Lesung am 27. Januar 2016 im Literaturhaus Hamburg: Frank Witzel las aus seinem mit dem Deutschen Buchpreis 2015 ausgezeichneten Roman »Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch depressiven Teenager im Sommer 1969«
Handlung (dem Verlagstext entnommen): Gudrun Ensslin eine Indianersquaw aus braunem Plastik und Andreas Baader ein Ritter in schwarzglänzender Rüstung? Die Welt des kindlichen Erzählers dieses mitreißenden Romans, der den Kosmos der alten BRD wiederauferstehen lässt, ist nicht minder real als die politischen Ereignisse, die jene Jahre in Atem halten und auf die sich der 13-Jährige seinen ganz eigenen Reim macht.
Frank Witzel ist es in dieser groß angelegten fantastischen literarischen Rekonstruktion des westlichen Teils Deutschlands gelungen, ein Spiegelkabinett der Geschichte im Kopf eines Heranwachsenden zu errichten. Erinnerungen an das Nachkriegsdeutschland, Ahnungen vom Deutschen Herbst und Betrachtungen der aktuellen Gegenwart entrücken ihn dabei immer weiter seiner Umwelt. Das dichte Erzählgewebe ist eine explosive Mischung aus Geschichten und Geschichte, Welterklärung, Reflexion und Fantasie: ein detailbesessenes Kaleidoskop aus Stimmungen einer Welt, die ebenso wie die DDR 1989 Geschichte wurde.
Nach der Vorstellung durch Rainer Moritz, den Leiter des Literaturhauses Hamburg, befragt die Moderatorin Maike Albath Frank Witzel eingehend zu seiner Arbeit an seinem Roman. Nachdem die Geschichte um den Teenager Timo (der die meiste Zeit des Romans namenlos bleibt) Frank Witzel ingesamt fünfzehn Jahre beschäftigt hatte, schrieb er die letzten fünf Jahre vor der Veröffentlichung ausschließlich daran. So ist es nicht verwunderlich, dass der Autor nicht widersprechen kann, wenn die Geschichte, die er auf über 800 eng bedruckten Seiten erzählt hat, als Opus magnum bezeichnet wird. Wie Witzel anmerkt, werde er selbstverständlich weiterschreiben, voraussichtlich würde aber kein weiteres seiner literarischen Werke den Umfang oder den zeitlichen Aufwand seines im vergangenen Herbst mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten Romans erreichen.
Die Begründung der Jury des Deutschen Buchpreises 2015 lautete dann auch: »Frank Witzels Werk ist ein im besten Sinne maßloses Romankonstrukt. Erzählt wird die Geschichte eines Jungen aus der hessischen Provinz, der sich im Alter von dreizehneinhalb auf der Schwelle zum Erwachsenwerden befindet. In diese Geschichte eingewoben ist das politische Erwachen der alten Bundesrepublik, die beginnt, sich vom Muff der unmittelbaren Nachkriegszeit zu befreien. Diese Ära des Umbruchs wird heraufbeschworen in disparaten Episoden, die unterschiedlichste literarische Formen durchspielen, vom inneren Monolog über die Action-Szene oder das Gesprächsprotokoll bis zum philosophischen Traktat. Der Roman »Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969« ist in seiner Mischung aus Wahn und Witz, formalem Wagemut und zeitgeschichtlicher Panoramatik einzigartig in der deutschsprachigen Literatur. Frank Witzel begibt sich auf das ungesicherte Terrain eines spekulativen Realismus. Mit dem Deutschen Buchpreis wird ein genialisches Sprachkunstwerk ausgezeichnet, das ein großer Steinbruch ist, ein hybrides Kompendium aus Pop, Politik und Paranoia.«
Hier das Video, das für die Shortlist des Deutschen Buchpreises erstellt wurde:
Schon früh stand für Frank Witzel fest, dass sein Roman keine zentrale Erzählperspektive haben würde. Viele Stimmen sind um den 13-jährigen Teenager aus dem hessischen Bieberich versammelt und kommen ebenso als Ich-Erzähler zu Wort, wobei sie jeweils einen ganz anderen Blick auf dieselben Geschehnisse werfen. So entsteht ein mehrdimensionales Erzählwerk, das seinesgleichen sucht.
In 98 Kapiteln erzählt Witzel im Jargon der 60er-Jahre von Jugendängsten, Katholizismus, Neurosen, die vielleicht gar keine sind? Der Autor ahnt allerdings die Katholische Prägung, die »schulddurchtränkten« Gedanken, als beste Grundlage für Wahnideen. Im Gespräch berichtet er aus seiner christlich-extremen Kindheit, in der die Beichte eine der unabwendbaren Pflichten war und der Beichtspiegel oft die letzte Hoffnung, um eine passende Sünde zu entdecken, die man beichten konnte, ohne sie begangen oder oft auch richtig verstanden zu haben. In einem Kapitel des Buches verfasst der Teenager sogar einen eigenen Beichtspiegel, »um dem Prinzip der Sünde auf die Spur zu kommen«.
Frank Witzel und Maike Albath lassen die Vergangenheit wieder aufleben. (Foto: Anders Balari)
Wie Witzel meint, drückten die Teenager früher ihre eigene Identität mehr durch ihre Frisuren, ihre Kleidung und besonders ihren Musikgeschmack aus, als dies heute der Fall ist. Musik hat so auch eine ganz besondere Bedeutung in Frank Witzels Roman. Durch sie drückt er aus, was allein durch Worte nicht so emotional zu transportieren ist. Die Musik lässt die Zeit, das damalige Lebensgefühl, wieder lebendig werden und untermalt den ganz besonderen Sound, der seinen Worten entspringt. Auch in Frank Witzels Leben spielt Musik eine große Rolle: der Autor ist außerdem Musiker und komponiert selbst.
Der Verlag Matthes & Seitz Berlin stellt ein pdf zur Verfügung, in welchem der Autor Fragen zu seinem Roman beantwortet und tiefere Einblicke in seine Arbeit gewährt. Das pdf, »Meine Erzähler suchen eine körperliche Erfahrung, keine Gedankenspiele« – Ein Gespräch mit Frank Witzel finden Sie hier.
Hier noch ein Interview mit Frank Witzel vom Kulturmagazin Kultur.21 – nach der Vergabe des Deutschen Buchpreises 2015 an den glücklichen aber sehr überraschten Schriftsteller:
»Flecken und deren Entfernung hatten im Nachkriegsdeutschland eine besondere Bedeutung. Es gab alle möglichen Anweisungen, wie man Tinte, Ruß, Rotwein usw. entfernen konnte. […] Zudem erinnerte er [der Fleck] an die Vergangenheit, als man ganzen Teilen der Bevölkerung Flecken auf die Kleider machte, um sie auszusondern. Und da man das nicht mehr rückgängig machen konnte, versuchte man, wenigstens selbst möglichst unbefleckt zu sein. […] und perfektionierte die chemische Reinigung, in die man alles brachte, was einen an die verleugnete Schuld erinnerte; ohne zu merken, dass man auch die systematische Ausrottung der Juden als chemische Reinung hätte bezeichnen können und wahrscheinlich sogar hat. So entstanden überall in den Städten chemische Reinigungen als unbewusste Erinnungsstätten, und man pilgerte wöchentlich zu ihnen, um Buße zu tun.
Das ist meine Theorie. Einerseits.
Andererseits lautet meine Theorie, wenn ich es nicht gesellschaftlich, sondern von religiöser Seite her betrachte, dass die Fleckenmittel gegen die oft grausame Vorsehung helfen sollen, die Menschen knechtet und der er selbst mit größter Anstrengung nicht entkommen kann. Der freie Wille scheint ein Truggespenst zu sein, denn selbst wenn ich mich mit einer Serviette und besonderer Vorsicht versuche, gegen die Vorsehung zu schützen, so will es mir einfach nicht gelingen. […] Das Bekleckern aber ist Symbol der notwendigen, weil vorherbestimmten Besudelung durch die Sünde, die zwar Sünde und Schuld für den Einzelnen zu sein scheint, aber dennoch notwendig ist für den Verlauf der Geschichte, weshalb der Sünder in völlig sinnloser Anstrengung versucht, nicht zu sündigen. Er hofft, durch diese Anstrengung der ihm bevorstehenden Strafe entkommen zu können, doch das ist schlichtweg unmöglich. […] Er erkennt zudem, dass er sich umsonst angestrengt und gegrämt hat, denn da seine Sünden notwendiger Bestandteil des Weltengangs sind, kann von einer Schuld im üblichen Sinne nicht gesprochen werden.«
(Kapitel 6, Seite 44{45)
Unter anderem las Frank Witzel diesen Teil seines klugen und humorvollen Romans, der dem jugendlichen Protagonisten eine ganz besondere Stimme verleiht. Seinen Gedankengängen zu folgen, ist eine wahre Freude und rasch wird klar, dass dieses Buch nicht nur aufgrund seines Umfangs nicht mit einem Bissen verschlungen werden kann. Die hier gezeichneten Bilder, die einzelnen Geschichten, die Gedankenspiele erfordern Momente der eigenen Reflektion, ein Innehalten, für das sich viele Menschen in unserer heutigen Fast-Food-Gesellschaft leider nicht die Zeit nehmen werden. Wer mehr lesen möchte und sich dennoch bisher nicht zu einem Kauf entschließen konnte, findet hier eine mehr als 20 Seiten lange Leseprobe.
Fazit: Frank Witzels dritter Roman »Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch depressiven Teenager im Sommer 1969« könnte eines der großen Werke sein, die die Zeit überdauern. Ich freue mich schon sehr auf die humorvolle, anregende und philosophische Lektüre und wünsche diesem Roman und seinem Verfasser (wie auch dem Matthes & Seitz Verlag für ihren Glauben an das Werk) viele begeisterte Leser, denn so ein anspruchsvoller Text, der seine Leser fordert und zum eigenen Denken ansport, ist leider nicht hinter jedem Buchdeckel zu finden.
Frank Witzels Roman »Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch depressiven Teenager im Sommer 1969« ist im Februar 2015 im Matthes & Seitz Verlag erschienen – gebunden, 817 Seiten, EUR 29,90, ISBN 978-3957570772.
Über den Autor: Frank Witzel wurde 1955 in Wiesbaden geboren und lebt in Offenbach. Er ist Autor, Essayist, Illustrator, Musiker und Komponist. Für sein Romanprojekt »Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969« erhielt Witzel 2012 den Robert-Gernhardt-Preis. 2015 wurde der fertiggestellte Roman mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet.
Laila Mahfouz, 20. Februar 2016
Links:
Die Website von Frank Witzel finden Sie hier.
Weitere Informationen zu Frank Witzel auf der Seite des Matthes & Seitz Verlages. Hier finden Sie auch die anstehenden Lesungstermine sowie eine 13-minütige Hörprobe (Frank Witzel liest den Anfang des Romans).
Die Fotostrecke zur Lesung finden Sie hier. Alle Fotos sind von Anders Balari.
Mehr Informationen zu Frank Witzel finden Sie hier.
Informationen zu Laila Mahfouz finden Sie hier.
Informationen zum Photographen Anders Balari finden Sie hier.