Lesung am 29. Juni 2017 in der Buchhandlung Christiansen in Hamburg: Radek Knapp stellte seinen autobiographisch gefärbten Kurzroman »Der Mann, der Luft zum Frühstück aß« vor, in dem er von den ersten Erlebnissen eines polnischen Emigranten in Wien berichtet.
Unfreiwillig wird der zwölfjährige Walerian von seiner Mutter, die ihn kurz nach der Geburt bei den Großeltern zurückgelassen hat, nach Wien „entführt“, wie er es nennt. Der Schock, sich von einem Tag auf den anderen und ohne Vorwarnung in einer anderen Welt mit einer fremden Sprache und anderen Menschen mit fremder Mentalität wiederzufinden, wird für den Jungen zu einem Trauma, das sein Leben auf besondere Weise prägt.
Radek Knapp ist von seinen Erfahrungen vor allem die geschärfte Beobachtungsgabe erhalten geblieben und die Liebe zu einer Sprache, die er sich hat erarbeiten müssen.
»Niemand wusste so richtig, was im Kopf meiner Mutter vorging. Leute, die sie kannten, behaupteten, dass dort eine entzückende Leere herrschte, andere wiederum konnten geradezu den Donner hören, den der eingeschlossene Geist beim Nachdenken erzeugte.«
Kapitel 1 – erster Satz / Seite 7
Entwurzelt kam Walerian in Wien an und lange Zeit fühlte er sich nur fremd und unwohl. In der Schule, in der Ausbildung, Walerian ist stets auf der Suche nach einer Identität, die er als seine anerkennen kann. Seine Lage verbessert sich zusehends, als er den Entschluß fasst, sein Leben in die eigene Hand zu nehmen und eigene Entscheidungen zu treffen. Nach einem Job als Würstchenverkäufer, der ihn zum Vegetarier machte, fand er als Heizungsableser schließlich einen Job, der als Sozialstudie kaum spannender für einen künftigen Schriftsteller sein könnte:
»Ich stellte unter anderem fest, dass die Welt immer noch so funktionierte wie vor fünftausend Jahren. Oben waren die Pharaonen, die inzwischen Markenkleidung und Krawatte trugen, und unten die Sklaven, versehen mit einem winzigen Überlebenssold, auch Mindestgehalt und Urlaubsgeld genannt. […]
So ruderten sie Tag für Tag ihrer Pension entgegen, über die sie mit einem Leuchten in den Augen sprachen, als wäre es Ibiza. […]
Ich würde keinen Moment so leben wollen wie sie […]«
Kapitel 6 / Seite 51 + 52
In einem wirklich einzigartigen Stil teilt Radek Knapp seine Erlebnisse mit dem Leser. Obwohl der Humor wahrlich nicht zu kurz kommt, verteilt der Autor reichlich Seitenhiebe. Ganz nebenbei geht es gegen das Hierarchiedenken und um eine Gesellschaft im Technikwahn und im Antidepressiva-Rausch sowie um die Vereinsamung in der Gesellschaft. Vorallem aber ist sein Roman ein Plädoyer für Menschlichkeit. Jeder von uns ist schon mal irgendwo neu gewesen, fremd. Jeder kennt das Gefühl, sich nicht zu Hause zu fühlen. Jeder kann Walerian sein. Wenn etwas Unvorhergesehenes, etwas Schreckliches geschieht, kann jeder von uns zum Emigranten im eigenen Leben werden.
Danach gefragt, was ihn dazu geführt habe, dieses Buch zu schreiben, erwiderte Radek Knapp:
»Erstens: innere Hygiene und zweitens: anderen Geschichten zu erzählen wie am Lagerfeuer. Man soll schon über Dinge schreiben, über die man viel weiß.«
Die Moderatorin Jana Halamickova fragte weiter, was für den ehemaligen Polen Heimat bedeute. Er antwortete:
»Man wird Emigrant im eigenen Land, weil das Gewohnte vor dem Fenster so schnell verschwindet. Man verliert die Heimat, ein bißchen, wie man die Kindheit verliert, besonders wenn man an den Ort der Kindheit zurückkehrt, ist es so. Doch Heimat ist nur ein Geisteszustand.«
»Der Mann, der Luft zum Frühstück aß« ist ein Schelmenroman mit viel Humor und viel Ernst. Radek Knapp schafft es, den Klischees fern zu bleiben und die Erwartungen an die Erlebnisse des jungen Walerian zu übertreffen. Die Erzählung beginnt mit der dramatischen Geschichte seiner Kindheit, die er so lustig beschreibt, dass Feinfühlige misstrauisch werden und schließlich die Tränen hinter der fröhlichen Maske fließen sehen. Melancholische Töne werden von Ironie begleitet, doch Radek Knapp und sein Alter-Ego haben nicht verlernt, über sich selbst zu lachen. Geistreich und klug, heißt es im Roman, sei Walerian und was Radek Knapp auf nur 128 Seiten geschafft hat, ist geradezu weise. Bei allem Spott, den er für die Welt übrig hat, ist sein Blick doch immer voll Liebe und Verständnis für ihre Bewohner. Sein Witz kommt schönerweise ohne Zynismus aus, was ich als wichtigstes Merkmal eines nicht aus Österreich stammenden Österreichers empfinde, und ließ mich mehrfach laut auflachen.
Fazit: Ein kleines Büchlein hat Radek Knapp uns in diesem Jahr geschenkt, doch sein Inhalt ist viel größer, als es den Anschein hat, denn von Luft lässt sich aller anderslautender Warnungen zum Trotz doch leben. Augenzwinkernd schaut der Autor auf sein Leben und hält seinen Lesern, in guter Eulenspiegel-Tradition, einen Spiegel vor. Sein trockener Humor würzt die spannende Erzählung, von einem der auszog, um auf eigenen Beinen zu stehen und seinen Platz im Leben zu finden.
Die Lesung war gut besucht und wirklich ein Erlebnis. Wir danken der preisgekrönten Buchhandlung Christiansen und der Deutsch-Polnischen Gesellschaft Hamburg für die Organisation.
Zwar ist es Zufall, dass mein Artikel ausgerechnet am Geburtstag des Autors erscheint, aus ganzem Herzen gratulieren möchte ich aber dennoch – zum Geburtstag und zu dem kleinen literarischen Juwel »Der Mann, der Luft zum Frühstück aß«. Der Kurzroman ist an einem Nachmittag zu lesen und unbedingt eine Empfehlung. Kaufen sie ihn und lesen sie ihn dann, wenn sie eine Aufheiterung vertragen können. Ich wünsche viel Spaß und Erkenntnisgewinn dabei!
Radek Knapps Roman »Der Mann, der Luft zum Frühstück aß« ist im Februar 2017 für EUR 16,00 im Deuticke Verlag erschienen – gebunden, 128 Seiten, ISBN 978-3552063365.
Wer in den Roman reinlesen möchte, findet hier eine Leseprobe.
Über den Autor: Radek Knapp, 1964 in Warschau geboren, lebt als freier Schriftsteller in Wien und in der Nähe von Warschau. Sein Roman »Herrn Kukas Empfehlungen« ist ein Longseller. Außerdem erschienen von ihm u.a. der Erzählband »Papiertiger«, eine »Gebrauchsanweisung für Polen«, der mit dem aspekte-Preis ausgezeichnete Band »Franio« (Deuticke) und 2015 der Roman »Der Gipfeldieb«. Der Roman »Der Mann, der Luft zum Frühstück aß« ist 2017 bei Deuticke erschienen.
Laila Mahfouz, 3. August 2017
Links:
Unsere Fotostrecke zur Veranstaltung finden Sie hier. Die Rechte an den Fotos liegen bei Anders Balari.
Hier liest Radek Knapp zehn Seiten seines Romans »Der Mann, der Luft zum Frühstück aß«:
Informationen auf den Seiten des Deuticke Verlages finden Sie hier.
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Die Website der Buchhandlung Christiansen finden Sie hier. Dort finden sich auch Links zu künftigen Veranstaltungen.
Informationen zu Laila Mahfouz finden Sie hier.