formulierten Text deutscher Sprache ins Englische zu übertragen. Leider ändert der weniger humorvolle Unterton der Übersetzung den Charakter des Erzählers von Beginn an – zu mindest leicht.
In Nigeria haben selbsternannte Hüter einer heiligen Flamme kleine Kinder vor den Augen ihrer Eltern verbrannt. In Nordkorea wurde eine Rakete gestartet. Weltweit steigt der Meeresspiegel schneller als vorhergesagt. Nichts davon aber wird an erster Stelle gemeldet. Dieser Platz ist einer neuen Katastrophe vorbehalten. Eine Kombination aus Armut und Krieg und auch ein bisschen Klimawandel vertreibt Millionen aus ihrer Heimat, ein altes Epos in neuem Gewand, riesige Menschenströme wie angeschwollene Flüsse im Frühjahr, eine Donau, ein Rhein, eine Rhone aufgebrachter, verzweifelter oder hoffnungsfroher Menschen, die sich an den Grenzen gegen Stacheldraht drängen oder zu Tausenden ertrinken, weil sie auch ein Stück wollen vom Glück des Westens. Mag sein, dies hat biblische Ausmaße, wie es das neue Klischee will, doch teilt sich für die Flüchtenden nicht das Meer, nicht die Ägäis, nicht der Ärmelkanal. Europa, diese alte Dame, windet sich in ihren Träumen, schwankt zwischen Mitleid und Furcht, zwischen Einladen und Zurückweisen. Diese Woche gefühlsduselig und freundlich, in der nächsten hartherzig und ach so vernünftig, dabei will sie durchaus helfen, nur will sie nicht teilen, will nicht verlieren, was sie hat.
Kapitel 20 / Seite 262 + 263
In Nigeria, children burned alive in front of their parents by keepers of the flame. In North Korea, a rocket is launched. Worldwide, rising sea levels run ahead of predictions. But none of these is first. That’s reserved for a new catastrophe. A combination, poverty and war, with climate change held in reserve, driving millions from their homes, an ancient epic in new form, vast movements of people, like engorged rivers in spring, Danubes, Rhines and Rhones of angry or desolate or hopeful people, crammed at borders against the razor-wire gates, drowning in thousands to share in the fortunes of the West. If, as the new cliché goes, this is biblical, the seas are not parting for them, not the Aegean, not the English Channel. Old Europa tosses in her dreams, she pitches between pity and fear, between helping and repelling. Emotional and kind this week, scaly-hearted and so reasonable the next, she wants to help but she doesn’t want to share or lose what she has.
Kapitel 20 / Seite 190
Ian McEwan ist weder der erste Autor, der ein ungeborenes Kind als Erzähler einsetzt, noch ist er der erste, der das Hamlet-Thema neuzeitlich bearbeitet, dennoch ist ihm mit »Nussschale« ein philosophischer und vielschichtiger Roman gelungen, der den Hamlet-Reigen zum 400. Todestag Shakespeares bestens ergänzt. Sein literarisches Experiment, so gewagt es auch sein mag, gelingt bestens und auch sprachlich ist auch dieser Roman von Ian McEwan wieder ein immenser Genuss.
Hörbuch: Der Diogenes Verlag brachte ebenfalls im November 2016 die Hörbuchausgabe von Ian McEwans Roman »Nussschale« (ISBN: 978-3257803761) in zum Glück ungekürzter Form heraus.
Ein Hochgenuss ist dabei die farbenfrohe Lesart des bekannten Schauspielers Wanja Mues. Er hat ein gutes Gespür für die Geschichte und den Humor des Autors und bringt die verschiedenen Stimmungen Hamlets zwischen Leichtigkeit, Traurigkeit, Hilflosigkeit, Ohnmacht, Melancholie und Wut gut zum Ausdruck.
Sie finden das Hörbuch (5 CDs mit einer Gesamtlaufzeit von 5 Stunden und 40 Minuten) samt Hörprobe hier oder mit Klick aufs Bild.
Fazit: Ian McEwans Roman »Nussschale« erzählt – aus einer der ungewöhnlichsten aller Perspektiven – von Verrat und Mord, von Hinterlist, Betrug und geheimen Leidenschaften; es ist ein hochintelligenter und philosophischer Roman. Außerdem ist er mit Humor und Ironie gewürzt und beinhaltet auch viel Gesellschaftskritik. Wie aus einem alten und altbekannten Thema ein richtig gutes Stück zeitgenössische Literatur werden kann, bleibt vielleicht Ian McEwans Geheimnis, die Frage nach dem Sein und dem Nichtsein aber stellt sich Hamlet ebenso wie den Lesern dieses ungewöhnlichen Buches.
Ian McEwans Roman »Nussschale« (Originaltitel: »Nutshell«) ist in der Übersetzung von Bernhard Robben im November 2016 für EUR 22,00 im Diogenes Verlag erschienen – gebunden, 288 Seiten, ISBN 978-3257069822.
Wer mehr lesen möchte, findet hier eine zwangigseitige Leseprobe.
Über den Autor: Ian McEwan, geboren 1948 in Aldershot (Hampshire), lebt bei London. Er ist Mitglied der Royal Society of Literature, der Royal Society of Arts und der American Academy of Arts and Sciences. 1998 erhielt er für seinen Roman »Amsterdam« den Booker-Prize und 1999 den Shakespeare-Preis der Alfred-Toepfer-Stiftung für das Gesamtwerk. Sein Roman »Abbitte« wurde zum Weltbestseller und von Joe Wright meisterhaft mit Keira Knightley, James McAvoy und Saoirse Ronan in den Hauptrollen verfilmt. Letztere spielt nun auch die Hauptrolle in der seit 21. Juni 2018 in deutschen Kinos erlebbaren Verfilmung von Ian McEwans Roman »Am Strand« (Originaltitel »On Chesil Beach«).
Doch damit nicht genug: Am 30. August 2018 kommt mit »Kindeswohl« (Originaltitel »The Children Act«) noch ein weiterer Film in die deutschen Kinos, der auf einem Buch von Ian McEwan basiert. Emma Thompson spielt die Hauptrolle einer Richterin, die über das Leben eines Kindes zu entscheiden hat. Wie schon für »Am Strand« schrieb Ian McEwan auch für »Kindeswohl« das Drehbuch selbst.
Ob auch »Nussschale« einmal verfilmt wird, steht noch in den Sternen. Vorstellbar wäre dies allerdings sehr gut. Alle Filme, an denen Ian McEwan beteiligt war, können Sie hier sehen.
Laila Mahfouz, 17. August 2018
Links:
Mehr zu Ian McEwan auf der Seite des Diogenes Verlages.
Weitere Informationen zu Ian McEwan finden Sie hier.
Informationen zu Laila Mahfouz