Lesung am 6. Juni 2016 in der Buchhandlung Christiansen in Hamburg: Saša Stanišić las aus seinem Erzählband »Fallensteller«. Wie schon in seinem vielfach ausgezeichneten Roman »Vor dem Fest« versprüht der Autor in »Fallensteller« ein wahres Feuerwerk an Ideen, Humor und sprachlicher Raffinesse.
Handlung (dem Verlagstext entnommen): Dies sind Geschichten über Menschen, die Fallen stellen, Menschen, die sich locken lassen, Menschen die sich befreien – im Krieg und im Spiel, mit Trug und Tricks und Mut und Witz.
»Mit der schnippenden Stimme von Daumen und Mittelfinger bestellte der etwas Bernsteinfarbenes. Was auch immer es war, es zwang ihn, sich zu zwingen, das Gesicht nicht zu verziehen.«
(Kapitel: »Billard Kasatschok«, Seite 26)
Saša Stanišić liest in der Buchhandlung Christiansen aus seinem Erzählband »Fallensteller« Foto: Laila Mahfouz
Für seinen zweiten Roman »Vor dem Fest« erhielt Saša Stanišić 2014 den Preis der Leipziger Buchmesse – mehr als verdient, denn der Roman ist erfrischend anders und mit grandioser sprachlicher Virtuosität verfasst. Nun legt Saša Stanišić nach: Sein Erzählband »Fallensteller« enthält fünf für sich allein stehende Erzählungen, sowie drei Erzählungen mit den Figuren Mo und ich, drei weitere, die um die Reise eines Georg Horvath kreisen, und eine knapp 90-seitige Erzählung, in deren Verlauf der Leser bekannten und unbekannten Personen aus Saša Stanišić‘ Erfolgsroman »Vor dem Fest« folgen kann.
»Der Pizzaalbaner mit Turmkochmütze lässt sich von Mo fotografisch nicht festhalten, protestiert erst: vornehm, sodann, als Mo mit der Kamera in sein Steinofenheiligtum eindringt: wüst, reißt sich seine verführerische Pizzaalbanermütze vom Schädel, will Mo gar den Apparat aus der Klaue hauen, oder tut bloß derart, indem er mit seinem Fuchtelarm: tuntig, gleichwohl nicht ungefährlich!, vor Mos Angesicht fuchtelt, sodass Mo weichen muss, auf den fettigen Fliesen ins Ausgleiten gerät und bei höchster Komplikation in der Manier einer dreizehnjährigen rumänischen Bodenturnerin sensationell mit einem knappen Auf-den-Beinen-Verbleiben den Fliesen den Kuss verweigert.«
(Kapitel: »Mo klaut ein surrealistisches Gemälde einer syrischen Surrealistin und will es seinem Vater verkaufen, bzw. egal wem«, Seite 63)
Sätze wie diesen will ich wieder und immer wieder lesen und mich von Saša Stanišić‘ offensichtlicher Begeisterung für die Flexibilität der deutschen Sprache mitreißen lassen. Das Lesen jeder einzelnen Geschichte ist eine pure Freude, die noch erhöht wird, wenn gerade entdeckte und liebgewonnene Charaktere in der nächsten Erzählung wieder auftauchen und ihre Reise sich fortsetzt.
»In diesem Gewässer versinkt alles« lautet der Titel der letzten Geschichte, in welcher ein Enkel eines im Sterben liegenden Großvaters, der ihm einmal unendlich viel bedeutet hat, es nicht über sich bringen kann, den alten Mann zu besuchen. Es ist die Geschichte eines jungen Mannes, der als Jugendlicher vor dem Krieg in Jugoslawien nach Deutschland geflohen ist. Es gibt viele Parallelen zum Leben des Autors und doch, sagt Saša Stanišić, ist dies nur eine der Fallen, die er dem Leser gestellt hat.
»Mos linke Pupille verwandelt sich in eine kleine Insel, auf der ein Stamm, welcher noch nie Kontakt mit der Zivilisation hatte, einen Freudentanz aufführte.«
(Kapitel: »Mo klaut ein surrealistisches Gemälde einer syrischen Surrealistin und will es seinem Vater verkaufen, bzw. egal wem«, Seite 77)
Der verkannte Zauberkünstler der ersten Erzählung bewegte mich ebenso wie die Geschichte des Jungen im Ferienlager oder die des jungen Mannes, der im Gebirge Romanija auf Hirten und einen absonderlichen Ort trifft, den die Bürokratie der EU hinterlassen hat.
Aber auch die drei Erzählungen um Mo und seine weibliche Reisebegleitung, die als Ich-Erzählerin fungiert, strotzen vor Ideenvielfalt. Diese Texte sind voller wunderbarer, aber auch grotesker und surrealer Momente. Sollten die wahnwitzigsten Stellen nur dem Flash einer betrunkenen Nacht von Mo und seiner Begleitung entsprungen sein? Sicher ist es nicht und gerade das steigert die Faszination. Saša Stanišić lässt sich treiben, genießt es sichtlich, sich sprachlich und kreativ auszutoben und übt ganz nebenbei (wie auch an anderen Stellen in seinen Erzählungen) Gesellschaftskritik, die so unterhaltsam verpackt ist, dass sie kaum auffällt und vom Leser mitsamt der augen- und intellektverwöhnenden Verzierung verschlungen wird.
»Als Polizist hast du es im Blut zu helfen, außer in den USA, da hast du es auch mal im Blut, Blut zu vergießen. Sie sehen abwechselnd vom Foto zu mir, ich komme mir vor wie der Fehler im Findedenfehler.«
(Kapitel: »Mo klaut ein surrealistisches Gemälde einer syrischen Surrealistin und will es seinem Vater verkaufen, bzw. egal wem«, Seite 81)
Weil die drei Fortsetzungsgeschichten um Georg Horvaths Reise nach Rio in perfektem Maße Melancholie, ironischen Humor und sprachliche Genialität vereinen und weil diese Erzählungen die Sehnsucht in den meisten von uns wecken, sich wie die Hauptperson auch einmal treiben zu lassen, sind diese Erzählungen kleine Juwele, die sich wiederholt mit ungemindertem Vergnügen lesen lassen und den Wunsch wecken, Saša Stanišić möge Georg Horvath einen ganzen Roman widmen. Als Georg Horvath gefragt wird, warum er in Rio sei bzw. an dem Ort, an den er durch Zufall gelangt ist, findet er – untermalt mit Ausschnitten aus Franz Kafkas Parabel »Der Aufbruch« – für sich selbst die perfekte Antwort:
»Weil er sich gern verwechseln und entführen ließ. Weil er als der, der er dann war, nicht mehr dorthin musste, wohin er als der, der er gewesen war, gemusst hätte. Weil er erfunden wurde.«
(Kapitel: »Pica-pau-de-cabeca-amarela«, Seite 129)
Zu meiner großen Freude war die titelgebende Erzählung nicht nur knapp 90 Seiten lang, auch erzählt Saša Stanišić hier erneut von Fürstenfelde und seinen Bewohnern. Er hätte etwas „zu Ende denken müssen“, sagte der Autor bei der Lesung. Ich und sicher viele andere Leser des Romans »Vor dem Fest« sind dankbar, dass Saša Stanišić uns an seiner ‚Fortsetzung‘ teilhaben lässt. Das Dorf Fürstenwerder, welches er für seinen Roman literarisch verfremdet und Fürstenfelde genannt hat, machte seit der Bekanntheit durch den Roman einige Veränderungen durch. Es ergaben sich neue Geschichten und andere wollten zu Ende erzählt werden. Auch schreibt Saša Stanišić sich als den ‚Jugo‘, der einen Roman über das Dorf geschrieben hat, selbst hinein. Seit »Vor dem Fest« große Aufmerksamkeit erlangte, pilgern Literaturgruppen in den 800-Seelen-Ort und die Einwohner beobachten dies mit gemischten Gefühlen und gesundem Geschäftssinn. Der in Reimen sprechende Fallensteller erweist sich als nahezu mythische Figur – er befreit die Einwohner von animalischen und seelischen Plagen, doch obwohl sein geforderter Lohn gering ist, wird Fürstenfelde ihm viel schuldig bleiben.
Saša Stanišić‘ Neuauflage von »Der Rattenfänger von Hameln« erweist sich als sehr intelligenter, kritischer und aktueller Text über unsere Gesellschaft und schafft erneut sprachliche Wunder.
»Auf dem höchsten Punkt verharrte der Fallensteller in der Luft, länger als es für das Selbstbewusstsein der Gravitation gut gewesen wäre.«
(Kapitel: »Fallensteller«, Seite 185)
In Saša Stanišić‘ Geschichten sind alle mehr oder weniger auf der Flucht. Sie sind Heimatlose, Suchende, Reisende, Sich-treiben-lassende – Menschen auf der Suche nach einem Ort, einem Gefühl der Heimat. Saša Stanišić bekennt, dass viele dieser Texte auf Reisen entstanden sind, wenn das Warten oder die Langeweile seine Gedanken auf Reisen geschickt haben. Der Wahlhamburger stellt sich dann stets die Frage „Was wäre wenn…“ und überlässt den Rest seiner Phantasie.
»Wir wissen, auf so einen bist du nie vorbereitet, mit seinem Gepäck voll Allerlei: Sprache, Mut und Zauberei.«
(Kapitel: »Fallensteller«, Seite 255)
Fazit: Die Formulierungskunst von Saša Stanišić ist ein seltenes Geschenk für alle Leser, die an Prosa höchste sprachliche Ansprüche stellen. Stets setzt Saša Stanišić seine Ideen virtuos um. Seine Texte sind reich an verspieltem Humor, Melancholie und ausschweifender Phantasie. Den Erzählband »Fallensteller« möchte ich wirklich allen Lesern empfehlen – ich bin ebenso begeistert wie von seinem Vorgänger, dem Roman »Vor dem Fest«, und ich wünsche mir, dass sich andere von meiner Begeisterung anstecken lassen. Ich bin jetzt schon gespannt, womit der Autor in Zukunft überraschen und entflammen wird.
Hier ein Interview des NDR Kulturjournals vom 9. Mai 2016 mit Saša Stanišić‘ über den Erzählband »Fallensteller«
Saša Stanišić‘ Erzählband »Fallensteller« ist im Mai 2016 im Luchterhand Verlag erschienen – gebunden, 288 Seiten, EUR 19,99, ISBN 978-3630874715.
Über den Autor: Saša Stanišić wurde 1978 in Višegrad in Bosnien-Herzegowina geboren und lebt seit 1992 in Deutschland. Sein erster Roman »Wie der Soldat das Grammofon repariert« begeisterte Leser und Kritik gleichermaßen und wurde in 31 Sprachen übersetzt.
Sein zweiter Roman »Vor dem Fest« war ein SPIEGEL-Bestseller und ist mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden, darunter dem renommierten Alfred-Döblin-Preis sowie dem Preis der Leipziger Buchmesse 2014.
Saša Stanišić lebt und arbeitet in Hamburg.
Laila Mahfouz, 25. Juli 2016
Links:
Die Fotostrecke von Laila Mahfouz zur Lesung finden Sie hier.
Informationen zu Saša Stanišić auf der Seite des Luchterhand Verlages. Hier finden Sie auch die anstehenden Lesungstermine.
Wer mehr lesen möchte und sich dennoch bisher nicht zu einem Kauf entschließen konnte, findet hier eine Leseprobe.
Die Website von Saša Stanišić finden Sie hier.
Die Website zu »Vor dem Fest« finden Sie hier.
Der Erzählband »Fallensteller« wurde zum NDR Buch des Monats Mai gewählt. Den Artikel dazu finden Sie hier.
Mehr Informationen zu Saša Stanišić finden Sie hier.
Informationen zu Laila Mahfouz finden Sie hier.