Bob Dylans Lyrik- und Prosasammlung »Planetenwellen« offenbart in einer zweisprachigen Ausgabe Seiten des Literaturnobelpreisträgers, die seinem deutschsprachigen Publikum bisher verborgen geblieben waren. Die Auseinandersetzung mit seinen Texten verlangt Zeit, Intelligenz und einen aufgeschlossenen Geist und beschenkt die reichlich, die sich darauf einlassen.
Inhalt (Verlagstext): In seinen frühen Jahren verstand Bob Dylan sich sowohl als Songwriter als auch als Lyriker. Seinen Schallplatten gab er komplette Gedichtzyklen und lyrische Prosa bei, Langgedichte erschienen in Zeitschriften der Folk- und der Beat-Szene, das Poem „Last Thoughts On Woody Guthrie“ rezitierte er im Konzert. Die Lyrik war seine Ideenwerkstatt, sie gab ihm die Möglichkeit zu Selbstkommentaren gegenüber Freund und Feind, sie verband die Poesie seiner Songs mit den literarischen Traditionen Rimbauds, Brechts, der Beat Poets.
Nachdem von Bob Dylan 2004 schon seine Autobiographie »Chronicles« und 2016 »Lyrics«, ein Band mit sämlichen Songtexten, und »Tarantel«, eine Mischung aus experimentellem Roman und Prosagedicht, im Hoffmann und Campe Verlag erschienen waren, brachte der Verlag 2017 »Planetenwellen« mit einer tollen Mischung aus Kurz- und Langgedichten Dylans sowie diversen anderen Texten heraus. Im Jahr 2017 folgte dem Buch noch »Chronicles« als broschierte Ausgabe und »Die Nobelpreis-Vorlesung«.
Das Buch versammelt in einer zweisprachigen Ausgabe nun erstmals Gedichte aus den Jahren 1963 bis 1978, sowie Prosagedichte, die Dylan seinen Alben von 1965 (»Bringing It All Back Home«) bis 1978 (»Live At Budokan«) hinzufügte. Ergänzt wird dies um einige programmatische Texte aus den letzten Jahren, unter anderem ist auch seine Tischrede für das Nobelpreiskommitee enthalten.
Alles wurde von Dylan-Kenner Heinrich Detering herausgegeben und übersetzt, der auch ein siebzehnseitiges Nachwort schrieb und auf fast dreissig Seiten alle abgedruckten Texte um Kommentare und Quellenangaben ergänzte.
Der Buchtitel »Planetenwellen« bezieht sich auf Dylans 14. Studioalbum »Planet Waves«, das am 17. Januar 1974 erschien. Ebenso lautet der Titel eines Prosagedichtes, das allerdings nur in der ersten Auflage des Albums mit abgedruckt war. Vermutlich wurde es später wegen seiner Anzüglichkeiten gestrichen. Das ist sehr schade, denn es ist ein eindringlicher Text über die Selbstfindung Dylans. Heinrich Detering fragt sich im Kommentar zu diesem Prosagedicht, ob der Titel vielleicht eine Anspielung auf Allen Ginsbergs Gedichtband »Planet News« sein könnte, in dem unter anderem auch Bob Dylan bedichtet wurde.
Das Buch ist ein Muss für Menschen, die Bob Dylans Lyrics schätzen, aber auch Zweifler daran, ob dieser Ausnahmemusiker für seine lyrische Arbeit den Nobelpreis für Literatur verdient hat, können sich hier die Gewissheit holen: er hat ihn verdient! Seine Sprache ist so eigen, seine Wortspielereien und Wortkreationen so sprachgewaltig, seine Botschaften so eindringlich, wie es eben nur gute Literatur kann.
Wie und warum er zur Musik fand, weiß Dylan selbst nicht, doch seien wir dankbar, dass er unser Leben auf diesem Weg seit Jahrzehnten bereichert.
»Somewheres back I took time to start playin‘ the guitar
Somewheres back I took time to start singin‘
Somewheres back I took time to start writin‘
But I never ever did take the time to find out why«
»Irgendwann damals nahm ich mir die zeit mit der gitarre anzufangen
Irgendwann damals nahm ich mir die zeit mit dem singen anzufangen
Irgendwann damals nahm ich mir die zeit mit dem schreiben anzufangen
Aber niemals nie nahm ich mir die zeit herauszufinden warum«
»My Life In A Stolen Moment« / Seite 18 – 21
Das zwölfseitige Langgedicht »For Joan Baez« aus dem Jahr 1964 erzählt von dem jungen Rebellen, der seinen Weg sucht. Wie auch in »My Life In A Stolen Moment« berichtet Dylan schonungslos ehrlich von seinen eigenen Schwächen und Fehlern, erzählt, wie er mit aller Kraft versuchte, eine Mauer zwischen sich und Baez aufzubauen, da er bisher daran geglaubt hätte, dass die Wahrheit hässlich sein müsse. Doch er konnte sich ihrem Zauber nicht entziehen. Durch ihre umwerfende Mischung aus Schönheit, Klugheit, Güte und ihrer Sirenenstimme schmolz Joan Baez die Mauer und rettete Dylan aus seinen schwarzen Gedanken, ließ ihn wie geläutert, einsichtig und reifer daraus hervortreten. Wurde zuvor die Zeile »An‘ I walked my road an‘ sung my song« wie ein Mantra wiederholt, so legt das Ende der Ballade doch einen inneren Prozess offen, durch den es Dylan nun erstmals möglich war, ohne Härte und Groll auf seine Kindheit zu schauen und den Glauben an eine gute Zukunft zu erringen.
Joan Baez wurde Ende der 1950er durch ihre klare Gesangsstimme, aber auch durch ihr politisches Engagement gegen den Vietnamkrieg und die Rassentrennung bekannt. Als Bürgerrechtlerin tritt sie schon ihr ganzes Leben für mehr Menschlichkeit ein. Am 28. August 1963 trat sie gemeinsam mit Bob Dylan und anderen Folksängern bei der Abschlusskundgebung des Civil Rights March nach Washington auf, bei der Martin Luther King seine berühmte Rede »I Have a Dream« hielt.
1975 erschien Joan Baez Album »Diamonds and Rust«, mit dem melancholischen Titelsong für ihren Ex-Freund und Wegbegleiter Bob Dylan.
Der Literaturnobelpreis ist nur einer der Gipfel auf Dylans Gebirge der Auszeichnungen für seine Musik und seine Texte. So wurde 2008 die Verleihung des Pulitzer-Sonderpreises an Bob Dylan für seinen besonderen Einfluss auf die Popkultur und seine lyrischen Kompositionen von außerordentlicher poetischer Ausdruckskraft bekanntgegeben. Neben dem französischen Orden der Ehrenlegion ist Dylan auch Träger der Ehrendoktortitel der Universität Princeton sowie der schottischen University of St Andrews.
Mehrere Lieder Dylans wurden 2000 für den Film »Wonder Boys« nach dem gleichnamigen Roman von Michael Chabon mit Michael Douglas in der Hauptrolle verwendet. Prompt gewann Bob Dylan den Oscar für den besten Filmsong »Things Have Changed«. Doch auch das Lied »Not Dark Yet« legt einen musikalisch perfekten Teppich für geniale Lyrics aus. Anscheinend wird alles zu Gold, was der am 24. Mai 1941 in Duluth (Minnesota) als Robert Allen Zimmerman geborene Dylan anfasst.
In diesem Musikvideo zu »Things Have Changed« tauschen Michael Douglas und Bob Dylan mehrmals die Rollen:
Die Muse hat Dylan nie verlassen: seine neuen Texte strahlen ebenso wie seine alten vor poetischer Kraft und zeichnen sich insbesondere durch seine Wortschöpfungen, seine rätselhaft verschlüsselten Passagen, die viel Spielraum zur Interpretation lassen, und durch seinen direkten Slang-Ton aus. In der hier abgedruckten Originalfassung seiner Gedichte wird besonders deutlich, wie sehr Dylan Formen, Normen und Schubladen abstoßen. Seine sprachlichen Verkürzungen von »and« zu »an’« oder »to« zu »t’« erschweren das Lesen nicht, sobald man sich an sie gewöhnt hat.
Übersetzung: Das vorliegende Buch bietet einen zweisprachigen Lesegenuss, wobei die deutsche Übersetzung stets auf der rechten, der Originaltext gegenüber auf der linken Buchseite zu finden ist. Allerdings mutet es etwas seltsam an, in der deutschen Übersetzung die englische Groß- und Kleinschreibung beibehalten zu haben (Beispiel von Seite 12/13: »My mother’s from the Iron Range Country up north« – »Meine mutter ist aus dem Iron Range Country im norden«). Der Grund für diese Entscheidung erschließt sich mir nicht. Auch geht auf dem Weg zur deutschen Übersetzung natürlich viel der Dylanschen Poesie verloren wie ein Beispiel von Seite 58/59 zeigt: »And lonesome comes up as down goes the day« – »Und dann dämmert schon der abend und „verlassen“ heißt das wort«. Warum auch wichtige Stellen (gibt es bei Dylan andere? teilweise so lieblos übersetzt sind, ist mir ein Rätsel. Auf Seite 74 beginnt der Text mit »In my youngest years I used t’kneel […] on a railroad field« und wird mit »Als ich klein war spielte ich oft auf dem feld« übersetzt. Das Knien, welches mit „used to“ zu einem Ritual wird, hat eine große Bedeutung, wird aber einfach ignoriert, obwohl sich mit einem Hinunterbeugen an der selben Stelle der Kreis am Ende des Gedichts auch wieder schließt.
Andererseits hilft die Übersetzung dann, wenn fast nur noch Muttersprachler den Songpoeten verstehen können, da er eigene Wortkreationen mit Musikalität verwirbelt, Schönheit schafft, die oft – wie etwa moderne Kunst – mehr intuitiv als wörtlich zu verstehen ist.
Wie in einem Zitat, das dem Buch vorangestellt wurde, zu lesen ist, vertritt Bob Dylan die Meinung, dass er niemandem gefallen muss, da er sowieso nicht allen gefallen könnte. Seine Meinung hat er schon immer ehrlich, direkt und provokant deutlich gemacht und so verwundert es nicht, dass auch in vielen Gedichten eine politische Haltung zum Ausdruck kommt. 1972 sollte John Lennon auf Drängen konservativer Republikaner abgeschoben werden. In seinem offenen Brief »Justice for John & Yoko« erklärte Dylan, warum John Lennon und Yoko Ono in den USA bleiben sollen, da sie nämlich u. a. anderen helfen reines Licht zu sehen und indem sie das täten, würden sie dem muffig-sanften Geschmack des kleinkarierten Kommerzialismus ein Ende machen.
»I don know who the people were man that let it get this way
but they got what they wanted out a their lives and left me
an you facin a scared raped world –
They drained the free thinkin air an left us with a mental institution circle –
They rotted the poor wind and left us with a mixed up mislead puny breeze – «
»Ich kenne die leute nicht mann die es so weit haben kommen lassen
aber sie haben bekommen was sie von ihrem leben wollten und lassen mich
und dich im angesicht einer verängstigten vergewaltigten welt zurück –
Sie haben die luft des freien denkens herausgesaugt und
uns im irrenhauskreislauf gelassen –
Sie ließen den armen wind verfaulen und haben
uns eine zusammengerührte armselige falsche brise zurückgelassen – «
»For Dave Glover« / Seite 46 + 47
»Planetenwellen« lässt uns Bob Dylan als Musiker und Poeten begreifen, denn seine wahre Natur und seine Liebe zu Sprache und Musik wird hier in editierter Form erfassbar. Es passt zu dem Rebellen Dylan, dass er bei der Veröffentlichung seiner Gedichte auf die Buchform verzichtete und seine Texte einfach seinen Alben hinzufügte. Während er mehrfach seine Fans erboste, wenn er Genre und Stil wechselte, blieb Bob Dylan immer nur sich selbst treu. »Planetenwellen« zeigt wieder neue Facetten des Songpoeten. Wie Spiralen schrauben sich seine Texte in immer neue Sphären, schwingen sich aus den Tiefen empor und wachsen, wuchern immer weiter in den Köpfen seiner Leser und Hörer und finden in die dunkeln Tiefen zurück, wenn sich am Ende der Kreis schließt. Und wie er im fünften Teil seiner »11 Outlined Epitaphs« schreibt sind seine Lieder nothin‘ but the unwindin‘ of [his] happiness.
Fazit: Bob Dylans Lyrik- und Prosasammlung »Planetenwellen« offenbart seine außergewöhnliche Begabung für poetischen Wortneuschöpfungen, Rhythmus und Genauigkeit im Skizzieren von Momentaufnahmen. Es scheint, als könnte er einfach alles, was mit Worten oder Noten möglich ist. Ob es Gedichte aus seiner Anfangszeit sind oder der berührende Nachruf auf Johnny Cash, Bob Dylan ist ein Meister des Wortes. Solange die Menschheit existiert wird es noch Texte von ihm geben, denn sie scheinen so unzerstörbar wie Diamanten.
Nach dieser Lektüre ist es unerlässlich, auch die anderen im Hoffmann und Campe Verlag erschienen Bände zu erstehen, denn eines ist klar: Bob Dylan macht süchtig!
Bob Dylans Lyrik- und Prosasammlung »Planetenwellen« ist in der Übersetzung von Heinrich Detering im April 2017 für EUR 24,00 im Hoffmann und Campe Verlag erschienen – gebunden, 496 Seiten, ISBN 978-3455001181.
Wer in das Buch reinlesen möchte, findet hier eine Leseprobe.
Über den Autor: Bob Dylan wurde am 24. Mai 1941 als Robert Allen Zimmerman in Duluth, Minnesota geboren. Er ist ein US-amerikanischer Musiker und Lyriker und gilt als einer der einflussreichsten Musiker des 20. Jahrhunderts. Die vielen Stationen seines Leben können Sie hier nachlesen.
„Für seine poetischen Neuschöpfungen in der großen amerikanischen Songtradition“ wurde ihm 2016 als erstem Musiker der Nobelpreis für Literatur zuerkannt.
Über den Übersetzer: Heinrich Detering wurde am 1. November 1959 in Neumünster geboren. Er lehrt Deutsche und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Göttingen, hat literaturwissenschaftliche Bücher, Aufsätze, Gedichtbände und Essays veröffentlicht, nahm Gastprofessuren und Poetikdozenturen in aller Welt wahr und erhielt wissenschaftliche und literarische Auszeichnungen. Detering zählt zu den einflussreichsten deutschen Literaturwissenschaftlern und gilt als einer der besten Kenner des Werks von Bob Dylan. 2018 wird er zu den ersten Stipendiaten im Thomas-Mann-Haus in Los Angeles gehören.
Laila Mahfouz, 30. Januar 2018
Links:
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