Lesung am 25. Oktober 2017 im Liebermann-Studio in Hamburg: Eingeladen vom Literaturhaus Hamburg und von NDR Kultur las Colson Whitehead aus seinem Roman »Underground Railroad« und sprach mit Jan Ehlert über die Arbeit an seinem Beststeller.
Handlung (Verlagstext): Cora ist nur eine von unzähligen Schwarzen, die auf den Baumwollplantagen Georgias schlimmer als Tiere behandelt werden. Alle träumen von der Flucht – doch wie und wohin? Da hört Cora von der Underground Railroad, einem geheimen Fluchtnetzwerk für Sklaven. Über eine Falltür gelangt sie in den Untergrund und es beginnt eine atemberaubende Reise, auf der sie Leichendieben, Kopfgeldjägern, obskuren Ärzten, aber auch heldenhaften Bahnhofswärtern begegnet. Jeder Staat, den sie durchquert, hat andere Gesetze, andere Gefahren. Wartet am Ende wirklich die Freiheit? Colson Whiteheads Roman ist eine virtuose Abrechnung damit, was es bedeutete und immer noch bedeutet, schwarz zu sein in Amerika.
Der große Saal des Rolf-Liebermann-Studios war rasch gefüllt, denn immerhin wurde Colson Whitehead für »Underground Railroad«, seinem Bestseller über eines der dunkelsten Kapitel der Geschichte Amerikas, mit dem National Book Award, dem Pulitzer-Prize, dem Arthur C. Clarke Award für den besten Science-Fiction-Roman und der Andrew Carnegie Medal for Excellence ausgezeichnet. Oprah Winfrey wählte den Roman für ihren Buchclub aus und er war 32 Wochen Teil der Bestsellerliste der New York Times. Außerdem stand der Roman 2017 auf der Longlist des Man Booker Prize.
Abgesehen von den surrealen Elementen hätte alles genauso gewesen sein können. Doch Colson Whitehead war nicht daran interessiert, sich genau an Fakten zu halten, wie er sagte, er wollte sich an die Wahrheit halten. Denn sie besteht aus mehr als nur Fakten.
Um die Wahrheit der Unterdrückung der afroamerikanischen Bevölkerung der USA zu zeigen, verwendete er auch Geschehnisse, die in unserer nahen Vergangenheit passiert sind und versetzte diese in die Zeit der Sklaverei um einen Blick auf das heutige Amerika zuzulassen. Diese Vorgehensweise in Verbindung mit der Verwandlung des Sklaven-Rettungsnetzwerks »Underground Railroad« hält den Roman im Gleichgewicht zwischen Realismus und Fantastik.
Waren Whiteheads Romanfiguren in der Vergangenheit meistens männlich, so war er in diesem Fall überzeugt davon, eine Geschichte von Frauen erzählen zu müssen, weil der weibliche Aspekt der Sklaverei ein spezielles Kapitel darstellt, das für seine Geschichte wichtig war. Besonders die Mutter-Tochter-Beziehung reizte ihn, da die beiden so unterschiedliche Frauen verkörpern.
»Als Caesar das erste Mal von einer Flucht in den Norden redete, sagte Cora nein.
Da sprach ihre Großmutter aus ihr. Vor jenem gleißend hellen Nachmittag im Hafen von Ouidah, als das Wasser sie nach ihrer Zeit im Kerker des Forts blendete, hatte Coras Großmutter noch nie den Ozean gesehen. Sie wurden bis zur Ankunft der Schiffe im Kerker verwahrt. Räuber aus Dahomey entführten zuerst die Männer und kehrten dann zurück, um die Frauen und Kinder zu holen, die sie, zu zweit aneinandergekettet, ans Meer trieben. […]
Coras Großmutter wurde auf dem Treck zum Fort ein paarmal verkauft, wechselte für Kaurimuscheln und Glasperlen den Besitzer, wie viel man in Ouidah für sie bezahlte, war schwer zu sagen, denn sie war Teil eines Großeinkaufs, achtundachtzig Menschenseelen für sechzig Kisten Rum und Schießpulver, ein Preis auf den man sich nach dem üblichen Gefeilsche in Küstenenglisch einigte.«
Ajarry / Auszug aus dem Anfang des Romans
Am Anfang der Familiengeschichte steht Coras Großmutter Ajarry, die gekauft wird, um möglichst viele Nachkommen und somit kostenlose Arbeitskräfte in die Welt zu setzen. Ajarrys Tochter Mabel wird schließlich selbst Mutter von Cora, doch lässt sie ihr Kind auf der Plantage des sadistischen Sklavenhalters Terrance Randall zurück, als das Mädchen erst acht Jahre alt ist. Mabel ist die einzige Sklavin, die je von dieser Plantage hat fliehen können. Terrance Randall und der Sklavenjäger Ridgeway versuchen Mabel mit stetig steigenden Kopfgeldern ausfindig zu machen, während die kleine Cora, die eigentliche Heldin des Romans, fassungslos die Nachricht verdauen muss, dass ihre Mutter sie ohne ein Wort des Abschieds für ihre eigene Freiheit ihrem Schicksal überlassen hat. Ridgeway wird im weiteren Verlauf zum Antagonisten des Romans.
Vor mehr als sechzehn Jahren, als Colson Whitehead zum ersten Mal die ungewöhnliche Romanidee zu »Underground Railroad« kam, fühlte sich der junge Autor noch nicht reif genug für solch eine Geschichte, gab er unumwunden zu. Allerdings ließ ihn die Geschichte nicht mehr los.
»Underground Railroad« ist ein fiktiver Roman, doch Colson Whitehead war inspiriert von Harriet Ann Jacobs und die Slave narrative dienten ihm als Nachschlagewerke, die er für seinen Roman nutzen konnte. Diese Sammlung von Erlebnisberichten der Sklaven war in den 1930er Jahren von der Regierung Franklin D. Roosevelts initiiert worden.
Und was genau hat es mit dem Romantitel auf sich? Nun, die Underground Railroad war die Bezeichnung für das weitverzweigte Netzwerk, das weiße Sklavereigegner aufgebaut hatten, um Sklaven zur Flucht in den Norden der USA zu verhelfen. Da Colson Whitehead sich als Kind dieses Netzwerk tatsächlich als Untergrundbahn vorgestellt hatte, war der Gedanke, es ebenso für den Roman zu verwenden, nicht mehr weit. In »Underground Railroad« ist diese eine wirkliche Eisenbahn mit Haltestellen an geheimen und gut verborgenen unterirdischen Bahnhöfen, von deren Existenz keiner der Verfolger weiß.
»Underground Railroad« ist nicht nur ein Buch gegen die Unterdrückung von Menschen schwarzer Hautfarbe, so Whitehead. Vielmehr ist es ein Buch gegen Rassismus im Allgemeinen geworden, denn dieser richtet sich gegen alles, gegen Homosexualität, gegen Frauen, gegen Moslems, gegen Juden, gegen Mexikaner, eben eine Unterdrückung jeder Minderheit.
»Es war ihre Großmutter, die an jenem Sonntagabend aus Cora sprach, als Caesar von der Underground Railroad redete und sie nein sagte.
Drei Wochen später sagte sie ja. Diesmal sprach ihre Mutter aus ihr.«
Fazit: Wie soll der heutige Rassismus erklärt und überwunden werden, wenn nicht zuvor ein ausführlicher, analytischer und ehrlicher Blick auf die Sklaverei geworfen wird? Colson Whiteheads Roman »Underground Railroad« zu lesen, lässt verstehen, wie tief der Graben zwischen weißen und schwarzen US-Amerikanern noch immer ist. Dieser Roman trägt zum besseren Verständnis bei und ist allein schon deshalb ein wichtiger Beitrag. Außerdem schafft er es auch noch auf künstlerischer Ebene ansprechend zu bleiben. Faszinierende Gedankenexperimente erwarten die Leser!
Übrigens wird Amazon »Underground Railroad« als Serie verfilmen.
Colson Whiteheads Roman »Underground Railroad« ist im August 2017 für EUR 24,00 in der Übersetzung von Nikolaus Stingl im Hanser Verlag erschienen – gebunden, 352 Seiten, ISBN 978-3446256552.
Wer in den Roman reinlesen möchte, findet hier eine Leseprobe.
Über den Autor: Colson Whitehead, 1969 in New York geboren, studierte an der Harvard University und arbeitete für die New York Times, Harper’s und Granta. Whitehead erhielt den Whiting Writers Award (2000) und den Young Lion’s Fiction Award (2002) und war Stipendiat der MacArthur „Genius“ Fellowship. Für seinen Roman »Underground Railroad« wurde er mit dem National Book Award 2016 und dem Pulitzer-Preis 2017 ausgezeichnet. Bei Hanser erschienen bisher »John Henry Days« (Roman, 2004), »Der Koloß von New York« (2005), »Apex« (Roman, 2007), »Der letzte Sommer auf Long Island« (Roman, 2011), »Zone One« (Roman, 2014) und »Underground Railroad« (Roman, 2017). Der Autor lebt in Brooklyn.
Laila Mahfouz, 29. Januar 2018
Links:
Unsere Fotostrecke zur Veranstaltung finden Sie hier. Die Rechte an den Fotos liegen bei Laila Mahfouz.
Informationen auf den Seiten des Hanser Verlages finden Sie hier.
Die Website von Colson Whitehead finden Sie hier.
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Informationen zu Laila Mahfouz finden Sie hier.