Lesung am 11. September 2017 im Literaturhaus Hamburg: An der Seite seiner Übersetzerin Beatrice Faßbender und dem Autor Ingo Schulze, der den Abend moderierte, stellte Eliot Weinberger seinen neuen Essayband »Vogelgeister« / »The Ghost of Birds« vor.
Anfang September 2017 ist mit »Vogelgeister« / »The Ghosts of Birds« endlich der neue Essayband von Eliot Weinberger im Berenberg Verlag erschienen. Bei der Lesung im Literaturhaus Hamburg erlebte das Publikum einen ebenso ernsten wie humorvollen Entdecker der Welt, der Wunder und Magie überall in seiner Umgebung aufspürt. In dieser Fortsetzung seiner Sammlung »Das Wesentliche« vermischen sich die Zeiten und Kulturen. Eliot Weinberger sammelt Bruchstücke der Kulturgeschichte der ganzen Welt und gibt diese auf seine besondere Weise wieder. Inspirieren lässt er sich von allem, was seine Aufmerksamkeit erregt.
»Whatever I happen to come across may end up in the essay.«
Der Freigeist Weinberger ist vielseitig interessiert und fast immer unterwegs zu einem exotischen Reiseziel. Er sammle Fakten, so Weinberger, und erzähle sie dann neu, was die Freude daran ausmache. Kopieren würde er fast nie. Was dabei herauskommt, ist tatsächlich neu, denn er entlarvt menschliche Rituale, Glauben, scheinbares Wissen und Intentionen. Weinbergers Art, hinter die Fassaden der Dinge, der Geschichten zu schauen, macht seine Texte so unverwechselbar.
Eliot Weinberger ist wirklich ein Poet unter den Essayisten. Schubladendenken ist ihm fremd und obwohl manche seiner Texte mehr Gedichten, andere mehr Kurzprosa ähneln, sind es laut Weinberger Essays, weil er sie so nennt. Und natürlich hat er recht damit, lassen sich doch hinter seinen Texten zahlreiche Bedeutungen erahnen. Entdeckt der Leser den doppelten Boden, ist es schon zu spät, er wird angezogen von der schieren Bodenlosigkeit, denn die Ebenen darunter sind unendlich und bringen nochmals zum Staunen. Wie ist es möglich, mit so wenigen Worten, so viel Ungesagtes zum Leben zu erwecken? Das kann wahrlich nur ein Meister seines Fachs.
»They are essays because I call them essays
but I have been inspired more by poets than by other essays.«
Zu dem titelgebenden Text »Vogelgeister« / »The Ghost of Birds« wurde Eliot Weinberger durch die Gemälde des neuseeländischen Maori-Künstlers Shane Cotton inspiriert. Die Bilder und Texte erzählen von Vogelarten, die vielfach heute schon ausgestorben sind und sonst nur noch in den Legenden der Ureinwohner Neuseelands fortbestehen, so dass heute leider menschliche Stimmen vorherrschen, wo einst Vogelgezwitscher erklang. Weinberger verleiht jedem seiner Vogelgeister eine eigene Stimme, die melancholisch und unbeschreiblich eindringlich durch die Nebel des Meeres zu uns herüberklingt.
»Im Sturm, die Klippen entlang,
hocken sie, schweben, stürzen, gekrümmt:
die Vögel
und rufen ihre eigenen Namen […]
Koekoeeeeeä pfeift der Koekoeä,
der Langschwanzkuckuck,
der nur bei Nordwind oder Westwind singt.
Hoch oben, segelnd:
Vögel in »einem Raum, den niemand je gesehen«. […]
Keine menschliche Stimme war zu hören, nur das Gezwitscher der Vögel.«
»Vogelgeister« / Seite 106 + 111
Zwanzig verschiedene Menschen namens Chang hat Eliot Weinberger in dem Essay »Träumende Changs« portraitiert, fast in Vergessenheit geratene Geschichten, Legenden und Nachrichten hat er auf seine Weise zum Leben erweckt und so auch für kommende Generationen konserviert. Mit seiner Auflistung von unterschiedlichen, überlieferten Todesarten des griechischen Gelehrten Empedokles führt er uns deutlich vor Augen, dass das, was wir Geschichte nennen, mehr Dichtung als Wahrheit ist. Weinberger jongliert mit Rätseln, Widersprüchen, Andeutungen, Unwahrheiten, Geheimnissen im scheinbar Wahrhaftigen, so stellt sich der Leser immer wieder die Frage, ob all diese Dinge wirklich aus von Weinberger aufgetanen Quellen stammen oder ob hier und da Weinbergers Phantasie die Feder geführt hat. Fest steht, dass sich seine Texte nur dem erschließen, der bereit ist, sich ihnen zu öffnen. Wer Wissen in Sachtextform verpackt erwartet, wird Weinberger ebenso wenig verstehen wie die Menschen am Fluss den buddhistischen Meister Sheng Kung.
»Meister Sheng Kung, der berühmte buddhistische Mönch, predigte an einem Fluss am Fuße des Bergs Hu-ch’iu. Tausend Menschen nahmen teil, und keiner von ihnen konnte verstehen, was er sagte. Die ungeschliffenen Steine im Fluss aber erhoben und verneigten sich vor ihm und nickten zur Antwort.«
»Ein Steinkalender« / Seite 69
Übersetzung: Übersetzte Peter Torberg noch die beiden ebenfalls im Berenberg Verlag erschienenen Bücher Eliot Weinbergers »Das Wesentliche« (2008) und »Orangen! Erdnüsse!« (2011), hat nun Beatrice Faßbender für die Essaysammlung »Vogelgeister« diese Aufgabe übernommen. Ihre federleichten, poetischen Übersetzungen sind äußerst gelungen, inhaltlich umfänglich und tragen sicher dazu bei, dass noch mehr Leser Eliot Weinberger für sich entdecken. Meiner Meinung nach ist Beatrice Faßbender mit der eindeutig schwierigen Übersetzung von »The Ghosts of Birds« etwas wirklich Großes gelungen.
Neckend erklärte Weinberger im Literaturhaus, seine charmante Übersetzerin sei ein Alptraum, weil sie stets seine Fehler in den Texten entdecke. Anschließend lobte er ihre Professionalität und äußerte verschmitzt die Vermutung, ihre Texte müssten wunderbar sein, da sich seine Bücher in Deutschland viel besser verkauften als in den USA.
Obwohl Beatrice Faßbender und Ingo Schulze (auf dem nächsten Foto) als Übersetzer und Moderatoren des Abends gereicht hätten, wurde noch Martje Postma als Übersetzerin hinzugezogen. Es wäre hilfreich gewesen, ihr den Ablauf so einer Veranstaltung im Vorfeld zu erläutern, denn ihre Art, Eliot Weinberger permanent ins Wort zu fallen, um eine Art Simultanübersetzung zu versuchen, war ebenso unerträglich wie ihre abenteuerliche Übersetzung selbst, die Gesagtes verdrehte, unzutreffend wiedergab oder teilweise Wichtiges gänzlich ausließ. Seien wir froh, dass sie mit der Übersetzung des Buches nichts zu tun hatte.
Wer zwischen den Zeilen zu lesen versteht, entdeckt auch Gesellschaftskritik, versteckt in vielen Essays. Richtig politisch wurde Eliot Weinberger 2005 in seinem Prosagedicht [»What I heard about Irak«] (einem Bestandteil des Buches »What Happened Here: Bush Chronicles«), in dem Weinberger Zitate amerikanischer Politiker (Cheney, Rumsfeld, Bush, Rice) als eine peinliche Abfolge von Lügen und reinen Behauptungen entlarvte, auf die der Irak-Krieg begründet ist. Sein Text, der seinen Finger am Puls der Zeit hatte, verbreitete sich rasch im Internet, wurde auf Theaterbühnen aufgeführt und vorgelesen. Seine poetische Dokumentation wurde in 30 Sprachen übersetzt. Dass daraus auch bei deutschen Demonstrationen zitiert wurde, macht den Amerikaner stolz:
»The best part was where Bush visited Germany and Angela Merkel showed him [Stralsund] and the people where protesting against him and were quoting from my book »What I heard about Irak«.«
Fazit: Archäologe war in seiner Kindheit Eliot Weinbergers Traumberuf und auf seine eigene Weise hat er sich diesen Traum erfüllt. Der Essayband »Vogelgeister« / »The Ghosts of Birds« entstand langsam wie alle seine Texte. Wenige Sätze schafft er am Tag, so braucht ein Essay Monate und ihm gehen immer Reisen und Recherchen voraus. Weinbergers Neugier erstreckt sich auf die ganze Welt. Überall findet er Zahlen, Fakten, Anekdoten, die nur darauf warten, von ihm neu erfunden zu werden. Vor unseren staunenden Augen werden seine Fundstücke zu magisch funkelnden Geschichten, wie sie so noch nie erzählt wurden. Riesige Pferde, magische Steine, vergessene Kriege, geheimnisvolle Inseln, träumende Changs und die Geisterstimmen verstorbener Vögel bevölkern diesen Essayband. Jeder Satz birgt Stoff für eine ganze Erzählung. Eliot Weinberger aber verknappt, verdichtet seine Prosa, die gleichwohl alles sagend den Raum füllt. Poetisch und doch voller Wissen über die Welt und ihre eigenartigen Geschöpfe.
Nico Bleutge nennt Eliot Weinberger „eine Art Zen-Meister der Essayistik“ – treffender lässt sich dieser Mann kaum beschreiben. Lassen Sie sich darauf ein, die Essays von Eliot Weinberger für sich zu entdecken! Sicher werden Sie ihnen verfallen, über die Neuentdeckung unserer Welt staunen und einen weiteren Essayband von Eliot Weinberger auf Ihre Wunschliste setzen.
»Es gibt Dinge, die haben eine Gestalt, aber keinen Klang, so wie Steine; andere haben einen Klang, aber keine Gestalt, so wie der Wind oder Donner; andere haben Klang und Gestalt, so wie Menschen und Tiere; und schließlich git es eine Abteilung von Dingen, die weder Klang noch Gestalt haben, so wie Geister.«
»Ein Steinkalender« / Seite 83
Eliot Weinbergers Essayband »Vogelgeister« (Originaltitel: »The Ghost of Birds«) ist in der Übersetzung von Beatrice Faßbender im September 2017 für EUR 22,00 im Berenberg Verlag erschienen – gebunden, 160 Seiten, ISBN 978-3946334224.
Wer in die Essays reinlesen möchte, findet hier eine Leseprobe.
Über den Autor: Eliot Weinberger wurde 1949 in New York City geboren, wo er auch heute lebt, wenn er nicht gerade wieder die Welt bereist. Bereits im Alter von 19 Jahren veröffentlichte er seinen ersten Band mit Übersetzungen von Gedichten des späteren Nobelpreisträgers Octavio Paz. Seit 1970 folgten zahlreiche Übersetzungen aus dem Spanischen (u.a. Octavio Paz, Jorge Luis Borges, Vicente Huidobro) sowie aus dem Chinesischen (Bei Dao). Für seine Edition der »Selected Non Fictions« von Jorge Luis Borges erhielt er den National Book Critics Award. 1992 wurde er für seinen Beitrag zur Förderung hispanischer Literatur in den USA zum ersten Preisträger des PEN/Kolovakos Awards ernannt. 2000 verlieh ihm die mexikanische Regierung als erstem Nordamerikaner überhaupt den höchsten mexikanischen Staatspreis, den Azteken-Adler. In Deutschland erschienen unter anderem 2003 der Essayband »Kaskaden« (Suhrkamp) und 2005 das politische Prosapoem »Was ich hörte vom Irak«. Bei Berenberg erschien 2008 die Essaysammlung »Das Wesentliche«, 2011 »Orangen! Erdnüsse!« und 2017 dann »Vogelgeister«.
Laila Mahfouz, 11. Januar 2018
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