Lesung am 29. September 2017 in der Buchhandlung Lüders in Hamburg: Édouard Louis stellte seinen zweiten Roman »Im Herzen der Gewalt« / »Histoire de la violence« vor.
Handlung (Verlagstext): Auf der Pariser Place de la République begegnet Édouard in einer Dezembernacht einem jungen Mann. Eigentlich will er nach Hause, aber sie kommen ins Gespräch. Es ist schnell klar, es ist eine spontane Begegnung, Édouard nimmt ihn, Reda, einen Immigrantensohn mit Wurzeln in Algerien, mit in seine kleine Wohnung. Sie reden, sie lachen, aber was als zarter Flirt beginnt, schlägt um in eine Nacht, an deren Ende Reda Édouard mit einer Waffe bedrohen wird.
In Begleitung seines Übersetzers Hinrich Schmidt-Henkel stellte Édouard Louis sein neues Buch bei einer ausverkauften Lesung in der Buchhandlung Lüders vor.
Nach seinem international erfolgreichen Debütroman »Das Ende von Eddy« begann der französische Bestsellerautor die Romanarbeit an einer Liebesgeschichte, um für sich und seine Leser einen Kontrast zu der harten Realität aufzuzeigen, die er in seinem Erstling verarbeitete.
Als am 24. Dezember eine Liebesnacht mit einem Fremden plötzlich umschlug, Louis mit einer Waffe bedroht, geschlagen, gewürgt und vergewaltigt wurde, änderte er seine Pläne und setzte sein autobiographisches Schreiben mit seinem neuen Roman »Im Herzen der Gewalt« / »Histoire de la violence« fort. Er verspürte eine unmittelbare Dringlichkeit, von der Gewalt zu erzählen. Allerdings war für ihn das Schreiben keine Therapie, wohl aber schreibe er, um zu verstehen, wie er sagte. Seiner Meinung nach gibt es noch zu wenige Autoren, die über so wichtige Themen schreiben wie über Flüchtlinge, die wir ertrinken lassen, Afroamerikanern, die in den USA von der Polizei erschossen werden oder Regierungen, die Menschen wegen Homosexualität oder ihrer Religionszugehörigkeit ermorden.
Édouard Louis thematisiert in seinem neuen Roman viele brennende Themen wie Migration, Rassismus oder auch die harmlos wirkende, da nicht sichtbare emotionale Gewaltausübung. Lange haderte er mit sich, da er vermeiden wollte, dass sein Text als rassistisch gelesen werden könnte. Schließlich gelangte er zu der Erkenntnis, dass die Art zu schreiben, Rassismus ausmacht und nicht das Thema selbst.
Auf detaillierte und eindringliche Weise, mit geschickt gearbeiteten Wiederholungen, welche die Auswirkungen der Tat ebenso verdeutlichen wie die Unmöglichkeit, diese zu vergessen, erzählt Édouard Louis von den Geschehnissen einer Nacht, die sein Leben dramatisch veränderte.
»Und ich dachte auch – in ungeduldiger Erwartung der Zukunft, die das Ganze in gewisser Weise in die Vergangenheit verlegen, es verbannen und relativieren würde: In einer Woche denkst du: Jetzt ist es schon eine Woche her, komm schon, und in einem Jahr: Jetzt ist es schon ein Jahr her. […]
Ich bezog das Bett neu, Redas Geruch schien noch darin festzuhängen, also machte ich Kerzen an und brannte Räucherstäbchen ab; es genügte nicht; […] ich weichte die Kissenbezüge, die ich doch eben gerade gewaschen hatte, in Waschlauge ein, […] ich schrubbte […], wischte […], wienerte […]; ich konnte nicht aufhören, mich trieb eine dem Wahnsinn nahe Energie an.
Ich dachte: besser verrückt als tot.«
Kapitel 1 / Seite 8
Geschickt wird die Geschichte aus zwei Perspektiven erzählt: Einerseits erzählt Édouard Louis selbst, was ihm geschehen ist, was er gefühlt hat, wie die Welt und die anderen auf ihn gewirkt haben.
Andererseits lässt er die Stimme seiner Schwester erzählen, die sich seiner Geschichte bemächtigt, sie schonungslos und teilweise entstellt wiedergibt, während er hinter der Tür lauscht, sich nicht bewegen, sie nicht unterbrechen kann, weil ihr übergriffiges Verhalten für ihn fast die Tat wiederholt, ihn erneut zum wehrlosen Opfer macht.
Dieser Kniff lässt den Leser ganz nah an die Hauptfigur heranrücken, mit dem jungen Mann empfinden, der es kaum ertragen kann, wie sein Leben durch einen anderen Menschen ans Licht gezerrt und verdreht wird. Die Diskrepanz zwischen dem, was seine Schwester erzählt, und dem, an das er sich selbst erinnert, wird immer größer und macht das Buch zudem spannend. Haben wir es mit einem unzuverlässigen Erzähler zu tun oder bemächtigt sich die Schwester so sehr seiner Geschichte, dass sie kein Unrechtsbewusstsein bei der Verdrehung der Tatsachen empfindet?
Vor allem auch der Zwang, Reda bei der Polizei anzeigen und dort alles detailliert erzählen zu müssen, demütigt Louis schwer. Für ihn ist es fast so, als müsse ein Opfer von Gewalt die Tat zweimal erleben – erst körperlich und danach nochmals durch die Sprache. Als er es sich anders überlegen und seine Anzeige zurückziehen will, wird ihm verweigert, Reda zu verzeihen, was er als Verbot ansieht.
Obwohl jedem Gewaltopfer zu wünschen ist, das Erlebte so schnell es geht, hinter sich lassen zu können, so muss ich dennoch immer für die Meldung bei der Polizei plädieren. Hier geht es weniger um das Bestrafen oder Nicht-Verzeihen, als darum, weitere Straftaten zu vermeiden, zukünftige Opfer zu schützen. Wer Gewalt erlebt und sie nicht anzeigt, nimmt in Kauf, dass anderen Gewalt angetan wird!
Das Vorgehen der Polizei, wie es im Buch geschildert wird, ist allerdings absolut nicht zeitgemäß und sollte dringend geändert werden. Gern stelle ich mir die positiven Auswirkungen auf die Gesellschaft im Fall von mehr Budget für eine direkte psychologische Betreuung von Opfern und Tätern vor.
Übrigens wurde Reda bald nach Veröffentlichung des Romans wegen eines Drogendelikts verhaftet, leugnete jedoch die Vergewaltigung und klagte Édouard Louis und seinen Verlag wegen Verletzung des Persönlichkeitsrechts an, so dass Louis schließlich seine Anzeige doch zurückzog, um nicht in einem Vergewaltigungsprozess aussagen zu müssen. Auf diese Weise wurde ihm zum wiederholten Mal Gewalt angetan. Seine zurückhaltende, leicht paranoide Art ist daher wirklich allzu verständlich.
Der therapeutische Ansatz des Umgangs mit dem Geschehnis, wie er im nächsten Zitat geschildert wird, ist in meinen Augen der richtige Weg und macht es möglich, zu verarbeiten, was geschehen ist und das eigene Leben so gut es nur geht weiterzuleben.
»Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass der Autismus derer, die die Vergangenheit vergessen wollen, ebenso schrecklich ist wie derjenige derer, die diese Vergangenheit nicht loslassen können, ich habe gelernt, dass es nicht um Vergessen oder Nichtvergessen geht, dass dies eine trügerische Alternative ist, […] der einzige Ausweg besteht darin, eine Form des Erinnerns zu erlangen, die die Vergangenheit nicht wiederholt, und daran arbeite ich seit jenem 24. Dezember oder jedenfalls dem Morgen danach, […] ich versuche, eine Erinnerung zu konstruieren, die mir erlaubt, mich der Vergangenheit zu entledigen, die sie mit ein und derselben Bewegung vergrößert und zerstört, eine Erinnerung, die dafür sorgt, dass ich mich, je mehr ich mich erinnere und mich in den Bildern auflöse, die mir geblieben sind, umso weniger in ihrem Mittelpunkt befinde.«
Kapitel 13 / Seite 172 + 173
Neben den verschiedenen Formen der Gewalt, die Louis beschreibt, ist der Roman auch eine Geschichte über Freundschaft. Nachdem Édouard Louis die Provinz verlassen und sich in Paris niedergelassen hat, finden seine Freunde, der Journalist, Autor, Soziologe und Philosoph Didier Eribon und Geoffroy de Lagasnerie, ebenfalls Philosoph und Soziologe, sich zu einer Art Wahlverwandtschaft zusammen. Seine Freunde sind es, die Louis auch nach den schrecklichen Geschehnissen der Weihnacht Halt geben.
Doch Édouard Louis ist auch ein politischer Autor, den es schon in seiner Kindheit ärgerte, dass das Leben, das seine Familie führte, in der Literatur nicht vorkam. Nun schreibt er über die Leben derer, von denen sonst kaum jemand spricht, denn so sagt Louis: »Wenn Literatur nichts verändern will, ist es keine Literatur« und »Ein Buch sollte dort Licht ausstrahlen, wo die Gesellschaft Schatten wirft«. Bei der Lesung berichtete der Franzose über sein Verhältnis zur Politik:
»Politik ist so wichtig für mich, weil ich um die körperliche Bedeutung der Politik auf die Leben der ärmeren Bevölkerung weiß. Front National oder AFD existieren ja erst durch die Ausgrenzung bestimmter Bevölkerungsgruppen. […] Die Diskussion über Politik war für mich mit Kommilitonen unmöglich, weil für die anderen Politik abstrakt blieb und für mich ganz konkret war. […] Das Schamgefühl der Mächtigen gegenüber den Beherrschten ist verschwunden. Die Beschimpfung der Armen zum Beispiel als Nichtstuer ist inzwischen gesellschaftlich akzeptiert.«
Während seiner Lesereisen hat Édouard Louis noch nie Publikumsfragen zugelassen. Da er sich in der Buchhandlung Lüders jedoch sehr wohl fühlte, hat er erstmals Fragen aus dem Publikum erlaubt.
Die Frage, wo für ihn die Grenze des Verzeihens läge, beantwortete er wie folgt:
»Wirklich verzeihen kann man nur das Unverzeihliche. Das Verzeihliche muss man nicht verzeihen. Es hat mir geholfen zu verzeihen und es hat mich verletzt, dass der Staat mir dies nicht offiziell erlaubte. Verzeihen bedeutet nicht, es zu negieren, aber wenn ich verzeihen will, muss ich es auch dürfen.«
Zu seiner amtlich anerkannten Namensänderung von Eddy Bellegueule zu Édouard Louis erklärte der Autor:
»Ich konnte durch das Schreiben ein Anderer werden.
Je mehr man sich selbst kennt, desto mehr kommt man in den Zustand, sich verändern, transformieren zu können. […]
Nach dem traumatischen Erlebnis mit Reda war ich total durchgedreht, verließ Paris und kehrte erst einmal in meinen Heimatort zurück.
Allerdings war das nicht wirklich ich. Ein Eddy Bellegueule war damals gegangen und ein Édouard Louis war mit all den Privilegien – als ein Anderer, mit anderer Sprache – zurückgekommen.«
Fazit: Édouard Louis hat etwas zu sagen und macht dies auf eine ungewöhnliche, aufwühlende und doch, durch die in die Handlung immer wieder einfließenden Reflektionen, unaufgeregte Art. Sein Roman »Im Herzen der Gewalt«
ist trotz seiner schwerverdaulichen Thematik ein Buch der leisen Töne, das ohne Effekthascherei auskommt und seine Leser ganz nah heranführt an den Schmerz seines Protagonisten. Es ist ein wirkliches Plädoyer für Pazifismus, Toleranz und Empathie.
Mit Spannung erwarte ich nun, was von diesem jungen Franzosen in Zukunft noch zu lesen sein wird.
Édouard Louis‘ Roman »Im Herzen der Gewalt« (Originaltitel: »Histoire de la violence«) ist in der Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel im August 2017 für EUR 20,00 im S. Fischer Verlag erschienen – gebunden, 224 Seiten, ISBN 978-3103972429.
Wer in den Roman reinlesen möchte, findet hier eine Leseprobe.
Über den Autor: Édouard Louis wurde 1992 in Hallencourt geboren. Sein autobiographischer Debütroman »Das Ende von Eddy«, in dem er von seiner Kindheit und Flucht aus prekärsten Verhältnissen in einem französischen Dorf erzählte, sorgte 2015 für großes Aufsehen. Das Buch wurde zu einem internationalen Bestseller und machte Louis zum literarischen Shootingstar. Sein zweiter Roman »Im Herzen der Gewalt« erscheint in über 20 Sprachen und wird verfilmt. Édouard Louis lebt in Paris.
Laila Mahfouz, 25. Januar 2018
Links:
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