»Das Nest« ist ein gut funktionierender Familienroman, der vier einander entfremdete Geschwister aufgrund eines zu erbenden Geldbetrages wieder näher zusammenrücken lässt, Probleme der Vergangenheit sichtbar macht und Gegenwart und Zukunft auf eine harte Probe stellt.
Die Autorin Cynthia D’Aprix Sweeney wirft die Frage auf, ob wir für den Platz geeignet sind, den wir innerhalb der Familie innehaben und falls nicht, ob und wie er sich verändern lässt.
Inhalt (dem Verlagstext entnommen): Als Kinder haben sie einander geneckt, als Erwachsene verbindet die Geschwister Melody, Jack, Beatrice und Leo Plumb nur noch eine gemeinsame Erbschaft. Mitten in der Finanzkrise brauchen alle dringend Geld. Melody, Hausfrau und Mutter, wachsen die Ausgaben für ihr Vorstadthäuschen und die Collegegebühren ihrer Töchter über den Kopf. Antiquitätenhändler Jack hat hinter dem Rücken seines Ehemanns das Sommerhaus verpfändet. Beatrice, erfolglose Schriftstellerin, will endlich ihr Apartment vergrößern. Doch kurz bevor das Erbe ausbezahlt wird, verwendet ihre Mutter es, um Playboy Leo aus einer Notlage zu helfen. Unfreiwillig wiedervereint, müssen die Geschwister sich mit altem Groll und falschen Gewissheiten auseinandersetzen. Aber vor allem müssen sie irgendwo frisches Geld auftreiben …
Viel wurde über Cynthia D’Aprix Sweeneys Roman »Das Nest« schon geschrieben. Sehr hoch wurde ihr Debüt gelobt und obwohl ich ungern in einen Kanon einstimme, kann ich doch kaum etwas an diesem Buch aussetzen. Die Handlung ist interessant, der Schreibstil verwunderlicherweise routiniert, die Dialoge geschliffen, die inneren Monologe glaubwürdig und der Humor kommt nicht zu kurz. Kaum zu glauben, dass es sich um ein Erstlingswerk handelt.
Cynthia D’Aprix Sweeney arbeitete viele Jahre als PR-Beraterin, doch mit etwa fünfzig Jahren wollte sie sich endlich ihren Traum erfüllen und Schriftstellerin werden. Sie folgte ihrer Berufung, absolvierte ihren Master of Fine Arts in Writing und nachdem ein Collegeprofessor ihr empfahl, aus ihrer Kurzgeschichte einen Roman zu machen, wurde daraus »Das Nest«. Ihr Debütroman stürmte die internationalen Bestsellerlisten und machte die Autorin zu Recht zu einem Shooting-Star der Literaturbranche.
Die handelnden Personen in »Das Nest« sind so fein gearbeitet wie von einem alten Hasen und das Schönste an ihnen ist, dass sie nicht schwarz-weiß gezeichnet sind. Jede Figur hat ihre Sonnen- und Schattenseiten und trotz (oder wegen) all ihrer Macken, Schwächen und teilweise groben Charakterlosigkeiten ist es unmöglich, sie am Ende nicht zu mögen.
»Melody sackte auf einmal in sich zusammen und fing an zu weinen. […]
„Tut mir leid“, sagte sie endlich. „Ist gleich wieder gut. […]
Ich bin zwar pleite, und wir müssen unser Haus verkaufen und den Mädchen erzählen, dass kein Geld fürs College da ist, außerdem sind wir offenbar mit einem Soziopathen verwandt …“ Die Tränen flossen wieder. Mit erstickter Stimme fuhr sie fort: „Aber bestimmt ist gleich wieder alles gut!“«
Kapitel 36 / Seite 337
Erstens ist da Leo, der aufgrund seiner charismatischen Ausstrahlung schon als Kind jeden um den kleinen Finger wickeln konnte, was seinen Charakter grundlegend verdorben hat.
Der Zweite ist der ebenso risikofreudige und luxusliebende Jack, der allerdings nicht Leos Überzeugungskraft besitzt und dessen Glück und Rettungsanker sein geerdeter, liebenswerter Ehemann Walker ist – der eindeutig netteste Mensch in dieser Geschichte.
Beatrice ist Schriftstellerin mit einer jahrelang andauernden Schreibblockade und dem unsäglichen Hang, ihren Bruder Leo anzubeten und sich auf ihn verlassen zu wollen.
Die Jüngste ist Melody, deren unterkühltes Elternhaus sie süchtig nach einem harmonischen Familienleben gemacht hat. Sie würde für ihre Zwillingstöchter alles tun, schießt aber öfter am Ziel vorbei.
Doch ist alles so einfach? So mancher erweist sich anders, als zuvor angenommen.
Leo ist zwar ein Egoist wie er im Buche steht, doch wurde ihm nie beigebracht, Verantwortung für seine Taten zu übernehmen. Als sich für ihn eine zweite Chance auftut, lässt Cynthia D’Aprix Sweeney Leos Potenzial aufblitzen. Er könnte anders sein, ein netterer Mensch, einer, der sich auch um andere kümmert und der nicht zuerst an sich denkt. Doch er vergeudet den magischen Moment, erkennt die Chance nicht und fällt in seine alten Muster zurück. Oder ist es am Ende doch noch möglich, dass Leo sich ändert? Die Autorin lässt durchaus Spielraum für eine Fortsetzung.
Jack ist zwar reflektierter, erkennt irgendwann seine Fehler, will sich bessern, doch eventuell ist es auch für ihn schon zu spät dafür.
Beatrice versucht, auf eigenen Beinen zu stehen und obwohl noch wacklig, nimmt sie allen Mut zusammen.
Die von den anderen als bieder, zerbrechlich und weltfremd eingeschätzte Melody, sorgt für die wohl größte Überraschung, dabei könnte, wer zwischen den Zeilen lesen kann, ihre Willensstärke und ihre Zähigkeit erkennen.
Und genau das ist für Cynthia D’Aprix Sweeney der Kern des Romans, wie sie in einem Interview erklärte – dieser Platz, den wir in einer Familie einnehmen, der uns in die Wiege gelegt wurde, ob er uns gefällt oder nicht. Wir werden in diese Familiengeschichte hineingeboren und zu uns selbst zu finden, ist oft ein lebenslanger, schwieriger Prozess. Was, wenn die Rolle, die uns in der Familie zugedacht ist, nicht zu unserem Charakter passt und wir unser ganzes Leben versuchen, ihr zu entsprechen? Wie sehr doch die Eigenwahrnehmung von dem Bild, das andere von uns haben, abweichen kann und wie schwierig es ist, sich zu behaupten, zur eigenen Persönlichkeit zu stehen. In »Das Nest« wird dies meisterhaft und auf unterhaltsame Weise von der Autorin vorgeführt.
Interessant ist besonders die psychologische Sicht auf die Familie Plumb. Jeder der vier Geschwister rechnet fest mit dem Geldsegen, der mit Melodys 40. Geburtstag kommen wird und so ein finanzielles Polster macht risikofreudig. Doch was kommt nach dem Fall aus dem gemachten Nest? Fast alle haben inzwischen schon Omeletts mit ungelegten Eiern gemacht, indem Sie Geld ausgaben, das sie noch nicht hatten. Das Erbe schien ihnen so sicher, dass alle sich darauf verlassen haben. Dass sie das Geld Nest nennen, ist schon fast pathologisch, denn ein Nest war ihr Zuhause leider nie und auch die Geschwister waren einander in ihrem späteren Leben nicht nah, so dass das Nest, aus dem sie stammen, ihre einzige Verbindung darstellt. Nur das Geld und die Angst, es zu verlieren, bringt die Geschwister wieder an einen Tisch.
»Walker konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal Jacks Familie eingeladen hatten. […] Es juckte ihn in den Fingern, sie alle an einen Tisch zu setzen und irgendwie in die Wege zu leiten, dass sie eine Vereinbarung wegen dieses verdammten Geldbetrages trafen, den sie immer noch das Nest nannten, was Walker wahnsinnig machte. Abgesehen davon, dass es total kindisch war, konnte er nicht fassen, wie eine Gruppe von Erwachsenen diesen Begriff offenbar allen Ernstes benutzte und nicht ein einziges Mal darüber nachdachte, was für eine verquere Metapher das war und wie sehr sie ihr gestörtes Verhalten als Individuen und als Gruppe auf den Punkt brachte. Das war nur eine der vielen Sachen, die er an der Plumb-Familie nicht verstand. Inzwischen hatte er es aufgegeben.«
Kapitel 31 / Seite 302
Der DAV brachte ebenfalls im Oktober 2016 die Hörbuchausgabe von »Das Nest« für EUR 19,99 (ISBN: 978-3862318254) in zum Glück ungekürzter Form heraus. Gelesen wird das Buch von dem Schauspieler Johann von Bülow. Nach seinem Filmdebüt »Nach fünf im Urwald« und regelmäßigen Fernsehauftritten ist der Mime auch als Hörbuchsprecher sehr erfolgreich.
Johann von Bülow macht mit seiner Stimme die besonderen Figuren von Cynthia D’Aprix Sweeney noch greifbarer und überträgt ihre Sorgen und Nöte feinfühlig ins gesprochene Wort.
Sie finden das Hörbuch zu Cynthia D’Aprix Sweeneys Roman »Das Nest« hier. Das Hörbuch besteht aus 2 mp3-CDs mit einer Gesamtlaufzeit von über 12 Stunden.
Dieser Roman eignet sich wie kaum ein anderer dazu, verfilmt zu werden. Auf diese Idee kam auch Produzentin Jill Soloway, die sich die Rechte bereits sicherte. In einiger Zeit können wir »Das Nest« dann wohl auch als Film genießen, für den Cynthia D’Aprix Sweeney auch das Drehbuch schreiben soll.
Fazit: Cynthia D’Aprix Sweeneys »Das Nest« ist ein Familienroman mit doppeltem Boden und dabei äußerst unterhaltsam. Außerdem ist er aber auch scharfsinnig, geistreich, humorvoll bis leicht sarkastisch, psychologisch spannend und berührend, auch wenn das Ende ein wenig zu versöhnlich daherkommt.
Ein Rundum-Paket also – ein Roman von dem der Leser wohl wünscht, er möge nie enden, um die Leben der liebgewonnenen Figuren weiterhin durchs Schlüsselloch zu beobachten. Das Buch kann ich jedem empfehlen.
Cynthia D’Aprix Sweeneys Roman »Das Nest« (Originaltitel: »The Nest«) in der Übersetzung von Nicolai Schweder-Schreiner ist im November 2016 für EUR 19,95 im Klett-Cotta Verlag erschienen – gebunden, 410 Seiten, ISBN 978-3608980004.
Wer in den Roman reinlesen möchte, findet hier eine Leseprobe.
Über die Autorin: Cynthia D’Aprix Sweeney hat in New York als PR-Beraterin gearbeitet, bevor sie zum Schreiben kam. Sie lebt mit Mann und Kindern in Los Angeles. »Das Nest« ist ihr erster Roman, der im März 2016 in der Originalausgabe erschien und auf Platz 3 der Bestsellerliste der New York Times stand. Für die Verfilmung unter der Produzentin und Regisseurin Jill Soloway schreibt Cynthia D’Aprix Sweeney das Drehbuch.
Laila Mahfouz, 24. August 2017
Links:
Die Website von Cynthia D’Aprix Sweeney finden Sie hier.
Informationen finden Sie hier auf den Seiten des Klett-Cotta Verlages.
Cynthia D’Aprix Sweeney wurde mit ihrem Roman »Das Nest« von Denis Scheck in seiner Sendung DRUCKFRISCH vorgestellt:
Weitere Informationen zu Cynthia D’Aprix Sweeney finden Sie hier.
Informationen zu Laila Mahfouz finden Sie hier.