Mit seinem Sachbuch »Das verborgene Leben des Waldes – Ein Jahr Naturbeobachtung« schenkt David G. Haskell uns detaillierte Einblicke in den Kosmos Wald. Ein Jahr lang beobachtet der Biologieprofessor einen festgelegten Quadratmeter in einem Urwald Nordamerikas und vermittelt anschaulich die Zusammenhänge.
Text von der Verlagsseite übernommen: So wurde Natur noch nie gesehen: An einem Quadratmeter Wald entfaltet David Haskell einen ganzen Kosmos der Naturbeobachtung, ein ökologisches und poetisches Kompendium.
Die Welt in einer Nussschale: Über ein Jahr hat der amerikanische Biologe David Haskell einen Quadratmeter altgewachsenen Wald immer wieder besucht und bis ins Detail studiert. Ausgerüstet nur mit Objektiv, Lupe und Notizbuch, Zeit und Geduld, richtet der Biologe seinen Blick auf das Allerkleinste: Flechten und Moose, Tierspuren oder einen vorbeihuschenden Salamander, Eiskristalle oder die ersten Frühlingsblüten. Und entfaltet mit dem Wissen des Naturforschers und der Beschreibungskunst eines Dichters ein umfassendes Panorama des Lebens im Wald, des feingewobenen Zusammenlebens in einem jahrhundertealten Ökosystem. Eine Grand Tour zwischen Wissenschaft und Poesie, die die Natur in ihrer ganzen Komplexität und Schönheit erfahrbar macht.
30. Januar: Die kahlen Büsche und Bäume sind nicht bloß Gerippe, auch wenn es so aussieht. Zweige und Stämme sind von lebendem Gewebe umhüllt. […] dass Pflanzen nach der vollständigen Kapitulation wiederauferstehen, ist so weit von jeder menschlichen Vorstellung entfernt, dass es beinah unanständig scheint. Nach dem Tod […] dürfte es keine Wiederkehr mehr geben. Doch sie kehren wieder. Pflanzen überleben ähnlich wie Schwertschlucker: durch sorgfältige Vorbereitung und höchste Vorsicht vor scharfen Kanten. […] Im Winter müssen Pflanzen Zehntausende von Schwertern schlucken und ständig aufpassen, dass keins ihrer verletzlichen Seele zu nah kommt. Seite 39
Nach den Übersetzungen ins Japanische (2013), Italienische, Spanische, Französische, Koreanische und Chinesische (2014) erschien das 2012 veröffentlichte Buch »The Forest Unseen: A Year’s Watch in Nature« endlich auch in deutscher Sprache. Der Kunstmann Verlag brachte das wissenschaftliche Buch des US-amerikanischen Professors für Biologie, David G. Haskell (geboren in England), 2015 unter dem Titel »Das verborgene Leben des Waldes – Ein Jahr Naturbeobachtung« heraus. Der Autor gewann für sein Werk 2013 den National Academies Communication Award und den Reed Environmental Writing Award. Außerdem war er im selben Jahr Finalist für den Pulitzer Preis.
13. März: Die Feuchtigkeitsschleier der Frühe haben sich gehoben, und die Schnecke macht sich auf zum El Capitan – oder einem schmächtigen Stein, je nachdem, wie man die Welt sieht. […]
Nacken und Kopf dehnen sich wie Gummi, ein Giraffenhals, weiter, noch ein wenig weiter, dann schlägt das Kinn auf den Fels, verbreitert sich zu einer Stütze, und die Schnecke zieht sich mit einem Klimmzug ohne Hände vom Boden hoch. Die Schwerkraft drückt ein Auge zu, als das Tier unmöglich aufwärts flutet und seine Reise in die Felsspalte kopfüber fortsetzt.
Ich blicke auch und verlasse die Lupenwelt: Die Serengeti hat sich geleert. Die Weidetiere haben sich mit der Sonne verflüchtigt. Seite 75/76
Getreu dem Vorbild eines tibetischen Mandalas wählt David G. Haskell einen Kreis von etwa einem Meter Durchmesser in einem zehn Morgen großen Urwald Nordamerikas, ein Stückchen Wald an einem Hang im Südosten von Tennessee am Rand des Cumberland Plateaus. In diesem Stückchen Erde, das er fortan nur noch »das Mandala« nennt, findet seine Jahresbeobachtung inmitten ökologischer und biologischer Vielfalt statt. David G. Haskell stellte sich die Frage, ob wir durch dies kleine, beschauliche Fenster aus Laub, Felsen und Wasser den ganzen Wald entdecken können. Als Regeln für seine Beobachtungen hatte er sich nur auferlegt, einen vollständigen Jahreskreislauf zu beobachten, sich ruhig zu verhalten, um Störungen zu vermeiden und keinen Einfluß irgendwelcher Art auf die Lebewesen dieses Quadratmeters zu nehmen. Die Menschheit hat bereits das Gesicht unseres wunderbaren Planeten verändert, im Jahr seiner Beobachtungen wollte der Biologe möglichst vermeiden, ein Störfaktor zu sein.
2. April: Wir sind weder Eiszeit noch Sturm, sondern etwas völlig Neues. Wir haben den Wald in der Größenordnung einer Eiszeit verändert, sind aber mit einer Geschwindigkeit vorgegangen, die tausend Mal schneller war. Seite 89
Mehrmals im Monat sitzt der Autor nun auf einem großen Findling im Mandala oder kriecht vorsichtig am Waldboden entlang. Bei seiner behutsamen Erforschung des Lebens im Wald, schreckt David G. Haskell vor nichts zurück, um die Welt und unsere Mitwesen besser zu verstehen. So beschreibt er eindringlich die am eigenen (in diesem Fall nackten!) Leib erfahrenen Auswirkungen der Kälte von -20°C im Januar, überwindet seine Furcht vor den Geräuschen und Kreaturen der Nacht, um über Glühwürmchen und Nachtfalter berichten zu können (und ebenso über Koyotengeheul!), lässt sich von Mücken stechen, ohne sie zu verjagen, um die biologischen Abläufe zu veranschaulichen, kurz, er nimmt den Wald mit allen Sinnen auf und bringt ihn so nah an den Leser heran, dass eine Waldessehnsucht geweckt wird, die alsbald gestillt werden muss.
14. April: Ein Nachtfalter schiebt seine gelblich-braunen Füße über meine Haut, ertastet sie mit Tausenden chemischer Sensoren. Sechs Zungen! Mit jedem Schritt bricht sich eine neue Empfindung Bahn. Wenn der Falter über eine Hand oder ein Blatt läuft, muss es so sein, als schwömme man durch Wein – mit offenem Mund. Mein Jahrgang scheint dem Nachtfalter zuzusagen, sein Saugrüssel entfaltet sich, entrollt sich zwischen zwei leuchtend grünen Augen. Seite 104
Wie u. a. das vorangestellte Zitat zeigt, bringt David G. Haskell mit »Das verborgene Leben des Waldes« Poesie in das Sachbuchgenre. Er schreibt mit einer Leichtigkeit, die mit dem detailreichen und interessanten Inhalt eine perfekte Symbiose eingeht, so dass das Vergnügen der Lektüre garantiert ist. Allein sein Abschnitt zur abenteuerlichen Reise des Kalziums von der Eierschale zum Vogelknochen, zur Pflanzen- bzw. Schneckennahrung oder zur Schere eines Krebses ist ein wunderschönes Gedankenspiel, das ich so schnell nicht vergessen kann und das einmal mehr zeigt, dass alles mit allem verbunden ist.
5. Oktober: Wenn ich im Wald sitze oder herumspaziere, bin ich kein »Subjekt«, das »Objekte« beobachtet. Wenn ich mich dem Mandala nähere, werde ich von Kommunikationsnetzwerken, von Beziehungsnetzwerken empfangen. Ob ich mir dessen bewusst bin oder nicht. […] Bislang hat sich die westliche Forschung nicht dazu herabgelassen, sich ernsthaft mit der Möglichkeit zu beschäftigen, dass der Wald oder seine Abwesenheit Teil unseres Daseins ist. Seite 232/233
Neben Weißwedelhirschen, Grauhörnchen, Bärenmardern (Vielfrass), Koyoten und diverse Insektenarten sind es immer wieder die Vögel, die Teil des faszinierenden Ökosystems sind. Ob Tangaren, Vireos, Indianergoldhähnchen, Carolinaspechte, Waldsänger, Truthahngeier, Gelbschnabelkuckucke, Indianer- oder Carolinameisen – Hobby-Ornithologen kommen jedenfalls auf ihre Kosten. Mir persönlich hat es große Freude bereitet, mir nach jedem Kapitel die genannten Tiere im Internet anzusehen.
3. Dezember: Je mehr wir über das Leben im Erdreich lernen, desto zutreffender scheint die Symbolik unserer Sprache: »verwurzelt«, »bodenständig«. […] All jene Beziehungen sind so tief in unserer Geschichte verwurzelt, dass Individualität sich aufzulösen beginnt und Entwurzelung unmöglich ist. Seite 280/281
Ob Signaturenlehre, Vogelflugmuskulatur, Symbiosen aller Art, Variationsreichtum der Samenverbreitung der Pflanzen, Paarung der zweigeschlechtlichen Schnecken, Zellstruktur der Moose oder Atomismus, David Haskell beschreibt alles so anschaulich, erklärt so verständlich, dass es eine Freude ist, ihn auf seiner Reise und zu den tiefsten Geheimnissen des Waldes zu begleiten. Obwohl ich mich für sehr bewandert auf dem Gebiet halte, gab es Unmengen zu entdecken und zu lernen. Meine Notizen, wie selbstverständlich das Buch selbst, werde ich ganz sicher aufbewahren und ab und an zu Rate ziehen.
26. Dezember: Wissenschaft schafft, im Idealfall, eine größere Nähe zur Welt. Aber in einem rein wissenschaftlichen Denken liegt eine Gefahr. […] Mit ihrer Fröhlichkeit heute widersprechen die Hörnchen dieser beschränkten Sicht. Die Natur ist keine Maschine. Tiere sind fühlende Wesen. Sie leben. Sie sind unsere Verwandten, und darum empfinden sie ähnlich wie wir. […] Maschinen kauft, verkauft und entsorgt man, fröhliche Verwandte nicht. […] Ich habe versucht, ein Jahr lang die wissenschaftlichen Werkzeuge niederzulegen und genau hinzuhören: der Natur ohne Hypothesen zu begegnen, ohne Datenerhebungspläne, ohne Unterrichtspläne, ohne Geräte oder Proben. Ich habe gemerkt, wie wertvoll die Wissenschaft ist, aber auch wie begrenzt in Geltungsbereich und geistiger Haltung. Seite 290/291
Warum haben wir von all diesen Abläufen, Zusammenhängen so wenig Ahnung? David G. Haskell erklärt auch dies, denn vieles bleibt uns im Normalfall schon dadurch verborgen, dass wir zehntausend Mal größer sind als die meisten Lebewesen und außerdem neun Zehntel der Hauptlinien im Tierreich im Wasser leben. Der ungewohnte Lupenblick in die Schneckenwelt und ins Erdreich haben mich allerdings geradezu animiert, den Garten mit einem Vergrößerungsglas selbst näher zu untersuchen. Hoffentlich lässt der Frühling nicht mehr lange auf sich warten!
31. Dezember: Je länger ich das Mandala beobachte, desto mehr schwindet die Hoffnung, es jemals zu begreifen, und sei es nur in seiner grundlegenden Natur. […] Irgendwie empfand ich Erleichterung, als mich der Schock des Getrenntseins durchströmte. Die Welt kreist nicht um mich oder meine Art. […] Das Leben ist größer als wir. […] Ich beobachte das Mandala als Fremder und Verwandter. Seite 296/297
»Das verborgene Leben des Waldes« ist dem Genre »Nature Writing« zuzuordnen, das aus einer Mischform aus wissenschaftlichen Inhalten und zumeist in der ersten Person Singular ausgeführten Beobachtungen und philosophischen Betrachtungen zur Natur besteht. Hier wird Henry David Thoreau (»Walden«) oft als Vater des modernen amerikanischen Nature Writings angeführt. Die Sprache dieses Genres ist poetisch, bildhaft und metaphernreich. Die Schönheit dieses Buches liegt im vermittelten Wissen ebenso wie in der Sprachästhetik und der Philosophie des Autors. Seine Betrachtungen machen Lust auf mehr Natur, auf den herben Duft des Waldbodens und auf die Stille, die dem Vogelgezwitscher folgt.
Am Ende von »Das verborgene Leben des Waldes« bleiben viele Rätsel unaufgeklärt und das Leben ein großes Geheimnis. Und das ist auch gut so!
Fazit: David G. Haskells Sachbuch »Das verborgene Leben des Waldes« schafft einen ganz besonderen Einblick in die Welt des Waldes. Der Leser lernt nicht nur, genau hinzuschauen, mehr Details wahrzunehmen, auch vermittelt der Biologie sein enormes Wissen anhand der Zusammenhänge im Wald und seinen Überlegungen an Ort und Stelle. Dieser eine Quadratmeter wächst durch die Gerüche, Geräusche und Gedanken in alle Richtungen und der Autor lässt sich nicht davon abhalten, auch von Zug- und Raubvögeln zu erzählen, die über das Mandala hinwegfliegen, von menschlichen Einflüssen wie nicht biologisch abbaubarem Müll und Luftverschmutzung, von Unwettern, Jahreszeitenwechseln und ihren Auswirkungen. Er schafft so ein ganzheitliches Bild und daher ist David G. Haskells Fähigkeit, Zusammenhänge zu entdecken und im Kleinen das Große zu sehen und zu vermitteln, besonders hervorzuheben. Das Buch ist ein Lesegenuss für alle, die die Natur lieben – daher auch besonders gut als Geschenk geeignet.
Hier noch der Buchtrailer (englisch) zu »Das verborgene Leben des Waldes – Ein Jahr
Naturbeobachtung« / »The Forest Unseen: A Year’s Watch in Nature«:
David G. Haskells Sachbuch »Das verborgene Leben des Waldes« ist im September 2015 im Kunstmann Verlag erschienen – gebunden, 328 Seiten, EUR 22,95, ISBN 978-3956140617, übersetzt von Christine Ammann (Originaltitel: »The Forest Unseen: A Year’s Watch in Nature«.
David George Haskell nimmt alles unter die Lupe. Foto: Buck Butler
Über den Autor: David George Haskell lehrt als Professor für Biologie an der University of the South und lebt in Sewanee, Tennessee. Neben wissenschaftlichen Arbeiten hat er Essays und Gedichte veröffentlicht. Für Das verborgene Leben des Waldes erhielt er 2013 den Best Book Award der National Academies und war Finalist beim Pulitzer-Preis.
Laila Mahfouz, 17. Februar 2016
Links:
Weitere Informationen zu David G. Haskell auf der Seite des Kunstmann Verlages
Eine Leseprobe finden Sie hier.
Die Website zum Buch finden Sie hier.
Den Blog von David George Haskell finden Sie hier.
Hier kommen Sie zu der Facebook-Seite von David George Haskell.
Informationen zu Laila Mahfouz