8. Oktober 2015: Der US-amerikanische Schriftsteller Jonathan Franzen las aus der deutschen und englischen Ausgabe seines aktuellen Romans »Unschuld« / »Purity« im Thalia Theater Hamburg. Gewohnt intelligent und souverän moderierte Felicitas von Lovenberg durch den Abend.
Text vom Buchumschlag: Die junge Pip Tyler weiß nicht, wer ihr Vater ist. Das ist keineswegs ihr einziges Problem: Sie hat Studienschulden, ihr Bürojob in Oakland ist eine Sackgasse, sie liebt einen verheirateten Mann, und ihre Mutter erdrückt sie mit Liebe und Geheimniskrämerei. Pip weiß weder, wo und wann sie geboren wurde, noch kennt sie den wirklichen Namen und Geburtstag ihrer Mutter. Als ihr eines Tages eine Deutsche beim „Sunlight Project“ des Whistleblowers Andreas Wolf ein Praktikum anbietet, hofft sie, dass der ihr mit seinem Internet-Journalismus bei der Vatersuche helfen kann. Sie stellt ihre Mutter vor die Wahl: Entweder sie lüftet das Geheimnis ihrer Herkunft, oder Pip macht sich auf nach Bolivien, wo Andreas Wolf im Schutz einer paradiesischen Bergwelt sein Enthüllungswerk vollbringt. Und wenig später bricht sie auf.
«Unschuld», eine tiefschwarze Komödie über jugendlichen Idealismus, maßlose Treue und den Kampf zwischen den Geschlechtern, handelt von Schuld in den unterschiedlichsten Facetten: Andreas Wolf, in Ost-Berlin als Sohn eines hochrangigen DDR-Politfunktionärs geboren, hat aus Liebe zu einer Frau vor Jahren ein Verbrechen begangen; ein Amerikaner, dem er in den Wirren des Berliner Mauerfalls begegnet, hat den Kinderwunsch seiner Frau nicht erfüllt und sie dann verlassen; dessen neue Lebensgefährtin kann ihrem Ehemann, der im Rollstuhl sitzt, nicht den Rücken kehren und pflegt ihn weiter … In diesem fulminanten amerikanisch-deutschen Gesellschaftsroman eines der größten, sprachmächtigsten Autoren unserer Zeit überschlagen sich die Ereignisse. Und bannen den Leser bis zum Schluss.
Jonathan Franzen las Auszüge aus dem ersten Kapitel der deutschen Ausgabe selbst. Der Autor, der in Hamburg an diesem Abend seine Lesereise durch Deutschland startete, entschuldigte sich für sein noch etwas holperiges Vorlesen aus der deutschen Ausgabe. Der recht nervös wirkende Franzen bezeichnete die Zuhörer im Thalia Theater als seine Versuchskaninchen und versicherte, die Lesungen im Rahmen der Frankfurter Buchmesse würden dann schon besser klingen. Es war sicher richtig, dass die teilweise falsche Betonung und die Langsamkeit, mit der er aus seinem Werk vorlas, von der Geschichte zu sehr ablenkte, dennoch war es etwas Besonderes, einen Auszug vom Erschaffer selbst zu hören.
Seine Studienzeit im Berlin der 80er Jahre bezeichnete der 1959 in Western Springs bei Chicago geborene Franzen als wichtig für seine schriftstellerische Arbeit. So entstand auch schon damals die Idee, eines Tages eine Geschichte zu schreiben, die in Deutschland verortet ist.
»Ich wollte immer einen deutschen oder halbdeutschen Roman schreiben.«
Während Jonathan Franzen sich in den letzten Jahren immer öfter über den Zwang des Internetzeitalters, Privates öffentlich zur Schau zu tragen, ärgerte, entstand in seinem Kopf eine Verbindung zur Unausweichlichkeit des Stasi-Regimes. Ebenso wie in der DDR, wo die Bespitzelung überall lauerte, ist es nach Franzens Meinung heutzutage fast unmöglich, sich dem Netz zu entziehen, wenn man auf irgendeine Weise mitspielen will. Er sagte, man könnte dagegen sein oder mitmachen, aber es wäre nicht möglich, mit dem Internet überhaupt nicht in Beziehung zu treten, denn alle Teile unseres Lebens seien vom Netz durchzogen. Diese Parallele zur Stasi verknüpft er in seinem Roman »Unschuld«, der eigentlich wörtlich übersetzt »Reinheit« heißen müsste. Da »Purity«, der Titel der Originalausgabe, auch der Name der Hauptfigur ist, kann ich die Titelgebung nicht verstehen. Wenn »Reinheit« dem Rowohlt Verlag nicht behagte, wäre »Purity« auch für die deutsche Ausgabe die bessere Wahl gewesen.
Einen Einblick in das Buch sowie ein Interview mit Jonathan Franzen
bietet dieser Videoauszug von Kulturplatz vom 09.09.2015:
Sich in die vierundzwanzigjährige Pip hineinzuversetzen, schien Franzen leicht zu fallen, denn wie er glaubt, werden Schriftsteller sowieso nie ganz erwachsen. Allerdings habe er Pip, seine jüngste Hauptfigur, ohne jugendlichen Idealismus ausgestattet, über den alle anderen Figuren im Roman, egal welchen Alters, reichlich verfügen. So vollzieht Pip mit ihrer Mutter Anabel quasi einen Rollentausch und übernimmt ganz die Stimme der mütterlichen Vernunft.
Die Moderatorin des Abends, Felicitas von Lovenberg, verantwortlich für das Ressort „Literatur und Literarisches Leben“ der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, hat Jonathan Franzen schon kurz vor Erscheinen seines neuen Romans ausführlich interviewt. Den lesenswerten Artikel finden Sie hier. Doch auch im Thalia Theater erzählte Franzen viel über seine Arbeit. Auf die Frage, wieviele seiner Ideen erst beim Schreiben entständen, entgegnete der Autor:
»Es muss irgendwie ein Abenteuer sein, das Buch zu schreiben, oder ich finde es langweilig.
I don’t figure out the story too much.«
Von Lovenberg fragte den Romancier, wo seine Figuren blieben, wenn der Roman beendet sei und ob er dann stets eine Fortsetzung im Kopf habe. Franzen entgegnete, dass ihn die Figuren nach der Fertigstellung des Romans nicht mehr interessierten. Er hätte beim Schreiben eine intensive Affäre mit ihnen, aber sobald der Roman fertig sei, wäre Schluss. Er glaubt sogar, das Buch wäre nicht wirklich fertig, wenn mit den Personen noch etwas anzufangen sei.
»You can do anything as a novellist.«
Franzens fünfter Roman »Unschuld« bietet mit über 800 Seiten den gewohnten Umfang, doch hatte er nach »Die Korrekturen« noch neun Jahre gewartet, so erschien sein aktuelles Werk nur fünf Jahre nach seinem letzten großen Roman »Freiheit«. Dennoch schreiben einige Rezensenten, dass es sich um sein bisher reifstes und komplexestes Werk handelt. Da die deutschen Leser inzwischen ebenso auf jedes neue Buch von Jonathan Franzen warten, erschien die deutsche Ausgabe im Rowohlt Verlag schon vier Tage nach der Originalausgabe.
Fazit: Etwa 1.000 Menschen wollten Jonathan Franzen und seinen neuen Roman »Unschuld« im Thalia Theater entdecken. Die Erwartung an einen einzelnen Mann allein auf der Bühne ist groß gewesen, aber schon in der im Hinblick auf den Umfang von 832 Seiten relativ kurzen Lesung haben mich Franzens Personenporträts, seine Dialoge und sein Humor überzeugt. Ich freue mich auf die Lektüre und danke dem Literaturhaus Hamburg für den schönen Abend.
Jonathan Franzens Roman »Unschuld« ist im September 2015 im Rowohlt Verlag erschienen – gebunden, 832 Seiten, EUR 26,95, ISBN 978-3498021375, übersetzt von Bettina Abarbanell und Eike Schönfeld.
Über den Autor: Jonathan Franzen, 1959 geboren, erhielt für seinen Weltbestseller «Die Korrekturen» 2001 den National Book Award. Er veröffentlichte außerdem die Romane «Die 27ste Stadt», «Schweres Beben» und «Freiheit», das autobiographische Buch „Die Unruhezone“, die Essaysammlungen «Anleitung zum Alleinsein» und «Weiter weg» sowie „Das Kraus-Projekt“. Er ist Mitglied der amerikanischen Academy of Arts and Letters, der Berliner Akademie der Künste und des französischen Ordre des Arts et des Lettres. 2013 wurde ihm für sein Gesamtwerk der WELT-Literaturpreis verliehen. Er lebt in New York und Santa Cruz, Kalifornien.
Laila Mahfouz, 9. Dezember 2015
Links:
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