J. L. Carrs Kurzroman »Ein Monat auf dem Land« / »A Month in the Country« war die Wiederentdeckung 2016. Dass der schon 1980 im Original veröffentlichte und für den Booker-Preis nominierte Roman erst im vergangenen Jahr als deutsche Erstausgabe erschien, ist unverständlich und doch ist sie in ihrer sprachlichen Leichtigkeit und heilenden Wirkung so zeitlos, dass die Lektüre immer ein Gewinn sein wird.
Sommer 1920 im nordenglischen Oxgodby – Als auf dem Bahnhof ein Londoner aus dem Zug steigt, weiß gleich das ganze Dorf Bescheid: Er ist der Restaurator, der das mittelalterliche Wandgemälde in der örtlichen Kirche freilegen soll. Doch was steckt hinter der Fassade des stotternden und unter chronischen Gesichtszuckungen leidenden Mannes? Tom Birkin hat im Ersten Weltkrieg gekämpft, als traumatisierter Veteran wurde er von seiner Frau verlassen. Er hofft, in der Ruhe und Einfachheit Yorkshires zu gesunden. Und tatsächlich: Je näher er dem Meisterwerk hinter der Kirchendecke kommt, desto näher kommt er auch sich selbst. Und seinen Mitmenschen. Langsam gelingt es ihm, sich der Welt um sich herum zu öffnen, vielleicht sogar der Liebe. Der Monat auf dem Land ist ein Monat der Heilung. Was Birkin hier erlebt, wird er sein Leben lang mit sich tragen…
»Ich […] begab mich ans Fenster und blickte durch die Dunkelheit zu den verstreuten Lichtern des Dorfs, die im Regen glitzerten. Gut, dachte ich, das hier ist für die nächsten paar Wochen mein Zuhause; und ich kenne keine Menschenseele, und niemand kennt mich. Ich hätte ebenso gut ein Marsmensch sein können.«
Seite 25
»I crossed to the window and looked across the darkness to the village’s scattered lights glittering through the rain. Well, I thought, this is home for a few weeks; and I don’t know a soul and no-one knows me. I might as well be a man from Mars.«
Seite 11
Im Zentrum seiner Erzählung steht der Restaurator Tom Birkin, der als Funker den Ersten Weltkrieg überlebt hat. Birkin ist erst Mitte zwanzig, doch quält ihn als Folge des Kriegs ein Trauma, das sich in Stottern, Gesichtszucken und Alpträumen äußert. Entgegen Birkins Vorstellung, sich als Londoner wie ein Marsmensch zu fühlen oder so behandelt zu werden, fügt er sich rasch in das Dorfleben ein. Fast scheint es, als würden seine Bewohner ihn nicht nur integrieren, sondern absorbieren. Er löst sich im Dorf auf, als wäre er schon immer einer seiner Bestandteile gewesen. Auch die anfänglichen Vorbehalte der Yorkshire Dörfler gegenüber einem gebildeten Engländer aus dem Süden verschwinden sehr rasch, da Birkin keine Ansprüche stellt, ein psychisch versehrter Kriegsveteran ist und sich ansonsen als angenehmer Zeitgenosse entpuppt.
Das Wandgemälde zwischen Chorbogen und Dachbalken ist nicht irgendeines. Das Jüngste Gericht soll Tom Birkin freilegen und zu neuem Leben erwecken. Durch seine Hände erscheinen vor seinen Augen Himmel und Hölle. Hier fühlt er sich an das Schlachtfeld des Krieges erinnert, doch aus seinem persönlichen Schützengraben hilft ihm diese Arbeit mehr als alles andere heraus. Mit Entfernung jeder Schicht Drecks und über das kirchliche Fresko getünchter Farbe heilt seine Seele ein Stück mehr. Seine Ticks werden immer weniger und obwohl er noch oft an den Krieg denken muss, hat die Schönheit der Natur und die Einfachheit des ländlichen Lebens mit ihrer heilenden Wirkung ihn aus seinem Tief gerettet, in dem er zeitweise zu versinken drohte. So hält er denn auch verzweifelt an seinem Glauben fest, dass Oxgodby eine andere Welt war, oder sein musste. Eine Welt, in der Schlechtigkeiten, wie er sie erlebt hatte, nicht passierten.
Natürlich war es nur Zufall, dass ich den Roman, der einen ganzen August auf dem Lande beschreibt, in diesem August in der Stadt gelesen habe, aber es hat zu der Wirkung des Gelesenen noch beigetragen. Sehr überrascht ist Tom Birkin über den Anblick eines Eichelhähers, den er bisher nur aus Büchern kannte. In solchen Szenen wird deutlich, dass London zu jener Zeit nicht zu vergleichen ist mit der heutigen immerhin fast zwei Millionen Stadt Hamburg, wo uns Eichelhäher, Reiher und alle möglichen anderen Tierarten ständig begegnen, vereinzelt Uhus und Adler brüten und sogar Kraniche Rast machen. Dennoch kann sich der heutige Städter sicher gut in Birkin hineinfühlen, denn die seit einigen Jahren zu beobachtende Sehnsucht nach Landleben ist vielfach auch eine Sehnsucht nach einem langsameren Vergehen der Zeit, nach einer Vergangenheit, die so viel mehr Ruhe in sich barg und nach Momenten die Raum lassen, um den Blick vom Display oder Monitor zu heben und sich umzuschauen. Wer »Ein Monat auf dem Land« liest, kann wenigstens für die Dauer der Lektüre die Erfahrung der Entschleunigung machen, die so wohltuend für Geist und Seele ist.
Beschrieben wird hier ein Idyll, das zeitlich nur acht Jahre nach seiner eigenen Geburt einzuordnen ist. Es kommen Figuren vor, die ihm persönlich oder durch die Erzählungen seines Vaters bekannt sind (Carrs Vater, der selbst Stationsvorsteher bei der North Eastern Railway war, wird z. B. zu Mr. Ellerbeck.). Dadurch wirken sie einerseits so lebendig und scheinen andererseits, fast einem für einen August aufgetauchten und in Yorkshire statt Schottland verorteten Brigadoon entsprungen zu sein. Und ebenso wie in der Legende des Dorfes, das nur einen Tag im Jahr aus den Nebeln der Vergangenheit auftaucht, muss Birkin sich in seinem heilsamen Glück fragen, was geschehe, wenn er einfach dort bliebe:
»Hätte ich mir dieses Glück bewahren können, wäre ich dort geblieben? Nein, vermutlich nicht. Menschen ziehen weg, werden älter, sterben, und der hehre Glaube, dass erneut etwas Wunderbares hinter der nächsten Biegung auf einen wartet, verblasst allmählich. Jetzt oder nie; wir müssen das Glück beim Schopfe packen.«
Seite 122
»If I’d stayed there, would I always have been happy? No, I suppose not. People move away, grow older, die, and the bright belief that there will be another marvellous thing around each corner fades. It is now or never, we must snatch at happiness as it flies.«
Seite 71
Joseph Lloyd Carr erklärt bereits im Vorwort seines beliebten Kurzromans »Ein Monat auf dem Land«, dass ihm für seinen Text etwas wie die ländliche Idylle aus Thomas Hardys »Under the Greenwood Tree« vorschwebte. Wie Hardy selbst, hat auch Carr sich dabei auf den Ort seiner Kindheit bezogen und so wurde »Ein Monat auf dem Land« zu einer so glaubhaften Lektüre, dass der Leser fast vergessen könnte, dass es sich um Fiktion handelt. Wie genau der 1912 geborene Carr das Leben im Dorf beschreibt, mit welchen Farben, Gerüchen und Geräuschen er seine Erzählung zu untermalen versteht, ist wirklich meisterhaft.
»Bevor ich mich schlafen legte, trat ich nochmals ans Fenster. Und tatsächlich – der erste Herbsthauch lag in der Luft, ein Gefühl der Verschwendung, des Sehnens, Nehmens und des Bewahrenwollens, bevor es zu spät ist. […]
Lange schaute ich aus meinem Fenster hinab; der Sommer war dem Herbst gewichten. Über Nacht hatte eine neue Jahreszeit eingesetzt.«
Seite 141 + 155
»Just before I bedded down I stood at the window. And he was right – the first breath of autumn was in the air, a prodigal feeling, a feeling of wanting, taking, and keeping before it is too late. […]
I looked down from the window for along time; summer and autumn had gone. During the night, the year had crossed into another season.«
Seite 83 + 91
Übersetzung: Alles in allem ist die Übersetzung geglückt. Wer des Englischen mächtig ist, wird anhand meiner Beispiele allerdings erkennen, dass Monika Köpfer ihre Worte nicht mit der gleichen poetischen Leichtigkeit wählte und der Text so in der deutschen Übersetzung ein wenig von seinem Zauber verloren hat. Wieder die Freiheiten anzusprechen, die sich Übersetzer nehmen, bin ich inzwischen schon fast müde. Wer beide Sprachen versteht, wird diese in den Bespielen zweifellos selbst entdecken können. Dennoch ist es ja die Geschichte, die zählt und diese gibt die Übersetzung, vor allem in den Dialogen, sehr gut wieder.
Fazit: Tom Birkin bleibt nicht in Oxgodby, wie schon am Anfang des Buches klar wird, aber es ist das warme Licht in seiner Erinnerung, das ihm seither hilft, sein Leben zu meistern. J. L. Carrs Kurzroman »Ein Monat auf dem Land« / »A Month in the Country« ist eine Lobrede auf die Natur und das einfache Leben. Hier wird ein Heilungsprozess beschrieben, wie ich ihn allen (Kriegs-)Traumatisierten oder von Burn-out gepeinigten wünschen möchte: inmitten der Natur zu sein, in einer Gemeinschaft warm aufgenommen zu werden und Befriedigung im Wert der eigenen Arbeit zu finden; so kann die Seele zur Ruhe kommen und sogar die größten Schrecken überstehen. Wer nicht diese Möglichkeiten hat, dem wünsche ich zumindest die Lektüre dieses Buches.
Joseph Lloyd Carrs Erzählung »Ein Monat auf dem Land« (Originaltitel: »A Month in the Country«) ist in der Übersetzung von Monika Köpfer im Juli 2016 für EUR 18,00 im DuMont Verlag erschienen – gebunden, 158 Seiten, ISBN 978-3832198350.
Wer in den Roman reinlesen möchte, findet hier eine Leseprobe.
Joseph Lloyd Carrs Erzählung »Ein Monat auf dem Land« (Originaltitel: »A Month in the Country«) wird in der Übersetzung von Monika Köpfer am 19. September 2017 für EUR 10,00 im DuMont Verlag als Taschenbuch erscheinen – 144 Seiten, ISBN 978-3832164317.
Über den Autor: Joseph Lloyd Carr wurde 1912 in der Grafschaft Yorkshire geboren und starb 1994 an Leukämie. Nachdem er jahrelang als Lehrer gearbeitet hatte, gründete er 1966 einen eigenen Verlag und verfasste insgesamt acht Romane. »Ein Monat auf dem Land« ist Carrs bekanntestes Werk und war 1980 für den Booker-Preis nominiert. Bei DuMont ist das Meisterwerk erstmals in deutscher Übersetzung erschienen.
Laila Mahfouz, 9. September 2017
Links:
Informationen auf den Seiten des DuMont Verlages finden Sie hier.
Weitere Informationen zu J. L. Carr finden Sie hier.
Informationen zu Laila Mahfouz finden Sie hier.
#Die Rechte des von uns gewählten Titelfotos liegen bei Brendan King / National Portrait Gallery, London.