Wakayama Bokusuis Gedichtband »In der Ferne der Fuji wolkenlos heiter« stellt eine Auswahl von 250 Tanka des japanischen Meisters dieser Dichtung vor. Vom Japanologen Eduard Klopfenstein in eine moderne deutsche Sprache übersetzt, spiegeln die Texte Bokusuis ein spannendes Bild der für die meisten europäischen Leser sicher weniger bekannten Welt der japanischen Kultur vor hundert Jahren.
Verlagstext: 31 Silben und 5 Zeilen, die die Welt anhalten:
Tanka, diese älteste Gedichtform Japans, bannt den Augenblick zu einem lyrischen Schnappschuss des Lebens. Ursprung des Haiku, schließen sich auch beim Tanka Spontanität und tiefe Allgemeingültigkeit nicht aus, wie die vorliegende Auswahl eindrücklich beweist: Sie folgt in über 250 Fünfzeilern dem japanischen Tanka-Großmeister Wakayama Bokusui, zeugt von dessen intensiven Naturbegegnungen, von gelingender und vergehender Liebe und tiefen seelischen Krisen. Radikal subjektiv, doch angenehm unpathetisch im Ton, lassen seine 100 Jahre alten Gedichte einen modernen Zeitgenossen erkennen.
Tanka sind mit ca. 1300 Jahren die älteste Gedichtform Japans. Sie verbinden üblicherweise Naturerlebnisse oder Alltagssituationen mit typisch fernöstlicher Weisheit und sind nicht im Reim geschrieben. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfuhr die Waka-Dichtung eine Erneuerung in Japan und auch wenn Wakayama Bokusui diese neue Lyrik-Bewegung nicht initiierte, so macht ihn sein 15 Tanka-Bände umfassendes Werk doch zu dem führenden Dichter dieser Epoche. Das fünfzeilige Kurzgedicht Tanka erfreut sich in Japan heute äußerster Beliebtheit und ist untrennbar mit dem Namen Wakayama Bokusuis verknüpft.
Zum ersten Mal sind nun die Tanka des Dichters auch in deutscher Sprache zu genießen. Das ist dem Japanologen Eduard Klopfenstein zu verdanken, der 2010 mit dem Orden der Aufgehenden Sonne ausgezeichnet wurde. Für den Gedichtband »In der Ferne der Fuji wolkenlos heiter« wählte Klopfenstein aus dem dichterischen Gesamtwerk Bokusuis 250 Gedichte, die er auch übersetzte. Das Buch teilt die Tanka in fünf Gruppen zu je zwei bis fünf Sammlungen mit zwischen vierzig und sechzig Gedichten pro Gruppe ein. Berücksichtigt werden fünf wichtige Lebensabschnitte des Dichters. Wenn möglich wurden Ort und Datum jedes Tanka vermerkt. An einigen Stellen sind sie auch durch Bemerkungen des Autors ergänzt.
Vervollständigt wird diese besondere Sammlung durch ein fünfzehnseitiges Nachwort von Eduard Klopfenstein zur Biografie Wakayama Bokusuis und dessen Werk, eine siebenseitige Abhandlung »Wakayama Bokusui und die Entdeckung des modernen »Ich«« von Eduard Klopfenstein sowie Literaturhinweise und eine Inhaltsangabe. Ich empfehle, das Nachwort zuerst zu lesen, um die Gedichte und ihre Anordnung im vorliegenden Band noch besser einordnen und verstehen zu können.
»Angelehnt neige ich
mein Gesicht zum Baum hin
Da pocht an die Wange
kaum spürbar der Pulsschlag
des herbstlichen Waldes«
Herbst 1906, Seite 10
Tanka werden original in einer Zeile ohne Satzzeichen geschrieben. Für die 250 Tanka des Dichters Wakayama Bokusui wurde in der Übersetzung die bei uns übliche Darstellung in fünf Versen gewählt. Von dem erst viel später (aus dem Tanka) entstandenen Haiku unterscheidet sich ein Tanka durch seine Länge – so werden sie im Deutschen auch als Fünfzeiler statt als Dreizeiler wie ein Haiku dargestellt.
Ein Tanka zeichnet sich außerdem dadurch aus, am Ende eine Wendung zu enthalten, was in den vorliegenden deutschen Übersetzungen nicht immer ganz gelingen will. Dies liegt aber wohl weder am Dichter Wakayama Bokusui noch an der Übersetzung; vielmehr ist es ein grundsätzliches, sprachliches Übertragungsproblem, das besonders bei Sprachen aus so unterschiedlichen kulturellen Welten und speziell in jeder Form der poetischen Sprache auftritt. Viele Tanka erfüllen allerdings ganz die Erwartungen und zeichnen starke Bilder mit gelungenen Wendungen. Hier ein paar Beispiele:
»Den Fluss hinunter
geht es zum Meer: blau wogende
Wellen – die Stadt
gefärbt von aufbrechenden
Knospen der Bergkirschbäume«
Februar 1907, Seite 12
»Frühlingsdunst –
verschleierte Mondnacht –
Wir auch
wandelten dahin gleich Schatten
abgefallener Blätter«
Februar 1909, Seite 22
»Wellen Wellen Wellen
Wellen auf hoher See
Wellen am Strand
He wartet wartet! Auch ich
will hinunter vom Berg«
Oktober 1911, Seite 37
Neben den wunderschönen Naturbeschreibungen, welche die besonders feine Beobachtungsgabe Wakayama Bokusuis und oft seine fast schon obsessive Beschäftigung mit dem Berg Fuji verdeutlichen, sind auch viele Gedichte enthalten, die sich mit Liebe und Alltagssituationen beschäftigen. Allen Gedichten ist der melancholische Ton gemein; und überdeutlich ist Bokusuis unruhiger Geist und seine depressive Art zu erkennen.
»Ein Leben
ohne Licht das gibt es –
In einer solchen
Welt sein Dasein fristen …
Welche Einsamkeit«
Januar 1910, Seite 27
»Von aller Welt vergessen
schattenhaft allein
ist da ein Mensch
der weiter weiter treibt
auf seiner Reise«
Herbst 1910, Seite 31
Viele Tanka beschäftigen sich auch mit der Liebe Wakayama Bokusuis zum Sake, dem japanischen Reiswein. Diese Gedichte geben sich zwar heiter, doch ist der jahrzehntelange, intensive Alkoholkonsum des Dichters wohl schuld daran, dass er bereits im Alter von nur 43 Jahren verstarb. Vor seinem Tod schrieb er noch einen letzten Haiku:
»Jisei nado
zansetsu ni ka mo
nakarikeri«
»Ein Abschiedswort?
Der schmelzende Schnee
ist geruchlos.«
September 1928
Fazit: Öffnete sich zur Zeit Wakayama Bokusuis gerade erst das jahrhundertelang abgeschottete Japan und ließ auch in der Kunst Einflüsse des Naturalismus und des Impressionismus zu, so entsprach dies dem Naturell des in ursprünglicher Natur aufgewachsenen Wakayama Bokusui. Die Natur wird in dieser Auswahl von 250 Tanka auf vielerlei Weise besungen – die Schönheit einer ganzen Landschaft, eines Berges oder eines kleinen Details. Zwischen den Zeilen dieser scheinbar alltäglichen Beobachtungen finden sich enorm viele Interpretationsmöglichkeiten. Mit dem Wissen um den Ort, die Zeit und die Biografie des Dichters lassen sich die Texte allerdings meist eindeutig verstehen.
Wakayama Bokusui war ein Getriebener, ein ewig Suchender, der seinen Platz in der Welt nie ganz gefunden hat und den daher die Ferne wieder und wieder anzog.
Wakayama Bokusuis Gedichtband »In der Ferne der Fuji wolkenlos heiter«, der im Manesse Verlag als schöne, gebundene Ausgabe mit Schutzumschlag und mit dem Berg Fuji als Prägung auf dem Buchrücken erschien, ist ein Muss für alle Freunde der Lyrik und der ostasiatischen Kultur.
Unter dem Titel »Klassiker der japanischen Literatur bei Manesse – Tanka und Haiku, Romane und Essays: Schlüsseltexte der japanischen Literatur« finden Sie auf einer Spezial-Seite des Verlages noch weitere interessante Infos.
Wakayama Bokusuis Gedichtband »In der Ferne der Fuji wolkenlos heiter« ist im März 2018 für EUR 16,00 in der Übersetzung und Zusammenstellung von Eduard Klopfenstein im Manesse Verlag erschienen – gebunden, 144 Seiten, 5 Kalligrafien, ISBN 978-3717524526.
Wer mehr lesen möchte, findet hier eine Leseprobe.
Über den Autor: Wakayama Bokusui (jap. 若山 牧水 wirklicher Name: Wakayama Shigeru (若山 繁); * 24. August 1885 in der Präfektur Miyazaki; † 17. September 1928) wuchs in einem entlegenen Tal der japanischen Insel Kyūshū auf. Noch während seines Studiums in Tōkyō veröffentlichte er einen ersten Gedichtband und galt schon wenig später als eine der führenden Dichterpersönlichkeiten des Landes.
Laila Mahfouz, 23. August 2018
Links:
Mehr zu Wakayama Bokusui auf der Seite des Manesse Verlages.
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Informationen zu Laila Mahfouz