Lesung am 28. Januar 2017 in der Laeiszhalle Hamburg: Jonathan Safran Foer las aus seinem im Herbst in Deutschland erschienenen Roman »Hier bin ich«. „Ich möchte die Leser immer bewegen“, sagte Foer. Auch mit seinem ersten Roman seit elf Jahren ist ihm dies wieder einmal gelungen.
Jonathan Safran Foer stellte seinen neuen Roman »Hier bin ich« in der Hamburger Laeiszhalle vor.
(v. l. Daniel Beskos, Jonathan Safran Foer, Saša Stanišic – Foto: Anders Balari)
Der kleine Saal der Musikhalle war gut gefüllt, denn Jonathan Safran Foers Romane »Alles ist erleuchtet« (Originaltitel: »Everything Is Illuminated«, 2002) und »Extrem laut und unglaublich nah« (Originaltitel: »Extremely Loud and Incredibly Close«, 2005) sowie das Sachbuch »Tiere essen« (Originaltitel: »Eating Animals«, 2009) haben ihm auch in Deutschland eine große Fangemeinde beschert. Sein dritter Roman »Hier bin ich« wird von der Kritik als sein bisher bester gelobt, so war das Publikum entsprechend gespannt auf das im November 2016 auf deutsch erschienene Buch. Tatsächlich erwies sich »Hier bin ich« schon bei der Lesung als humorvolle, sprachlich und psychologisch interessante Lektüre.
Inhalt: Wie können wir all die Rollen, die wir zu spielen haben, glaubhaft unter einen Hut bekommen? Wie gleichzeitig Sohn, Vater und Ehemann sein? Oder Mutter, Ehefrau und Geliebte? Erwachsener und Kind? Oder gar Amerikaner und Jude? Wie können wir wir selbst sein, wenn unser Leben doch so eng mit allen anderen verbunden ist? Diese Fragen stehen im Zentrum von Jonathan Safran Foers erstem Roman seit elf Jahren.
»Hier bin ich« erzählt von vier turbulenten Wochen im Leben einer Familie in tiefer Krise. Julia und Jacob haben sich auseinandergelebt, doch wie könnten sie sich trennen, ohne dass ihre drei Söhne darunter leiden oder gar sie selbst? Immer wieder diskutieren sie alle Szenarien durch, kümmern sich aufopferungsvoll um den inkontinenten Hund und die bevorstehende Bar Mitzwa des ältesten Sohns. Gerade als die israelische Verwandtschaft zur Familienfeier in Washington, D.C. eintrifft, ereignet sich ein katastrophales Erdbeben im Nahen Osten, das die Invasion Israels zur Folge hat. Die Fragen »Was ist Heimat? Was bedeutet Zuhause?« stellen sich noch einmal ganz neu, auch für Jacob.
Der Argon Verlag brachte ebenfalls im November die Hörbuchausgabe von »Hier bin ich« für EUR 29,95 (ISBN: 978-3839815137) heraus. Gelesen wird das Buch mit viel Spielfreude vom großartigen Christoph Maria Herbst.
Leider handelt es sich nur um eine autorisierte Lesefassung – also um eine gekürzte Version des Buches. Foers literarische Besonderheit, Dinge zu wiederholen, kommen dadurch weniger zur Geltung. Ein paar wirklich schöne Beziehungsszenen, ein paar Erklärungen zum jüdischen Leben und ein paar Seiten bzw. Kurzkapitel fallen in Gänze weg. Erstaunlich ist auch die teilweise andere Übersetzung einzelner Wörter. Unverzeihbar ist aber der Austausch des für das ganze Buch bedeutungsvollen Wortes „Odyssee“ mit dem nichtssagenden Wort „es“ auf der für jeden Autor wichtigen letzten Seite des Romans. Wer diese Kürzung/Änderung vorgenommen hat, verstand wohl den Sinn des Buches nicht wirklich. Trotz Christoph Maria Herbsts unbestrittenem Talent empfehle ich aufgrund der Streichungen und Änderungen, das Buch lieber selbst zu lesen.
Sie finden das Hörbuch hier. Eine Hörprobe finden Sie ebenfalls dort oder mit Klick aufs Bild. Das Hörbuch besteht aus 10 CDs mit einer Gesamtlaufzeit von 11 Stunden und 58 Minuten.
Offenbar ist die Suche nach der eigenen, der jüdischen Identität für Foer ebenso zur Odyssee geworden wie für seinen Helden Jacob, denn seit seinem vorherigen Roman sind elf Jahre ins Land gegangen. Für seine Leser hat sich die lange Wartezeit auf jeden Fall gelohnt, denn auch Jonathan Safran Foers dritter Roman ist ein Erlebnis der besonderen Art. Der feinfühlige und doch mit viel Humor gewürzte Umgang mit schwierigen Themen, seine Begabung, durch wunderbare Dialoge und die Darstellung ihrer Innenwelt seinen mal sehr normalen, mal sehr außergewöhnlichen Figuren Leben einzuhauchen, machen die Lektüre zum Genuss.
»Benny ging mit seiner Familie nach Israel, Isaac mit der seinen nach Amerika. Isaac hatte die Entscheidung seines Bruders nie verstanden.
Benny verstand Isaac, verzieh ihm aber nie.«
III. Vom Nutzen einer jüdischen Faust / Vielleicht war es die Entfernung / Seite 271
Für Foer, dessen Großeltern den Holocaust überlebt haben, waren die Fragen der Zugehörigkeit zum Judentum und zum Staate Israel ebenso elementar wie die Frage, was ihn als Individuum ausmacht. Dass Jacob mit allem hadert und dabei oftmals zu Unrecht ein schlechtes Gewissen hat, macht ihn glaubwürdig und sympathisch. Viel von Foer steckt in diesem Buch, es ist ein schon fast autobiografisch gefärbter Roman und der Autor selbst bezeichnet ihn als sein bisher persönlichstes Werk. Mit Fingerzeig auf seinen Roman sagte Foer in der Musikhalle: „I am like this“.
»Tamir wollte eigentlich nur über Geld reden – das israelische Durchschnittseinkommen, die Höhe seines eigenen hübschen Vermögens […]
Irv wollte eigentlich nur über die Lage reden – wann würde Israel uns mit Stolz erfüllen und zugleich endgültig für seine Sicherheit sorgen? […]
Jacob wollte eigentlich nur darüber reden, wie es war, stets mit dem Tod leben zu müssen: Hatte Tamir jemanden erschossen? Oder Noam? Kannten die beiden Geschichten über folternde oder gefolterte Kameraden? Wie sah das schlimmste Ereignis aus, dessen Zeugen sie geworden waren?«
III. Vom Nutzen einer jüdischen Faust / Die Israelis sind da / Seite 300 + 301
Kann der Druck innerhalb der Familie, die Einsamkeit an der Seite eines Ehepartners so groß werden, dass der Gedanke, in den Krieg zu ziehen, seinen Schrecken verliert? Von der inneren Zerrissenheit Jacobs erzählt Jonathan Safran Foer ebenso eindringlich wie vom Frust der Ehefrau Julia, dem Umgang mit dem Leben und der Zerrüttung der Familie aus Sicht der beiden jüngeren Söhne und der Adoleszẹnz des ältesten Sohnes Sam. Zum Inhalt selbst will ich bewusst nicht mehr verraten, denn ich möchte niemandem die Freude am eigenen Entblättern der Geschichte nehmen.
Auch wenn die Wahl des Vorlesers diejenigen verwundert haben mag, die zuvor noch nicht das Vergnügen hatten, so haben wir uns sehr gefreut, dass der großartige Schriftsteller Saša Stanišić (»Vor dem Fest« / »Fallensteller«) die deutschen Passagen aus Foers Roman auf die für ihn typische Weise gelesen hat – nämlich mit viel Elan, Witz und dem richtigen Gespür für den Text.
»Vielleicht würde Sam nie zum Mann werden, doch als er weinend am Fenster stand – sein Urgroßvater lag zwanzig Minuten entfernt mutterseelenallein unter der Erde; ein Avatar zerfiel in einem tiefgekühlten Datenspeicherzentrum nahe dem Nichts zu Pixel-Staub; seine Eltern befanden sich auf der anderen Seite der Zimmerdecke, einer Decke, die jedoch keine Ränder hatte -, wurde er wiedergeboren.«
V. Keine Wahl ist auch eine Wahl / Wiedergeburt / Seite 445
Fazit: Halb so lange wie sein treuer Hund Argos auf Odysseus Rückkehr gewartet hat, ließ Jonathan Safran Foer auch seine Leserschaft auf einen neuen Roman warten. Der Ideenreichtum, die Gedankenexperimente und sein Einfühlungsvermögen insbesondere in die Innenwelt Jugendlicher macht »Hier bin ich« zu einem echten Foer-Roman, so dass ich wie der Hund in Homers Epos bekenne, ihn sofort wiedererkannt zu haben. Dass der Hund des Helden in Foers Odyssee den nämlichen Namen trägt, ist ein passendes Zitat, denn auch durch dieses fast 700 Seiten starke Buch irrt ein Getriebener von einer Frage zur nächsten.
»Hier bin ich« ist eine innere und äußere Reise, eine Geschichte der Identitäts- und Sinnsuche, eine Geschichte einer Ehe, eine des Erwachsenwerdens und der Suche nach dem eigenen Platz im Leben. Wer sich auf diese Reise einlässt, wird gewiss nicht enttäuscht werden.
Jonathan Safran Foers Roman »Hier bin ich« (Originaltitel: »Here Am I«) ist in der Übersetzung von Henning Ahrens im November 2016 für EUR 26,00 im Kiepenheuer & Witsch Verlag erschienen – gebunden, 688 Seiten, ISBN 978-3462048773.
Wer in den Roman reinlesen möchte, findet hier eine Leseprobe.
Über den Autor: Jonathan Safran Foer wurde am 21. Februar 1977 in Washington D.C. geboren und wuchs dort als Mittlerer von drei Söhnen auf. Als Enkel von Holocaust-Überlebenden kam Foer früh mit jüdischen Traditionen, der Kultur und dem jüdischen Glauben in Berührung und zeigte besonderes Interesse für Literatur jüdischer Autoren, wie Joseph Roth. 1995 begann er das Studium der Philosophie in Princeton, wo er einen Kurs in Creative Writing bei der US-amerikanischen Schriftstellerin Joyce Carol Oates belegte, die sein Talent entdeckte und ihn ermutigte, weiter zu schreiben. Schon in dieser Zeit entstand die Idee zu seinem Debüt. Mit 19 Jahren reiste Jonathan Safran Foer in die Ukraine, um, wie der Protagonist seines Romans »Alles ist erleuchtet«, nach der Frau zu suchen, die seinen Großeltern zur Flucht verhalf.
Seit seinem Debütroman »Alles ist erleuchtet« zählt er zu den wichtigsten US-amerikanischen Schriftstellern seiner Generation. Jonathan Safran Foers Romane sind vielfach ausgezeichnet worden. Sein Debütroman »Alles ist erleuchtet« wurde mit Elijah Wood in der Hauptrolle verfilmt, in der Verfilmung seines zweiten Romans »Extrem laut und unglaublich nah« spielten Tom Hanks und Sandra Bullock. 2010 wurde er neben Literaturstars wie Chimamanda Ngozi Adichie und Nicole Krauss in die angesehene Liste »20 Under 40« aufgenommen. Darin listet das Magazin >The New Yorker etwa alle zehn Jahre junge vielversprechende Autorinnen und Autoren auf. Seit der Recherche für sein Sachbuch »Tiere essen« ist Foer konsequenter Vegetarier. Er lebt und arbeitet in New York. Von 2004 bis 2014 war er mit der Schriftstellerin Nicole Krauss verheiratet, mit der er zwei Söhne hat. Jonathan Safran Foer unterrichtet Kreatives Schrieben an der New York University.
Laila Mahfouz, 13. März 2017
Links:
Unsere Fotostrecke finden Sie hier. Die Rechte aller Fotos zur Lesung liegen bei Anders Balari.
Informationen zum Autor auf den Seiten des Kiepenheuer & Witsch Verlages finden Sie hier.
Weitere Informationen zu Jonathan Safran Foer finden Sie hier.
Informationen zu Laila Mahfouz finden Sie hier.