Lesung am 17. Oktober 2017 im kleinen Saal der Laeiszhalle Hamburg: Eingeladen von der Buchhandlung Heymann las Daniel Kehlmann dem begeisterten Publikum aus seinem neuen Roman »Tyll« vor.
Handlung (Verlagstext): Tyll Ulenspiegel – Vagant, Schausteller und Provokateur – wird zu Beginn des 17. Jahrhunderts als Müllerssohn in einem kleinen Dorf geboren. Sein Vater, ein Magier und Welterforscher, gerät schon bald mit der Kirche in Konflikt. Tyll muss fliehen, die Bäckerstochter Nele begleitet ihn. Auf seinen Wegen durch das von den Religionskriegen verheerte Land begegnen sie vielen kleinen Leuten und einigen der sogenannten Großen: dem jungen Gelehrten und Schriftsteller Martin von Wolkenstein, der für sein Leben gern den Krieg kennenlernen möchte, dem melancholischen Henker Tilman und Pirmin, dem Jongleur, dem sprechenden Esel Origenes, dem exilierten Königspaar Elisabeth und Friedrich von Böhmen, deren Ungeschick den Krieg einst ausgelöst hat, dem Arzt Paul Fleming, der den absonderlichen Plan verfolgt, Gedichte auf Deutsch zu schreiben, und nicht zuletzt dem fanatischen Jesuiten Tesimond und dem Weltweisen Athanasius Kircher, dessen größtes Geheimnis darin besteht, dass er seine aufsehenerregenden Versuchsergebnisse erschwindelt und erfunden hat. Ihre Schicksale verbinden sich zu einem Zeitgewebe, zum Epos vom Dreißigjährigen Krieg. Und um wen sollte es sich entfalten, wenn nicht um Tyll, jenen rätselhaften Gaukler, der eines Tages beschlossen hat, niemals zu sterben.
Seit Daniel Kehlmanns Roman »Die Vermessung der Welt« als internationaler Bestseller gefeiert wurde, wird jeder Folgeroman mit Spannung erwartet. Und das vollkommen zu Recht, denn der Ausnahme-Autor überrascht immer wieder; keiner seiner Romane gleich in Sujet, Hauptfigur oder Ort einem der vorherigen. Sein neuer Roman »Tyll« bildet darin keine Ausnahme. Dieses Mal schickt Kehlmann eine deutsche Legende auf Zeitreise: Till Eulenspiegel, hier Tyll Uhlenspiegel, geistert wie selbstverständlich durch das 17. Jahrhundert und mitten hinein in den Dreissigjährigen Krieg. Welch ein genialer Schachzug!
Bei der Lektüre gewinnt der Leser den Eindruck, diese Zeit hätte nur auf Uhenspiegel gewartet. Obwohl der Narr bereits etwa dreihundert Jahre vor Ausbruch des Krieges starb, wurde er immer mehr zur Legende, zu einer Figur, die allgegenwärtig ist, unsterblich. So scheint es auch nicht verwunderlich, dass die Dorfbevölkerung aus Kehlmanns erstem Kapitel »Schuhe« ihn sogleich erkennt und mit großem Hallo begrüßt. Eulenspiegel ist einer, der zu jeder Zeit auftauchen kann, ganz besonders in einer aus den Fugen geratene Welt. Dazu passt natürlich, dass Kehlmanns Tyll das Sterben einfach verweigert!
Daniel Kehlmann hat aber nicht etwa einen lustigen Schelmenroman verfasst. »Tyll« ist in erster Linie ein Roman über den Dreissigjährigen Krieg. Alles an diesem Roman scheint ebenso aus dem Gleichgewicht zu sein wie die Zeit, die er beschreibt. Der Erfolgsautor versetzt seinen Helden nicht nur in eine Zukunft, die er nie hätte erleben können, er verwirbelt auch die Geschichte selbst. Sein Roman beginnt beim einfachen Volk und endet bei dem böhmischen Winterkönig Friedrich V und seiner Gattin Elizabeth Stuart, doch erleben wir anfangs die verheerenden Auswirkungen des Kriegs, die Verwüstung des Landes, so endet das Buch mit den Personen, mit denen der Krieg einst begann. Der rote Faden ist dabei die Figur des bekannten Gauklers, der die bemerkenswerte Chronologie des Romans zusammenhält und den Personen jener Zeit einen Spiegel vorhält.
Gleich im ersten Kapitel wird deutlich, dass Kehlmanns Tyll kein menschenfreundlicher Geselle ist. Ganz im Gegenteil hat er Spaß daran, die Menschen in ihrer Dummheit bloßzustellen und sie gegeneinander aufzubringen. Es scheint, als hege er die Hoffnung, sie würden sich durch ihre Dummheit selbst ausrotten, bis nur noch die Klugen übrig blieben. Fast könnte man auf den Gedanken kommen, Tyll wäre bei Peter Handke in die Schule gegangen und hätte dessen Publikumsbeschimpfung verinnerlicht. Tyll ist den Menschen, denen er begegnet, intellektuell überlegen und ganz richtig sieht er die Dummheit dann auch als die schlimmste aller Krankheiten des Menschen an. Als er auf die kleine Martha stösst, entdeckt er eine verwandte Seele:
»In den zwölf Jahren ihres Lebens hatte sie nicht Augen gesehen wie seine. […] Martha hatte nicht gewusst, dass solche Kraft, solche Behändigkeit der Seele aus einem Menschengesicht sprechen konnten.«
»Schuhe« / Seite 9 + 10
Das Einstiegskapitel »Schuhe« ist sehr stark und lässt seine Figuren sofort lebendig werden. Erzähler ist hier eine ganze Dorfgemeinschaft, allen voran die kleine Martha, ein besonderes Kind, welches als Einzige das sonderbare Spiel durchschaut, das Uhlenspiegel mit ihren Leuten treibt. Von ihr wollte ich mir gern den Roman erzählen lassen, doch Daniel Kehlmann hatte andere Pläne: Er bringt es in John-Irving-Manier über sich, eine Erzählfigur dann auszulöschen, wenn der Leser sich eben mit ihr vertraut gemacht hat.
Erzählt wird das Kapital bis zum Ende dieses Erzählstrangs spannenderweise in der ersten Person Plural (wir):
»Uns andere hört man dort, wo wir einst lebten, manchmal in den Bäumen. Man hört uns im Gras und im Grillenzirpen, man hört uns, wenn man den Kopf gegen das Astloch der alten Ulme legt, und zuweilen kommt es Kindern vor, als könnten sie unsere Gesichter im Wasser des Bachs sehen. Unsere Kirche steht nicht mehr, aber die Kiesel, die das Wasser rund und weiß geschliffen hat, sind noch dieselben, wie auch die Bäume dieselben sind. Wir aber erinnern uns, auch wenn keiner sich an uns erinnert, denn wir haben uns noch nicht damit abgefunden, nicht zu sein. Der Tod ist immer noch neu für uns, und die Dinge der Lebenden sind uns nicht gleichgültig. Denn es ist alles nicht lang her.«
»Schuhe« / Seite 29
Tatsächlich rückt Daniel Kehlmann in jedem Kapitel eine andere Figur ins Rahmenlicht. Mal lässt er, wie eben beschrieben, ein Dorf erzählen, mal den dicken Grafen Wolkenstein, mal Elizabeth Stuart, die Gattin des Winterkönigs. Außer Tyll tauchen mehrere Personen im Laufe des Romans wieder auf, während anderen nur ein kurzer Auftritt vergönnt ist.
Fesselnd ist die Geschichte des jungen Gelehrten und Schriftstellers Martin von Wolkenstein, der Tyll an den Wiener Hof holen soll und suchend durch ein brodelndes, wüstes Deutschland zieht. Als er Tyll in einer Abtei endlich findet, entspinnt sich ein grandioser Dialog:
»Bist du Uhlenspiegel?«
»Einer von uns ist es. […]
»Kommst du freiwillig mit, oder müssen wir dich zwingen?«
»Natürlich komm ich. Hier gibt es nichts mehr zu essen, hier fällt alles auseinander, der Abt macht’s auch nicht mehr lang, drum habe ich nach dir geschickt. […] Wenn ich die Majestät nicht saublöd nenne, wer soll das sonst tun? Einer muss es doch. Und du darfst nicht.«
»Zusmarshausen« / Seite 207 – 209
Daniel Kehlmann lässt aus der Sagengestalt einen Menschen aus Fleisch und Blut werden. Sein Tyll hat ein hartes Leben hinter sich, das ihn zu dem gemacht hat, der er ist. Sein Vater, ein eher unfreiwilliger Müller, fragt sich, was die Welt zusammenhält und sucht in der Astrologie Ursachen für Krankheiten und Phänomene. Dieses Verhalten bleibt der Kirche nicht verborgen und so wird er schließlich als Hexer hingerichtet. Tyll und seine kleine Freundin Nele versuchen, sich zusammen durchzuschlagen, doch landen bei einem ausbeuterischen, brutalen Gaukler, der sie in eine harte Schule seiner Kunst und des Lebens schickt. Sie werden Schausteller und obwohl sich zwischen Tyll und Nele eine zarte Liebe entspinnt, wird angedeutet, dass Tyll – ob körperlich oder mental – zu einer solchen Beziehung nicht fähig ist.
Hörbuch: Der Argon Verlag brachte ebenfalls im Mai 2017 die Hörbuchausgabe von »Tyll« (ISBN: 978-3839816042) zum Glück in ungekürzter Form heraus. Sie finden das Hörbuch aus 9 CDs mit einer Gesamtlaufzeit von 11 Stunden, 16 Minuten hier. Sprecher ist der beliebte Schauspieler Ulrich Noethen, der Kehlmanns Tyll auf unnachahmliche Weise zum Leben erweckt.
Leider verzichtet der Argon Verlag inzwischen auf die Hinterlegung jeglicher Album-Angaben in den Tracks wie z. B. die Kapitelnennungen. Eine Begründung des Verlags ist, dass Hörer in einigen Fällen Probleme mit der jeweiligen Abspielsoftware hatten. So allerdings ist die Orientierung beim Wiedereinstieg mühsam – wenigstens das Booklet erleichtert dies, in dem die Tracks dort den Buchkapiteln zugeordnet sind.
Neben Tyll selbst ist der junge Schriftsteller Martin von Wolkenstein – hier meistens der dicke Graf genannt – eine besondere Figur für mich. Er ist zu weich für die Härte, Kälte, Grobheit des Kriegs und der Zeit. Sein Verlangen, den Krieg zu erleben, wird schon bald von ungeheurem Ekel und Abscheu abgelöst. Alpträume plagen ihn bis zu seinem Lebensende, doch sie sind von der Art, dass er sie weder in seinen Memoiren festhalten noch mit einem anderen Menschen darüber sprechen kann:
»Der Dragoner Franz Kärrnbauer legte mit dem Karabiner an und schoss. Und obgleich der dicke Graf bald darauf noch viel mitansehen würde, sollte er sein Lebtag nicht vergessen, welch ein Schrecken ihn bis ins Innerste durchfuhr, als der Kopf des Vogels platzte. Etwas daran war fast unbegreiflich – wie schnell das ging, wie sich von einem Moment zum nächsten ein fester kleiner Kopf in ein Aufspritzen und in nichts verwandelte und wie das Tier noch ein paar Watschelschritte machte und dann zu einem weißen Gebilde zusammensank, in einer wachsenden Pfütze Blut. Während er sich die Augen rieb und versuchte, ruhig zu atmen, um nicht ohnmächtig zu werden, beschloss er, dass er es unbedingt vergessen musste. Aber natürlich vergaß er nicht, und als er sich ein halbes Jahrhundert später bei der Abfassung seines Lebensberichtes an diese Reise erinnerte, war es das Bild des zerplatzten Gänsekopfes, das an Deutlichkeit alles andere überstrahlte.«
»Zusmarshausen« / Seite 189
Fazit: Wer sich den grausamen Schilderungen des größten europäischen Glaubenskrieges bei Grimmelshausen oder Döblin ersparen will oder sich dem schlicht verweigert, liest bei Kehlmann genug vom Krieg, um von der merkwürdigerweise manche Menschen überfallenden Kriegslust für alle Zeit satt zu sein. Insbesondere die innere Verrohung der Bevölkerung durch die jahrzehntelang andauernden Gewalttaten in Verbindung mit dadurch ausgelöstem Aberglauben werden deutlich herausgearbeitet. Ist der legendäre Schelm hier zwar nicht auf die Weise Hauptfigur, wie der Titel es erwarten lässt, so ist es doch Tyll, der das Buch zusammenhält und dem Erleben des kriegerischen Wahnsinns noch eine Spur Humor verleiht. Meistens ist der Roman allerdings sehr ernst und vielfach sehr traurig. Wer zwischen den Zeilen zu lesen vermag, dem können die Bezüge zu heute nicht verborgen bleiben. Menschen die gegen den Strom schwimmen, anders denken als die Masse, werden noch immer ausgegrenzt, diffamiert und im schimmsten Fall sogar auf die eine oder andere Weise vernichtet.
Daniel Kehlmanns »Tyll« ist ein intensives Erlebnis. Mystisch, humorvoll, wenn auch bitter, traurig, doch hoffnungsvoll, bemerkenswert durchdacht und dennoch nie gekünstelt und alles in einer Sprache, die süchtig macht. Kehlmann schreibt wie im Rausch gegen den Krieg, gegen jede Form der Gewalt, gegen Aberglauben und Vorurteile. Sein Text fließt nur so dahin, entfaltet einen Sog, der Lust macht, sich den Roman gleich nochmals als Hörbuch vorlesen zu lassen.
Gerade diesen Roman hätte ich mir in Leinen gebunden gewünscht. Ich werde ihn sicher mehr als einmal zur Hand nehmen, denn »Tyll« ist ein wirklich großer Roman, der die Zeit überdauern wird.
Daniel Kehlmanns Roman »Tyll« ist im Oktober 2017 für EUR 22,95 im Rowohlt Verlag erschienen – gebunden, 480 Seiten, ISBN 978-3498035679.
Wer in den Roman reinlesen möchte, findet hier eine Leseprobe.
Über den Autor: Daniel Kehlmann, 1975 in München geboren, unterrichtet derzeit an der New York University und ist Fellow am Cullman Center for Writers and Scholars der New York Public Library.
Für sein Werk wurde er unter anderem mit dem Candide-Preis, dem WELT-Literaturpreis, dem Per-Olov-Enquist-Preis, dem Kleist-Preis und dem Thomas-Mann-Preis ausgezeichnet.
Sein Roman »Die Vermessung der Welt« ist zu einem der erfolgreichsten deutschen Romane der Nachkriegszeit geworden. Die New York Times führte »Die Vermessung der Welt« am 15. April 2007 an zweiter Stelle der weltweit meistverkauften Bücher des Jahres 2006. Bis Oktober 2012 wurden allein in Deutschland 2,3 Millionen Exemplare verkauft. Der Roman wurde in vierzig Sprachen übersetzt und hat bisher eine weltweite Auflage von etwa 6 Millionen Exemplaren.
Verfilmt wurden bisher folgende Romane Daniel Kehlmanns »Die Vermessung der Welt«, »Ruhm« und »Ich und Kaminski«.
Laila Mahfouz, 29. Januar 2018
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