12. März 2015: Der erste Messetag überraschte mit wunderbaren Lesungen, intelligenten Autoren und spannenden Büchern, aber auch mit manch einer noch immer nicht geänderten Unannehmlichkeit für die Messebesucher.
Da Leipzig für uns Hamburger nun einmal nicht um die Ecke liegt, begann der letzte Donnerstag sehr früh. Um 5:15 Uhr fuhren wir los und rollten um 9:30 Uhr auf den Presseparkplatz. Mit der Vorab-Akkreditierung lief alles wie gewohnt reibungslos und freundlich. Pünktlich zur ersten von mir aus dem riesigen Angebot an Veranstaltungen herausgesuchten Lesung zu erscheinen, war daher ein Leichtes.
10:30 Uhr – 3sat Glashalle, Stand 18 – Norbert Scheuer – Lesung und Gespräch zu seinem Roman „Die Sprache der Vögel“: Der passionierte Vogelbeobachter Norbert Scheuer, der mit seinem diesen Monat erschienenen Roman „Die Sprache der Vögel“ für den Preis der Leipziger Buchmesse 2015 in der Kategorie Belletristik nominiert war, erzählte, dass er schon lange nach einer Möglichkeit gesucht hatte, seine Liebe zu den Flugkünstlern literarisch zu verarbeiten und wie schwierig sich teilweise die Recherche gestaltete. Sein Protagonist reist als Sanitäter nach Afghanistan, um die dort heimischen Vogelarten studieren zu können. Norbert Scheuer sprach mit einigen Soldaten, die in Afghanistan im Einsatz waren, um die Verhältnisse glaubhaft zu spiegeln. Der überaus sympathische Autor wählte als Lesungsauszug eine Stelle am Ende des Buches. Da ich es am Vortag zu lesen begonnen hatte, kam dies doch sehr überraschend. Nach der Lektüre des Romans kann ich nun sagen, es ist ein wunderbares Beispiel dafür, dass man Bücher über Dinge schreiben kann, ohne sie selbst gesehen oder erlebt zu haben. Danke an Norbert Scheuer für dieses kraftvolle und zugleich zarte Beispiel für die Macht der Phantasie. Da ich selbst Vogelbeobachterin bin, ist mir dieser Roman und auch die Hauptperson sehr nah und meiner Meinung nach ist der Roman sehr verdient nominiert worden.11:00 Uhr – Literaturforum Halle 4, Stand E101 – Vorstellung der Nominierten für den Preis der Leipziger Buchmesse 2015 in der Kategorie Belletristik: Wie gern hätte ich – wie auch zahlreiche weitere Messebesucher – dieser Vorstellung der Nominierten gelauscht, aber bei diesen erbärmlichen räumlichen Verhältnissen war daran gar nicht zu denken. Der Lesungsort bot unter 100 Sitz- und etwa noch einmal 150 Stehplätze und die sonst nach außen gerichtete Leinwand gab es in diesem Jahr nicht. Stattdessen befand sich direkt hinter dem Stand eine große Halle mit einem Crêpes-Stand und Tischchen. Auch sehr nett, aber in diesem Fall einfach Platzverschwendung. Am Ende des Gastronomiebereichs ist gut ein Drittel der Halle mit einem Vorhang abgedeckt gewesen. Der Blick hindurch zeigte, sie war leer und dort hätte man sicher ebenso gut die Tische und Stände aufbauen und der wichtigen Veranstaltung den angemessenen Raum geben können. Ich hoffe, die Messe Leipzig wird dies in den kommenden Jahren ändern. Gleiches gilt hier natürlich ebenfalls für die Vorstellung der Nominierten in den Kategorien Sachbuch und Übersetzung.
Da es utopisch war, auch nur einen Blick auf die Nominierten zu erhaschen oder einen Satz zu verstehen, haben wir uns einem Crêpes-Frühstück zugewandt. Ich gehöre nicht zu den Kaffeetrinkern, aber mein Mann Anders Balari, unser Photograph, hat sich nach dieser kurzen Nacht und langen Fahrt doch sehr auf einen Becher Kaffee gefreut. Leider war es trotz ständig wachsender Anzahl von Menschen, die unter Laktoseintoleranz leiden, auf dem gesamten Messegelände nicht möglich, einen Kaffee mit Milchersatz zu bekommen (von der zum Glück ebenfalls ständig steigenden Anzahl der Veganer mal ganz abgesehen).
12:00 Uhr – Frankfurter Allgemeine Zeitung FAZ Halle 4, Stand D101 – Julia Encke im Gespräch mit Katja Kraus zu ihrem Buch „Freundschaft. Geschichten von Nähe und Distanz“: Die Nominierten konnten wir zwar nicht erleben, aber dafür nun Katja Kraus, die als Torhüterin gleich dreimal deutsche Meisterin im Frauenfußball wurde (1986, 1995, 1998). Da sie auch Germanistik (und Politik) studiert hat, mag das vorliegende Buch nicht allzu sehr verwundern. Mit sehr persönlichen Worten und Geschichten stellt die Autorin im Gespräch mit Julia Encke ihr Buch vor, in dem Roger Willemsen, Maria Höfl-Riesch, Barbara Auer, Jürgen Flimm, Egon Bahr, Jürgen Klopp, Gregor Gysi, Claudia Roth, Ali Mahdjoubi, Sahra Wagenknecht, Rene Adler, Manfred Bissinger, Sylvia Bovenschen, Jean Remy von Matt, Benjamin Lebert, Christoph Metzelder, Marina Weisband, Joseph Vogl, Bettina Böttinger, Herbert Hainer und Andrea Fischer der Autorin ungewöhnlich offen Auskunft über ihr Verständnis von Freundschaft und deren Bedeutung in ihrem Leben geben. 13:00 Uhr – Frankfurter Allgemeine Zeitung FAZ Halle 4, Stand D101 – Felicitas von Lovenberg im Gespräch mit Jan Weiler zu seinem Roman „Kühn hat zu tun“: Jan Weiler, der Schöpfer oftmals aberwitziger Romanhandlungen hat in seinem neuen Werk ein ernstes und zunehmend problematisches Thema in einer Krimi-Handlung verpackt. Sein Kommissar Kühn hat nicht nur zu tun, er ist mit diesem Tun in jeder Hinsicht masslos überfordert. Auf die Frage, warum Jan Weiler erstmals solch ernste Töne anschlägt, antwortete der Autor: „Man braucht immer den Ton, den der Text braucht.“ Auch sei er niemand, der einfach los schreibe. Er starre gern bei Bahnfahrten aus dem Fenster und bastele so an den Figuren und der Handlung. „Wie Knetgummi, aber im Kopf“, sagte er und das funktioniert richtig gut. Ich jedenfalls bin sehr neugierig geworden auf diesen Kühn, der sicher dennoch ein richtiger Weiler ist. 14:00 Uhr – ARTE Glashalle, Stand 11 – Lerke von Saalfeld im Gespräch mit Sherko Fatah, dem aktuellen Adelbert-von-Chamisso-Preisträger – „Der letzte Ort“: In einem kurzen, sehr liebevoll gestalteten Film stellte ARTE den Autor vor. Sherko Fatah erzählt in seinem aktuellen Roman „Der letzte Ort“ von der Entführung des deutschen Albert und seinem Übersetzer Osama und zeichnet in diesem literarischen Thriller ein Psychogramm beider Figuren. Die Zeit der Handlung ist ein paar Jahre in die Vergangenheit versetzt und doch gewinnt der Roman durch die Zerstörungen von Kunstschätzen durch die ISIS an trauriger Aktualität. Der Autor warf im Gespräch die Frage auf, wie wir in unserer kleinen Welt damit umgehen, dass wir in verschiedenen Zeitaltern leben: Mittelalter, Steinzeit und Science Fiction… Tja, wie? Auf jeden Fall noch immer nicht richtig und ich denke, bevor das Vermögen nicht einigermaßen gerecht aufgeteilt ist, wird sich an diesem Zustand auch nichts ändern lassen… 16:00 Uhr – Preis der Leipziger Buchmesse 2015 in den Kategorien Sachbuch, Übersetzung und Belletristik: In der Kategorie Sachbuch gewann Philipp Ther für sein Buch „Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent: Eine Geschichte des neoliberalen Europa“. Mirjam Pressler erhielt den Preis für ihre Übersetzung des Romans „Judas“ von Amos Oz, der ebenfalls bei der Preisverleihung anwesend war und eine bewegende Rede hielt. Jury: „Mit kunstvoller Zurückhaltung trifft Mirjam Pressler den Ton dieses großen Erzählers und macht seine schroffe Wärme auch auf Deutsch spürbar.“ Dass Jan Wagner die Auszeichnung in der Kategorie Belletristik für seinen Gedichtband „Regentonnenvariationen“ erhielt, überraschte am meisten den Autor selbst, der sich aber dann sichtlich freute. Jury: „Ein Gedichtband, in dem die Regentonne zur Wundertüte wird, der Giersch zur Gischt, Unkraut und unreiner Reim ihren Charme entfalten und die Lust am Spiel mit der Sprache vor den strengen Formen nicht Halt macht: Lyrik voller Geistesgegenwart.“ Einen Auszug aus dem schönen Gedichtband findet man auf der Seite des Hanser Verlages. 16:30 Uhr – Die Unabhängigen Verlage Halle 5, Stand E309 – Jens Steiner – Lesung – „Junger Mann mit unauffälliger Vergangenheit“: Um 15:30 Uhr trennten sich unsere Wege, da Anders als Photograph bei der Preisverleihung dabei sein durfte und ich in der Zeit eine weitere Lesung genoß. Ausgesucht hatte ich mir Jens Steiners Vorstellung seines Romans „Junger Mann mit unauffälliger Vergangenheit“. Schon mit seinen ersten beiden Romanen „Hasenleben“ und „Carambole“ stand Jens Steiner auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. In seinem aktuellen Buch erzählt der Autor in leichtem Ton, wie ich mich bei der Lesung überzeugen konnte, eine Geschichte über Handlungsfreiheit sowie Selbst- und Fremdbestimmung, als sein Protagonist sich plötzlich als Gefangener in einer fremden Wohnung wiederfindet und erfährt, dass er als Hauptverdächtiger einer Entführung gesucht wird. 18:30 Uhr – Bibliotheca Albertina, Vortragssaal – Klaus Modick im Gespräch mit seinem Lektor Olaf Petersen – „Konzert ohne Dichter“: Worpswede um 1900 – hinter den Kulissen der legendären Künstlerkolonie. Heinrich Vogeler ist auf der Höhe seines Erfolgs als Rainer Maria Rilke nach Worpswede kommt und die Kunst wie auch die Frauen durcheinander wirbelt. Was Vogeler und Rilke zueinander bringt und wieder trennte, von ihrer Kunst (Rilke ist Anfang 20 und noch in Dichterkinderschuhen), vom Geld und der Abhängigkeit von Mäzenen, von dem angeblichen Feminismus in der Kunst und der Realität von Paula Modersohn-Becker und Clara Rilke-Westhoff, von all dem erzählt Klaus Modick auf kunstvolle Weise.Ein Künstlerroman, einfühlsam, zeitgemäß und kenntnisreich. Die Dialoge beziehen sich fast ausschließlich auf erhaltene Briefe. Inspiriert hat Klaus Modick das Gemälde „Konzert (Sommerabend auf dem Barkenhoff)“ von Heinrich Vogeler. Ein Platz ist frei, als warte er nur auf Rilke. Das Buch ist bei Kiepenheuer & Witsch erschienen und innen ist im Einband das Gemälde abgedruckt worden. 20:30 Uhr – Bibliotheca Albertina, Vortragssaal – Dietmar Dath – Lesung – „Deutsche Demokratische Rechnung: Eine Liebeserzählung“: Wir waren zwar schon sehr müde, aber da Dietmar Dath zu den intelligentesten Autoren unseres Landes gehört, waren wir gespannt auf seine Lesung. Der Vielschreiber unter den deutschen Autoren stellte seinen aktuellen Roman „Deutsche Demokratische Rechnung: Eine Liebeserzählung“ über die Positionierung heutiger Politaktivisten und Linker vor. Seine Protagonistin Vera gerät mehr zufällig in einen Kreis politischer Aktivisten und lernt den Journalisten Frigyes kennen. Durch ihn erhält sie die Möglichkeit, sich behutsam mit dem Vermächtnis ihres Vaters auseinander zu setzen, der einst der Neuen Ökonomischen Politik Walter Ulbrichts das wissenschaftliche Zahlenwerk gab. Zum Abschluss stellte Dietmar Dath sich den Fragen des Publikums.
Natürlich blieb die Suche nach vegetarischer Nahrung auf dem Messegelände auch in diesem Jahr bis auf klägliche Ausnahmen erfolglos, so dass wir auf dem Weg zum Hotel noch eine Tankstelle „überfallen“ mussten. Erwähnt sei der Tipp, in Halle zu übernachten, wenn man mit einem Auto zur Messe reist. Der Weg beträgt unter 30 Minuten und die Unterkunft ist wesentlich günstiger und auch noch kurzfristig verfügbar.
Ein anstrengender erster Messetag ging zu Ende und wir schliefen selig träumend von zigtausend um unsere Köpfe schwebende Worte und freuten uns mit einem Lächeln schon auf die nächsten Tage, Lesungen, Autoren, Bücher, Bücher, Bücher…
Laila Mahfouz, 17. März 2015
Links:
Hier findet Ihr eine Fotostrecke zu unserem Messebesuch Tag 1. Sollten Autoren oder Verlage Fotos nutzen wollen, nehmen Sie bitte Kontakt mit Anders Balari auf. Vielen Dank!
Unser Messebericht zu Tag 2 – 3 findet sich hier
Website von Laila Mahfouz
Website vom Photographen Anders Balari