Lesung am 2. Dezember 2016 im Italienischen Kulturinstitut Hamburg: Im Dialog mit der Autorin Katharina Hagena berichtet Andrea Bajani von der Arbeit an seinem wunderbar poetischen Buch »Das Leben hält sich nicht ans Alphabet«, der sich in 38 alphabetische Bausteine aufteilt.
Als Gesprächspartnerin hatte sich Andrea Bajani die deutsche Autorin Katharina Hagena ausgesucht, deren Roman »Das Geräusch des Lichts« ebenfalls im Herbst erschienen ist. Nach ihrem Debüt-Roman, dem Bestseller »Der Geschmack von Apfelkernen«, und ihrem wunderbaren zweiten Roman »Vom Schlafen und Verschwinden« ist »Das Geräusch des Lichts« Katharina Hagenas dritter Roman.
Andrea Bajani lernte die Wahlhamburgerin bei einem Treffen internationaler Autoren in der Normandie kennen. Neben der tiefen, in beider Texten stets sichtbaren Liebe zur Sprache verbindet die beiden seither eine Freundschaft. In »Das Leben hält sich nicht ans Alphabet« beschäftigt sich Andrea Bajani mit einem der Lieblingsthemen Katharina Hagenas, dem Erinnern.
Viele der Miniaturen spielen mit Kindheitserinnerungen und doch sagte Andrea Bajani, dass wir nicht wissen, wer die Person ist, die uns im Spiegel entgegenblickt. Wir gehen nur davon aus, dass wir es sind, während die Zukunft zur Vergangenheit wird.
Obwohl Andrea Bajani fließend deutsch (und auch noch französisch) spricht, wurde das Gespräch zwischen den beiden Autoren fürs Publikum von Francesca Bravi übersetzt, die die Veranstaltung auch moderierte.
Die Worte machten, was sie immer machen, wenn du Angst hast:
Sie verkriechen sich im Mund, suchen eine geschützte Stelle und kommen nicht mehr zum Vorschein.
Corteccia / Seite 19
Fast immer benutzte der Italiener die Ansprache du (selten auch ihr) in »Das Leben hält sich nicht ans Alphabet«, wie ebenfalls in dreien seiner vorherigen Bücher. Wie er sagte, tat er dies »um eine direkte Verbindung zum Leser herzustellen.« Tatsächlich stellt sich beim Lesen praktisch sofort eine Nähe ein. Es ist, als würde der Leser selbst angesprochen. Die Identifikation mit den Figuren fällt dadurch besonders leicht, ja, es ist sogar möglich, sich bei dem einen oder anderen Text regelrecht ertappt zu fühlen, wie ein Kind mit den Fingern im Honigtopf.
Du warst endlich da, an einem frühen Freitagmorgen, auf die Welt geplumpst – du hast mit den Augen an ihm gehangen, da bei dem Baumstamm -, und dann war dieses Eintauchen gekommen und das Aufspritzen, und die Kreise hatten ringsumher das Weite gesucht.
Corteccia / Seite 20 + 21
Handlung (dem Verlagstext entnommen): Buchstaben sind die Bausteine der Welt:
In achtunddreißig poetisch-zarten Miniaturen von A wie Amore bis Z wie Zoo spürt Andrea Bajani der Bedeutung und Wirkung von Wörtern nach und versucht, ein wenig Ordnung zu bringen in das Chaos des Lebens. Eine Kiste mit Holzbuchstaben wird zu einer Truhe voller Erinnerungen und magischer Momente, in denen ein Menschenleben eine andere Richtung nimmt. Katalogisieren lässt sich das Leben auf diese Weise nicht, doch mit den Buchstaben des Alphabets kann man die Welt begreifen, indem man sie neu entstehen lässt.
Zur Entschlüsselung der Welt steht jeder Sprache eine unterschiedliche Anzahl an Buchstaben zur Verfügung. Die Buchstaben j, k, w, x, y kommen im Italienischen nur in Latinismen und Fremdwörtern nicht aber in der gesprochenen Sprache vor. Mit den verbleibenden 21 Buchstaben des Alphabets lassen sich dennoch – wie in jeder anderen Sprache – eine unendliche Menge an Geschichten zaubern und einer jener Wort-Magier ist Andrea Bajani.
»Es geht um die Minibausteine, die uns verbinden und nicht trennen, nämlich das Alphabet«, sagte Andrea Bajani über sein Buch. Der Autor war 38 Jahre alt, als er das Buch schrieb und wählte pro Lebensjahr einen Text aus, so dass sich einige Buchstaben wiederholen. Trotz dieser Fülle hätte er gewartet »dass die Geschichten zu ihm kommen«. Herausgekommen ist ein sehr persönliches Buch, das trotz leicht autobiographischer Züge eine Allgemeingültigkeit hat, die beim Lesen ein wohlig vertrautes Gefühl aufkommen lässt.
Und während du das überlegst – während du überlegst, dass du ihn gern anrufen würdest, dass er aber nicht abnehmen würde, oder noch schlimmer, dass seine Frau abnehmen würde -, schaust du nach draußen und hast das Gefühl, in einer von diesen durchsichtigen Überraschungskugeln eingesperrt zu sein, die du dir als kleines Mädchen so gewünscht hattest. Du hättest gern, dass jemand – genau jetzt – eine Münze einwirft und den Hebel dreht. Und danach die kleine Kugel nimmt, aufbricht und dich herausholt.
Habitat / Seite 45
Wie eine Klammer umschließt die alphabetische Miniaturgeschichtensammlung die Szene eines ersten Schultages, an dem der Lehrer Holzklötzchen mit den Buchstaben des Alphabets präsentiert. Welches Wort Andrea Bajani für welchen Buchstaben gewählt hat oder sollte ich besser sagen, welches Wort ihn erwählt hat, ist spannend, denn nicht oft ist es das naheliegendste und dann ist das Wort oft auch nicht, was der Leser erwarten mag. Andrea Bajani ist der Erinnerung auf den Grund gegangen. Was sie mit unseren Gedanken anstellt, wie ein Geräusch, ein Geruch oder ein gemurmeltes Wort eine vergangene Geschichte in einer Deutlichkeit heraufbeschwören können, dass uns ein (manchmal wohliger) Schauer den Rücken hinab läuft.
Wie der vielfach ausgezeichnete Autor erklärte, ging es ihm um alltägliche Augenblicke, die in der Vergangenheit verankert sind und die durch den Rückblick wieder etwas Neues entstehen lassen. Ein Gegenstand und eine Geschichte könnten sich in etwas anderes verwandeln, das sei das Wunder der Literatur, so Bajani.
K. Hagena:
»Schreibst du eher anfallartig oder täglich, chronologisch oder in Stücken, die zusammengebastelt werden müssen?«
A. Bajani:
»Es kann sein, dass ich mal nur drei Sätze am Tag schreibe, aber wenn ich an einem Roman arbeite, dann täglich. Es muss etwas im Magen passieren, im Innern, dann muss ich darüber schreiben. Ich schreibe von A – Z nicht durcheinander. Und die Person, die das Buch angefangen hat, ist nie die, die es beendet.«
K. Hagena:
»Schreibst du mit der Hand oder am Computer? Und eher morgens oder nachts?«
A. Bajani:
»Prosa schreibe ich am Computer und immer morgens, wenn die Kreativität am höchsten ist. Lyrik schreibe ich mit der Hand und dazu brauche ich einen speziellen Ort, der sie ermöglicht.«
K. Hagena:
»Liest du Kritiken zu deinen Büchern?«
A. Bajani:
»Ja, ich lese sie. Erst einmal schnell. Wenn sie gut sind, dann nochmals langsam. Wenn sie schlecht sind, dann gar nicht.«
In anderen Übersetzungen wurde die Reihenfolge der Geschichten den übersetzten Worten angepasst, was für mich ein grober Eingriff in das Werk des Autors darstellt. Der dtv Verlag hat dies weitaus eleganter gelöst: Über jedem Kapitel steht der italienische Titel und darüber etwas heller, wie Schatten, steht die deutsche Übersetzung. Auf diese Weise konnte die Originalreihenfolge beibehalten werden und der Leser lernt gleich noch ein paar Worte Italienisch dazu. Eine ausgezeichnete Idee.
Auch auf die wunderschöne Gestaltung des Buches muss ich aufmerksam machen. Nicht nur ist der Roman in Taschenbuchgröße im Gegensatz zur italienischen Originalausgabe in edlem blauen Leinen gebunden, es wiederholt sich auf der Buchvorderseite als Prägung außerdem das Zebra des Buchumschlags, das auf dem Rücken einen goldenen Apfel (der Erkenntnis) balanciert. Dem eigentlichen Taschenbuchverlag ist mit dieser schönen Ausgabe ein kleines Kunstwerk gelungen.
Fazit: Andrea Bajani erzählt in seinem aktuellen Buch von empfindsamen Menschen, die Geheimnisse wie Zeitbomben in sich ticken und Uhren wie Herzen schlagen hören, von Geburt und Tod, von kindlicher Unschuld und dem nostalgischen Blick zurück. Poetisch geschrieben blickt der Autor beinahe zärtlich auf Figuren, Erinnerungen und die Worte, die diese auslösen. »Das Leben hält sich nicht ans Alphabet« ist ein kleines und stilles, aber dennoch ein ganz großes Buch, das zum wiederholten Lesen einlädt und sich bestens als Weihnachtsgeschenk für jeden Leser eignet.
Andrea Bajanis Buch »Das Leben hält sich nicht ans Alphabet« ist im November 2016 in der Übersetzung von Pieke Biermann für EUR 16,00 im dtv Verlag erschienen – in Leinen gebunden, 124 Seiten, ISBN 978-3423280969.
Wer mehr lesen möchte und sich dennoch bisher nicht zu einem Kauf entschließen konnte, findet hier eine Leseprobe.
Über den Autor: Andrea Bajani wurde 1975 in Rom geboren und ist einer der anerkanntesten und mit wichtigen Preisen bedachten Romanautoren der modernen italienischen Literatur.
Nach dem großen Erfolg seines Romans ›Mit herzlichen Grüßen‹ (dtv 24793) beschließt er 2005, sich ganz dem Schreiben zu widmen. Daneben ist er für Theater und Radio tätig und schreibt für die Zeitungen ›La Stampa‹, ›L’Unità‹, ›La Republica‹ und ›Il Sole 24 Ore‹. Seine Bücher erscheinen in den renommiertesten europäischen Verlagen, wie Gallimard, Siruela, MacLehose, Atheneum, Humanitas oder DTV. 2008 wurde er für seinen Roman ›Lorenzos Reise‹ unter anderem mit dem Premio Mondello, dem Premio Recanati und dem Premio Brancati ausgezeichnet. 2011 erhielt er den renommierten Premio Bagutta für den Roman ›Liebe und andere Versprechen‹. Für seinen Roman ›Das Leben hält sich nicht ans Alphabet‹ erhielt er den Settembrini-Preis.
Journalistische Texte des Autors erscheinen regelmäßig in der Tageszeitung ›La Republica‹.
Andrea Bajani lebt mit seiner Familie in Turin, hält sich aber zur Zeit aufgrund eines Stipendiums als einer von zwölf Künstlerinnen und Künstler aus Italien und Deutschland für elf Monate im Internationalen Künstlerhaus Villa Concordia in Bamberg auf.
Über die Autorin: Katharina Hagena, geboren 1967 in Karlsruhe, studierte Anglistik und Germanistik in Marburg, London und Freiburg und lebt als freie Schriftstellerin mit ihrer Familie in Hamburg.
Die Literaturwissenschaftlerin promovierte über ›Ulysses‹ von James Joyce. 2006 erschien ihre Studie ›Was die wilden Wellen sagen. Der Seeweg durch den Ulysses‹ und 2008 ihr Roman-Bestseller ›Der Geschmack von Apfelkernen‹, der in 25 Sprachen übersetzt und 2013 verfilmt wurde. Ihr zweiter Roman ›Vom Schlafen und Verschwinden‹ ist im Herbst 2012 erschienen. Ihr dritter Roman ›Das Geräusch des Lichts‹ ist im September 2016 erschienen.
Laila Mahfouz, 8. Dezember 2016
Links:
Die Fotostrecke zu dieser Veranstaltung finden Sie hier. Alle Fotos von Laila Mahfouz.
Die Lesung wurde aufgezeichnet und ist bald unter anderem auf youtube zu finden.
Informationen zu Andrea Bajani auf der Seite des dtv Verlages finden Sie hier.
Weitere Informationen zu Andrea Bajani finden Sie hier.
Informationen zu Laila Mahfouz