Mit seinem aktuellen Roman »Kaltes Wasser« lässt Jakob Hein die Tradition deutscher Schelmenromane wieder aufleben. Wie man sich durch die DDR schummeln konnte und nach der Wende den kapitalistischen Westen mit seinen eigenen Waffen schlagen und dabei die eigenen Taschen füllen konnte, davon weiß Friedrich Bender sehr unterhaltsam zu erzählen. Jakob Heins Held erweist sich als einer, dem es nie an Mut zum Sprung in »Kaltes Wasser« mangelt!
Friedrich Bender ist ein Blender par excellence. Schon im Kindergartenalter erkennt er, dass er mit ausgeschmückten oder erfundenen Geschichten viel weiter kommt als mit der Wahrheit. Diese Erkenntnis bestimmt sein weiteres Leben. Als Kind systemtreuer Sozialisten in Ostberlin aufgewachsen, wird Friedrich Agitator seiner Klasse, soll ihnen also wöchentlich ein Loblied auf die Erfolge des Sozialismus singen. Da die echten Nachrichten ihn langweilen, erfindet er kurzerhand sehr viel spannendere. Wenn er Verbindungen zwischen dem Wahlrecht für Ausländer bei ostdeutschen Kommunalwahlen und der kubanischen Zuckerrohrernte zieht, dann ist das mehr als pure Unterhaltungskunst. Wie Pippi Langstrumpf erfindet er sich die Welt jeden Tag neu und so, wie sie ihm gefällt.
»Die Schule zielte darauf ab, uns Schüler zu Museumsexponaten zu machen, zu gut ausgeleuchteten Objekten ohne Schattenseiten und ohne Eigenleben. […] Im Unterschied zu diesem Schulunterricht, der ausschließlich von vergangenen und bevorstehenden Siegen handelte, war das Universum, das ich in meinen Berichten als Agitator für die Klasse entwarf, lebendig, vielfältig, wandelbar und nie vorhersehbar.«
Aufgaben der Sozialisten / Seite 26+27
»Bisweilen fragte ich mich dabei, was ich da tat und ob das nicht eine Art Satire war und ich mich mit diesem sozialistischen Geflunker auf gefährlichem Grund bewegte?«
Aufgaben der Sozialisten / Seite 24
Nach den Sommerferien wird er in der Klasse zum »neidisch beäugten Star«, denn seither hat er eine Punkerin als Freundin, die Tochter englischer Kommunisten, die er im Ferienlager kennengelernt hat! Mehr als alles andere bedauert Friedrich selbst, sich die Punklady nur ausgedacht zu haben. Unendlich viel Mühe steckt er in die Plausibilität seiner Geschichten, bis er am Ende fast selbst an sie glaubt.
Neben den vielen Mängeln und Lügen wirft Friedrich Bender der DDR-Regierung bzw. dem ganzen sozialistischen System vor allem die Heuchelei vor, sich auf Marx zu berufen, sich allerdings offensichtlich über seine Lehren zu erheben. Während sie es anders machen, als er es vorhergesagt hat, ermöglichen sie so, dass Uninformierte Marx nach dem Scheitern des Sozialismus einen Spinner nennen. (Meiner Meinung nach ist es in etwa so, wie sich in Deutschland oder in anderen christlichen Ländern auf Jesus Christus zu berufen, aber weiterhin nach den Litaneien und rachsüchtigen Dogmen des Alten Testaments zu leben und Jesus‘ Lehren als naiv zu belächeln.)
»Schließlich war Marx davon ausgegangen, dass die unterdrückten Proletarier sich im Rahmen einer Weltrevolution auflehnen müssten, um dann eine neue, gerechtere Gesellschaft aufzubauen. […] Wenn man Marx als Gebrauchsanweisung verstehen wollte, hätte man doch zunächst gewissermaßen den Hauptschalter betätigen müssen.«
Sozialistischer Surrealismus / Seite 17
Am 9. November 1989 ist es dann endlich soweit: Benders Welt wird größer und mit ihr wachsen seine kreativen Möglichkeiten. Anders als seine Eltern, die in eine Jahre andauernde Schockstarre verfallen und ihrem Sohn die Regelung aller Geschäftsvorgänge überlassen, ist Friedrich selbst fassungslos darüber, wie man das »Ende der Fantasielosigkeit« und grauen Einöde bedauern kann und lässt sich vom Einfallsreichtum der westlichen Presse faszinieren, die seine Flunker-Erfindungsgabe weit übertrifft:
»[…] an den Zeitungskiosken gab es Westzigaretten, köstliche Süßigkeiten und Zeitungen, deren Nachrichten mit so viel Fantasie gemacht waren, dass selbst ich ins Staunen kam. Aus den kleinsten Meldungen wurden Trends, Mücken kunstfertig zu Elefanten aufgeblasen und vor allem gab es tagtäglich unerwartete, groß gedruckte Schlagzeilen. Stundenlang hätte ich vor den Kiosken stehen und nur die Titelseiten der Zeitungen und Zeitschriften lesen können.«
Umschwünge / Seite 39+40
Bender kann es nicht erwarten der elterlichen Angepasstheit und dem sozialistischen Einheitsbrei zu entfliehen und so wird er noch in seinem Abitur-Jahr Devisenhändler für DDR- und D-Mark am Bahnhof Zoo, wo er sich praktisch in einer Grauzone des Rechts aufhält. Das Abitur sichert er sich und seinen Klassenkameraden ebenso wie er mit dem ergaunerten Geld schon wieder neue Pläne verfolgt. Schon bald wird ein alter Bus des DDR-Militärs, den er auf den Kollwitzplatz geschleppt hat, ein angesagter Treffpunkt und der Kneipier Bender selbst zum Objekt der Begierde für die Frauen. Erst als die Behörde ihm den Laden schließen will, besinnt er sich darauf, sein Studium fortzusetzen. Die französische Studentin Brigitte bricht ihm fast das Herz und natürlich sind ihm zehn Semester bei den langweiligen Vorträgen an der Uni viel zu lang. Er beschließt, seinen Abschluß bereits nach zwei Semestern in der Tasche zu haben. Sein Einfallsreichtum kennt dabei keine Grenzen.
Nach einem Zwischenspiel als Lieblingsmitarbeiter der größten Versicherungsgesellschaft Föderation, deren Name vermutlich nicht ungewollt an die Allianz erinnert, und deren abstruse Arbeitsabläufe er leicht zu manipulieren versteht, beschließt Friedrich Bender, die westdeutsche Heiratsvermittlung Von Meyburg & Partner zu gründen. Von nun an verkuppelt der vermeintlich Blaublütige die hoffnungslosen Fälle der High Society und beginnt eine Affäre mit der verheirateten, österreichischen Isabella von Fürstenbusch. Abermals verdient er eine stolze Summe, bis ihm der Vater seines Erfolgsfalls auf die Schliche kommt und ihn als Ostler entlarvt!
Heins Held wird durch die Nichtanerkennung und Irreführung sämtlicher Instanzen immer sympathischer. Dennoch wirkt er merkwürdig wurzellos. Er gibt sich scheinbar gewieft und ist doch verloren in der Vielfalt der Möglichkeiten, die keine Tiefe zulassen. Seine Lügengebilde halten dem zweiten Blick nicht immer stand und verlangen von ihm, dass er sie auf dem Höhepunkt seines Erfolgs aufgibt, um nicht aufzufliegen.
Er treibt seine verrückten und sehr lukrativen Spielchen so lange, bis er nicht mehr weiß, wer er ist. Oder wusste er dies vielleicht nie? Für mich ist Bender bei allem Erfindungsreichtum eigentlich ein trauriger Charakter, denn einer, der immer ein anderer sein will, als er ist, kann nicht glücklich sein. Das Ende des Romans, von dem viele Leser, die eine Riesenpointe erwartet hatten, eher enttäuscht wurden, ist für mich die gelungene Erkenntnis eines Suchenden, der endlich das Wahre gefunden hat, nämlich die Essenz des Lebens selbst.
Fazit: Jakob Heins Roman »Kaltes Wasser« ist endlich mal wieder ein wirklich gelungener Schelmenroman! Friedrich Bender, der Nachkomme von Münchhausen und Felix Krull, ist eine vielschichtige Persönlichkeit, dessen Lebensweg und Griffe in die Trickkiste seiner Kreativität ein großes Lesevergnügen bereiten.
»Kaltes Wasser« ist ein vergnüglicher Roman, den man nicht aus der Hand legen mag, und der einen spannenden Teil der deutschen Geschichte mit einem Augenzwinkern betrachtet. Eine Leseempfehlung und ein Autor, den Sie sich merken sollten!
(Eine weitere Romanempfehlung von Jakob Hein ist der dünne, doch gehaltvolle Roman »Herr Jensen steigt aus«.)
Jakob Heins Roman »Kaltes Wasser« ist im März 2016 für EUR 18,99 im Galiani Verlag erschienen – gebunden, 240 Seiten, ISBN 978-3869711256.
Wer in den Roman reinlesen möchte, findet hier eine Leseprobe.
Über den Autor: Jakob Hein, geboren 1971 in Leipzig, lebt seit 1972 mit seiner Familie in Berlin. Er arbeitet als Psychiater. Seit 1998 ist er Mitglied der »Reformbühne Heim und Welt«. Er hat bereits 15 Bücher veröffentlicht, darunter »Mein erstes T-Shirt« (2001), »Herr Jensen steigt aus« (2006), »Wurst und Wahn« (2011) sowie zuletzt den Roman »Kaltes Wasser« (2016).
Laila Mahfouz, 14. Januar 2017
Links:
Die Website des Autors finden Sie hier.
Informationen zum Autor und seinen Büchern auf den Seiten des Kiepenheuer & Witsch Verlages finden Sie hier.
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