Lesung am 15. September 2017 in der Freien Akademie der Künste Hamburg: Franz Hohler stellte im Rahmen des Harbour Front Literaturfestivals seinen aktuellen Roman »Das Päckchen« vor und las dem zahlreich erschienenen Publikum ausgewählte Passagen auf unnachahmliche Weise vor.
Handlung (von der Verlagsseite übernommen:Als er gerade dienstlich in Bern ist, erreicht den Zürcher Bibliothekar Ernst ein offensichtlich irregeleiteter Anruf. Am anderen Ende der Leitung ist eine ihm unbekannte Frau, die ihn anfleht, umgehend zu ihr zu kommen. Aus einer Augenblickslaune heraus begibt sich Ernst zu der nahe gelegenen Adresse. Dort erwartet ihn eine alte Frau und drückt ihm ein Päckchen in die Hand mit der Bitte, es zu verwahren, damit es nicht in falsche Hände gerate. Zu seiner eigenen Verblüffung kommt Ernst der Bitte nach. Als er das Päckchen bei sich zu Hause öffnet, entdeckt er eine alte Handschrift, die er als ein Exemplar des »Abrogans« erkennt, eines lateinisch-althochdeutschen Wörterbuchs, das als ältestes deutschsprachiges Buch überhaupt gilt. Sollte es sogar das bisher verschollene Original sein? Was, fragt sich Ernst, hat es mit diesem Fund auf sich? Und was soll er jetzt am besten tun …
»Warum er den Hörer abgenommen hatte, konnte er sich später nicht mehr erklären. […]
Er […] wollte von einem der wenigen öffentlichen Telefonapparate, die es noch gab, seine Frau anrufen, […] als der Apparat neben ihm klingelte. […]
Da machte er einen Schritt, hob den Hörer und sagte: »Hallo?«
»Ernst«, sagte eine weibliche Stimme, »bist du es?«
Er erschrak. Er hieß Ernst.«
Franz Hohler gilt als einer der bedeutendsten Erzähler der Schweiz. Seit 1968 hat er mehr als zwei Dutzend Auszeichnungen in den Bereichen Literatur und Kabarett erhalten. Meine Erwartungen an den Roman waren entsprechend hoch und wurden erfüllt.
Im Zentrum des Romans «Das Päckchen» steht das älteste Buch der deutschen Sprache »Der Abrogans«. Diese Tatsache allein macht den Roman für Freunde der Literatur schon lesenswert. Der mittelalterliche Schatz wird dann auch zum Bindeglied der beiden parallel erzählten Handlungsstränge:
Einerseits ist da der Zürcher Bibliothekar Ernst Stricker, der sich fragt, wie er mit dem Fundstück weiter verfahren sollte. Dabei gerät er in immer groteskere Situationen und begibt sich mehr als einmal in Gefahr. Selbst vor einer abenteuerlichen Gletschertour um die Berglihütte über dem Jungfraujoch schreckt er auf seiner Suche nicht zurück.
Andererseits katapultiert Hohler seine Leser in die Welt des 8. Jahrhunderts, wo der unfreiwillige Benediktinermönch Haimo gerade in schönster Schrift die Urfassung des Abrogans auf Anweisung seines Abts anfertigt und im Anschluss daran auf die weite Reise zur Abtei Montecassino geschickt wird. Zwischendurch soll der Schreiber in verschiedenen Klöstern Halt machen, um das Wörterbuch zu kopieren und dadurch für seine rasche Verbreitung zu sorgen. Eine erhebliche Komplikation bringt die verbotene Liebe zur jungen Maria, die Haimo als junger Mann verkleidet folgt.
»Ein Wörterbuch muss man mitnehmen können, es muss zu den Leuten.
Es beginnt mit dem wichtigsten Wort der Benediktinerregel, Demut. […]«
Haimo las halblaut: »dheomodi«.
»Zuerst aber schreibst du immer das lateinische Wort. Also, was heißt Demut auf Lateinisch?«
Er drehte die Tafel um, und Haimo las: »Abrogans«.«
Der Abrogans ist seit seinem Studium eine Leidenschaft Franz Hohlers, wie dieser bei der Lesung bekannte. Er wirke auf ihn wie ein Bote aus einer anderen Zeit.
An »Das Päckchen« habe er etwa ein Jahr gearbeitet, so Hohler. Er habe das Buch in der Reihenfolge verfasst, die auch im Buch zu lesen ist, um selbst auch ein wenig Spannung zu haben, sagte er schelmisch. Seine Arbeitsmethode erklärte Franz Hohler wie folgt:
»Ab und zu habe ich eine Idee und die schreib ich nicht auf.
Ich schreibe schon lange keine mehr auf, weil ich die Erfahrung gemacht habe, dass eine Idee, die was von mir will, mehrmals zu mir kommen wird.«
Die Idee zu »Das Päckchen« kam Franz Hohler, als neben ihm tatsächlich ein Münztelefon klingelte und niemand abnahm. Er fragte sich damals, was passieren würde, wenn er abnähme, wer sich am anderen Ende der Leitung melden würde und wohin das führen könnte. So wurde diese Idee geboren.
Franz Hohler scheint ein Faible für diese Art von Geschichten zu haben, denn auch sein Roman »Gleis 4« beginnt damit, dass seiner Hauptperson etwas Ungewöhnliches zustösst, das zum weiteren Verlauf der Handlung führt.
Auch wenn die mittelalterlichen Teile von »Das Päckchen« viele dramatische Ereignisse beinhalten, so verzichtet Franz Hohler in «Das Päckchen» nicht auf Humor. Er ist eben auch Kabarettist und würzt besonders die Gegenwartsabschnitte des Buches mit einer angemessenen Prise Situationskomik, die manchmal laut auflachen lässt.
Aber schon die Beschreibungen der verträumt wirkenden, schweizerischen Hauptstadt auf den ersten Buchseiten sind für Bern-Kenner eine Freude:
»Auch hier war man nicht vor Menschen sicher, die überraschend anhielten und sich mit »Tschou!« begrüßten. Ernst kannte keine andere Stadt, in der sich so viele Menschen grüßten und dazu stehen blieben, ein Dorf, dachte er manchmal, ein Dorf, dabei ist es die Hauptstadt der Schweiz, welche im Übrigen auch die ausländischen Touristen mühelos zu schlucken vermochte, die sich etwa vor dem Zytglogge-Turm ansammelten, wenn es auf eine volle Stunde zuging, wo zum Glockenschlag symbolhaftige Figuren auf einer Drehscheibe paradierten und wo die Erklärungen der Fremdenführer im Klicken der Kameras untergingen.«
Fazit: Franz Hohlers Roman »Das Päckchen« ist eine gelungene Mischung aus historischem Roman, abenteuerlicher Schnitzeljagd und Humoreske. Zudem schafft es Franz Hohler all dies in einem erfreulich schmalen Buch zu vereinen. Auf 224 Seiten bringt er seine Leser zum Lachen, Bangen und Staunen. Außerdem lässt sich durch den gut recherchierten Roman viel Wissenswertes erfahren. Eine Leseempfehlung für einen ungemütlichen Wintertag!
Franz Hohlers Roman »Das Päckchen« ist – wie all seine Bücher seit siebenundvierzig Jahren – im Luchterhand Verlag erschienen. Erscheinungstermin 11. September 2017 / EUR 20,00 / gebunden mit Schutzumschlag, 224 Seiten, ISBN 978-3630875590.
Wer in den Roman reinlesen möchte, findet hier eine Leseprobe.
Über den Autor: Franz Hohler wurde 1943 in Biel, Schweiz, geboren. Er lebt heute in Zürich und gilt als einer der bedeutendsten Erzähler seines Landes. Hohler ist mit vielen Preisen ausgezeichnet worden, u.a. erhielt er 2002 den Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor, 2005 den Kunstpreis der Stadt Zürich, 2013 den Solothurner Literaturpreis, 2014 den Alice-Salomon-Preis und den Johann-Peter-Hebel-Preis. Sein Werk erscheint seit über vierzig Jahren bei Luchterhand – zuletzt u.a. »Der Autostopper«, »Gleis 4« und »Alt?«.
Laila Mahfouz, 19. Januar 2018
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