Literatursoiree am 23. Januar 2018 im Literaturhaus Hamburg: Iris Wolffs Roman »So tun, als ob es regnet« erzählt die Geschichte einer Familie in vier das letzte Jahrhundert umspannenden Erzählungen, die separat funktionieren, aber miteinander auf elegante Weise verwoben sind. Auf nur 160 Seiten erzählt Iris Wolff eine unvergessliche Geschichte in höchst poetischen Sprachbildern. Hier ist kein Wort zu viel und keines zu wenig. Der alles durchdringende sowie liebevolle Blick der Erzählerin und ihre bewundernswerte Sprachgewandtheit lassen Siebenbürgen und die für den Roman ins Rampenlicht gerückten Protagonisten erstrahlen.
Handlung (Verlagstext): Der Erste Weltkrieg bringt einen österreichischen Soldaten in ein Karpatendorf. Eine junge Frau besucht nachts die „Geheime Gesellschaft der Schlaflosen“. Ein Motorradfahrer ist überzeugt, dass er sterben und die Mondlandung der Amerikaner versäumen wird. Eine Frau beobachtet die Ausfahrt eines Fischerbootes, das nie mehr zurückkehren wird. – Über vier Generationen des 20. Jahrhunderts und vier Ländergrenzen hinweg erzählt Iris Wolff davon, wie historische Ereignisse die Lebenswege von Einzelnen prägen. Zwischen Freiheit und Anpassung, Zufall und freiem Willen erfahren ihre Protagonisten: Es gibt Dinge, die zu uns gehören, ohne dass wir wüssten, woher sie kommen. Und es gibt Entscheidungen, die etwas bedeuten, Wege, die unumkehrbar sind, auch wenn wir nie wissen werden, was von einem Leben und den Generationen vor ihm bleiben wird.
Iris Wolffs 2017 im Otto Müller Verlag erschienener Roman »So tun, als ob es regnet« trägt den Untertitel »Roman in vier Erzählungen«, denn der Roman ist in vier Teile untergliedert, die sich durchaus separat lesen lassen. Allerdings erzielt den meisten Genuss aus der Lektüre, wer den Roman am Stück und mit großer Aufmerksamkeit liest. Die Geschichten sind nämlich eng miteinander verknüpft. Iris Wolff erzählt die Geschichte ihrer Familie, ihrer Vorfahren – eine Geschichte, die das 20. Jahrhundert umspannt.
Den Impuls für die erste Geschichte – eine fiktive Erzählung über den Urgroßvater der Geschichte – erhielt Iris Wolff durch die Lektüre des Rumänischen Tagebuchs von Hans Carossa (laut Hinweis im Anhang des Buches). Denn über diesen Mann, dessen Nachkommen Teile seines Wesen in sich tragen, konnte nicht viel in Erfahrung gebracht werden. Während des Ersten Weltkrieges, 1916, ist der damals 25-jährige Jacob, der aus dem österreichischen Burgenland stammt, in Siebenbürgen als Soldat stationiert, um gegen die Rumänen zu kämpfen. Eine Zeit, die ihn stark verändert und nicht mehr nach Hause zurückkehren lässt.
Zwischen den Weidenzweigen am Ufer hatten sich tote Soldaten verfangen, Pferdekadaver, erschossene Hunde. Die Wiesen waren voller Papierbögen, Postkarten und den verstreuten Teilen einer Bibliothek. Zu Jacobs Überraschung darunter auch Diderot, Schiller, Goethe und Balzac. Sie sollten Feinde sein, und lasen doch dieselben Bücher.
Teil 1 / Budapest? / Seite 22
Die zweite Geschichte stellt Henriette vor – die zentrale Figur des Buches und wohl auch der Familie. Die selbstbewusste Henriette lebt mit ihrer Mutter Alma, ihren drei älteren Schwestern und ihrem Großvater in Siebenbürgen. Ab dem Augenblick, da Henriettes Familie vorgestellt wird, ist dem Leser klar, auf welch tragische Weise diese Geschichte mit der Jacobs verbunden ist. Henriette ist eine wirklich ungewöhnliche und in ihren Facetten faszinierende Frau, die das weitere Leben der Familie auf ihre Art und ungewollt bestimmt.
Dieser Buchteil trägt die deutlichsten märchenhaften Spuren. Die Leser lernen die Gesellschaft der Schlaflosen kennen, verstehen, dass es gut ist, in einem Land zu leben, in dem »man einander in drei Sprachen die Liebe erklären kann« und fiebern mit Henriette, der ein Ring mit einem fast magisch leuchtenden blauen Stein angeboten wird, den sie, der Versuchung erlegen, ebenso wie seine Herkunft, vor der Familie lange geheim hält.
Wie Iris Wolff ausführt, beginnen rumänische Märchen mit dem Satz »Es war einmal, und ist doch nie geschehen …« und so ruft eine innere Stimme im Kopf des Lesers dann auch immer lauter: »Ist dies wirklich geschehen?« Die Antwort auf diese unbedeutende Frage bleibt die Autorin zum Glück schuldig. Denn wie Iris Wolff im Literaturhaus erklärte, möchte sie dem Leser viel Raum geben, damit er »die Freiheit der eigenen Deutung hat«.
Ihre nächtlichen Treffen sprachen sich herum, weitere, zumeist alleinstehende Männer, schlossen sich der „Gesellschaft der Schlaflosen“ an. Es wurde im Dorf üblich, mitten in der Nacht an Fensterscheiben und Hoftore zu klopfen. […]
»Es gibt Geschichten«, sagte Elemér zu seiner Enkeltochter, »die können nur nachts erzählt werden«.
Teil 2 / Elemérs Garten / Seite 52
Erst im vierten Teil des Buches gibt Iris Wolff in einem Nebensatz preis, wie Henriette zu ihrem Sohn Vicco kam. Im dritten Teil erfahren wir nur, dass Vicco eine sehr schwierige Beziehung zu seiner Mutter Henriette hat und dass er bei seiner kinderlosen Tante Luise lebt. Ein unbändiger Freiheitsdrang ist nämlich allen vier Hauptfiguren dieses Romans gemein und lässt sie sich verwandtschaftlich ähneln, ohne dass sie es selbst merken würden. Vicco hängt allerdings am meisten an seiner siebenbürgischen Heimat und doch zieht es auch ihn ab und an fort, auf sein Motorrad, in die Welt.
In der Honterusgasse waren sicher alle zusammengekommen, um zu verfolgen, wie Aldring, Armstrong und Collins auf dem Mond landeten. Nur er würde nicht sehen, wie der erste Mensch einen Fuß auf den Mond setzte, wie die Erde aus dem All aussah – ein durchscheinender, blauer Planet aus Wasser, Erde und Wolken, auf dem irgendwo in Südosteuropa ein Mann auf seinem Motorrad verunglückte. Betrachtete man es aus dieser Perspektive, was spielte sein Tod da für eine Rolle? Kein Sommer oder Winter würde seinetwegen ausbleiben […]
Andere würden durch Mohnblumenfelder spazieren, Eislaufbahnen im Hof anlegen, Fuchs- und Wolfsspuren finden, mit oder ohne Mutter zurechtkommen. Die Zeit dehnte sich, es blieb Raum genug, um solche Gedanken zu denken – ein letztes großes Zögern, eine Weite des Bewusstseins in dem, was das Ende des Lebens war.
Teil 3 / Eine Zitrone im All / Seite 89
Im letzten Teil wird deutlich, welch emotional schweres Erbe ihre Vorfahren Viccos Tochter Hedda hinterlassen haben. Hedda, die vor einiger Zeit den Ring mit dem blauen Stein von der Großmutter erhalten hat und noch nicht weiß, was es damit auf sich hat, versucht, möglichst viel räumliche Distanz zwischen ihre Familie und sich zu bringen, um zu Atem zu kommen. So lebt Iris Wolffs Alter Ego auf der Kanareninsel La Gomera und beobachtet ebenso genau ihre Umwelt wie die Autorin selbst. Eines Tages fällt Heddas Blick auf ein Paar am Hafen. Sie sieht, wie die beiden mit einem Boot hinausfahren und wie die Zeit einen Moment anhält. Das Boot wird nie zurückkommen und obwohl Hedda ihre Beobachtung niemandem gegenüber erwähnt hat, weiß sie, dass es bereits eine Vorahnung des Todes gewesen ist. Kurz danach erreicht sie dann auch eine für sie selbst schlimme Nachricht.
Aus dem Zögern löste sich ein Takt, ein entschleunigter Puls, der die Melodie wieder stärkte. Hedda wartete auf den Moment, wo aus dem Rückwärtsgewandten wieder etwas Vorwärtsgerichtetes wurde, und tatsächlich, bevor das Lied auf seinen Höhepunkt zusteuerte, gab es eine Pause. Alles stand still, die roten, weißen und blauen Boote hielten inne, die Sonnenflecken froren auf den Wellen ein, die Möwen in der Luft, die Badenden in ihren Schwimmbewegungen, der Hund in seinem Lauf, das aufspritzende Wasser in unzähligen Perlen. In dieser Pause schien das Paar auf der Kaimauer zu verschwinden, das Blau des Himmels löste ihre Umrisse auf. Hedda selbst verschwand, es gab keine Hitze unter den Fußsohlen, keinen Felsen im Rücken, es gab keinen Ort mehr, der ihren Körper beherbergte, nicht einmal den Körper selbst.
Teil 4 / Wölfe und Lämmer / Seite 130
Stil und Sprache: Für alle vier Erzählungen, die diesen Roman zu einem Ganzen vervollständigen, nimmt Iris Wolff die Erzählperspektive des auktorialen Erzählers ein. Dies ermöglicht dem Leser sowohl einen Blick auf die Figuren und in die Gedanken der Figuren sowie darüber hinaus auf alle und alles andere und schafft so die größstmögliche Weite. Iris Wolff gelingt es dabei trotzdem, nie die Nähe zu ihren Figuren zu verlieren.
»So tun, als ob es regnet« bedient sich einer poetischen Sprache und Motiven, wie sie auch in der Frühromantik Gebrauch fanden. Wenig verwunderlich bekannte Iris Wolff dann auch, Novalis zu ihren Lieblingsautoren zu zählen. Mit sicherem Sprachgefühl und eleganter Fingerfertigkeit komponiert Iris Wolff ihre Geschichten und lässt ihre Leser staunend zurück.
Wie ist es möglich auf nur 160 Seiten, eine ganze Welt entstehen, die Geschichte von vier Generationen über ein ganzes Jahrhundert in noch dazu so einer vor Freude funkelnden Sprache zu erzählen? Iris Wolff schafft das scheinbar spielend. Während die Leser am Ende wissen, dass Hedda die zahlreichen Tagebücher von Henriette lesen und so manches der Familiengeschichte begreifen und aufarbeiten wird, bleibt nur noch, die bezaubernde Sprachmagie und die Leichtigkeit zu bewundern, mit der Iris Wolff die Geschichten des Romans verwebt.
Im Gespräch mit Lothar Müller sagte die Schriftstellerin, dass sie in ihren Romanen über Siebenbürgen versuche, »diese Welt festzuhalten, die im Verschwinden begriffen ist«. Ihre Arbeit beim Deutschen Literaturarchiv in Marbach gibt ihr ebenso Inspiration für ihre Texte wie das Durchblättern fremder Fotoalben, denn dies sei eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen, wie Iris Wolff zugab.
Buchtitel und Gestaltung: »So tun, als ob es regnet« ist die freie Übersetzung der rumänischen Redewendung »se face că plouă«, die eine geistige, eine innere Abwesenheit beschreibt, eine Möglichkeit, sich bewusst dem Augenblick zu entziehen, der Henriette, die eigentliche Hauptfigur des Romans, oft und gern verfällt. Und doch notiert sie in ihren Tagebüchern jedes kleinste Detail und hinterlässt ihrer Enkelin, die ihre Fähigkeit nur bedingt geerbt hat, einen rätselhaften Schatz, den sie am Ende des Buches zu bergen beginnt.
Das Buch ist gebunden und mit einem schön gestalteten Umschlag im Otto Müller Verlag erschienen. Die märchenhaft unwirklich scheinende Illustration des Buchumschlags wurde von Mehrdad Zaeri angefertigt. Und wer das Glück hat, an einer Lesung von Iris Wolff teilzunehmen, erhält von der Autorin vielleicht ein Lesezeichen, das mit einem Zitat aus dem jeweiligen Buch bedruckt wurde.
Fazit: »So tun, als ob es regnet« ist wirklich ein außergewöhnlich schöner Roman. Atmosphärisch dicht erzählt Iris Wolff auf wache, wohl reflektierte Weise und in einer Sprache, die in feinen und ruhigen, präzisen und poetisch zarten Frequenzen schwingt und dadurch ein immens intensives Leseerlebnis garantiert, ohne je zu blumig oder zu verspielt zu geraten. Schonungslos und doch sensibel geht die 1977 in Hermannstadt geborene, heute in Freiburg lebende Autorin mit ihren Figuren um und lässt sie magische und tragische Momente von großer Tiefe erleben. Dabei wird der Ton nie anklagend oder abrechnend.
»So tun, als ob es regnet« ist mein Geheimtipp unter den Leseempfehlungen. Für alle Sprachverliebten ist dies sicherlich Gewinn und Genuss zugleich! Hier ist eine Erzählerin zu entdecken, von der wir hoffentlich noch viele weitere Bücher, die der Welt gut tun, erwarten können. Wer weiß, wohin es sie in ihrem nächsten Buch zieht. Auf gewisse Weise persönlich wird es sicher auch dann zugehen, denn im Literaturhaus sagte Iris Wolff: »Die Erinnerung und die Zeit sind heimliche Protagonisten all meiner Bücher. […] Das Widersprüchliche und Gelenkte der Erinnerungen fasziniert mich.«
Iris Wolffs Erzählband »So tun, als ob es regnet« ist im Februar 2017 für EUR 20,00 im Otto Müller Verlag erschienen – gebunden, 166 Seiten, ISBN 978-3701312504.
Wer in den Roman reinlesen möchte, findet hier eine Leseprobe.
Über die Autorin: Iris Wolff wurde 1977 in Hermannstadt / Siebenbürgen geboren. Sie studierte Germanistik, Religionswissenschaft und Grafik und Malerei in Marburg an der Lahn und war viele Jahre Mitarbeiterin des Deutschen Literaturarchivs in Marbach. Die Autorin ist Mitglied im Internationalen PEN und erhielt für ihre schriftstellerische Arbeit folgende Auszeichnungen: 2013 Literaturstipendium der Kunststiftung Baden-Württemberg, 2014 Ernst-Habermann-Preis, 2018 Literaturstipendium des Landes Baden-Württemberg. »So tun, als ob es regnet« ist ihr dritter Roman.
Laila Mahfouz, 27. April 2018
Links:
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