Lesung im Rahmen des Literaturfests Niedersachsen am 14. September 2017 im Scala Programmkino in Lüneburg: »Virtual LiteReality« ist die Überschrift des Abends, den Lisa Natalie Arnold und Robert Gwisdek nach der Programmzusammenstellung der Literaturwissenschaftler von Charlotte Milsch und Jens Meyer-Kovać gestalten.
Das Literaturfest Niedersachsen fand vom 7. bis 24. September 2017 mit insgesamt 21 Veranstaltungen statt und wurde von der VGH-Stiftung in Zusammenarbeit mit den VGH Regionaldirektionen und Mitveranstaltern vor Ort veranstaltet. NDR Kultur begleitete das Literaturfest Niedersachsen als Kulturpartner.
Das Motto 2017 lautete Raum und was passt da besser als ein Abend, der Zeit und Raum in Frage stellt? „Was ist Realität? Leben wir unser Leben wirklich? Oder werden wir gelebt, manipuliert, von außen und von anderen gesteuert?“ fragten sich die beiden Literaturwissenschaftler Jens Meyer-Kovać und Charlotte Milsch, die gemeinsam mit Joachim Otte den Literarischen Salon der Leibniz Universität Hannover leiten. Ob sich diese Fragen beantworten lassen, bleibt natürlich unklar. Versuche möglicher, zum Nachdenken anregender und teilweise äußerst unterhaltsamer Antworten haben die beiden Literaturbegeisterten allerdings gefunden.
Für den Abend im Scala Programmkino haben sie zum Thema »Virtual LiteReality« Texte der Genres Science Fiction, Phantastik und Dystopie zusammengestellt. Ihre Wahl fiel auf Auszüge aus Stanislaw Lems »Der futurologische Kongreß«, Daniel F. Galouyes »Simulacron-3 – Welt am Draht«, William Gibsons »Neuromancer«, Tad Williams‘ »Stadt der goldenen Schatten«, T. C. Boyles »Die Terranauten« sowie einer Szene aus dem Drehbuch des Films »Matrix« der Wachowskis.
»Der futurologische Kongreß« von Altmeister Stanislaw Lem beschreibt eine Endzeit-Welt, in der den Menschen, ohne das sie es ahnen, durch Drogen ein Paradies vorgegaukelt wird.
Eine ebensolche Scheinwelt schaffen die stromhungrigen Supercomputer in der »Matrix«-Trilogie von Lana und Lilly Wachowski, um sich von menschlicher Energie zu ernähren. Und während das Leben nur in den Köpfen der Menschen stattfindet, werden ihre in Kokons eingeschlossenen und an Schläuche angeschlossenen Körper ausgebeutet.
1964 wurde der Roman »Simulacron-3« von Daniel F. Galouye erstmals veröffentlicht. Hier betreibt ein gigantischer Computer eine virtuelle Großstadt zu Forschungszwecken. Da die Simulation so gelungen ist, merken die Bewohner gar nicht, dass sie nur als Software in einem Computer existieren.
Tad Williams‘ »Stadt der goldenen Schatten« ist das erste Buch des vierbändigen »Otherland«-Zyklus, der zeitlich etwa in der Mitte des 21. Jahrhunderts festgelegt ist. Ein hochentwickeltes Internet wird zu einer Art Parallelwelt, in der die Menschen auf virtuelle Weise immer mehr ihrer Freizeit verbringen und Beziehungen führen. Wie sich das auf in der realen Welt zurückgelassene Körper auswirken kann, zeigt Tad Williams auf emotionale Weise.
Der Roman »Neuromancer« bildete den Auftrakt zu William Gibsons mehrfach ausgezeichneter Trilogie. Die Geschichte erzählt von Case, einem ehemaligen Konsolen-Cowboy, der sein Nervensystem reparieren lassen will, da es sein letzter Auftraggeber mit Hilfe eines russischen Mykotoxins so beschädigt hat, dass er sich nicht mehr in den Cyberspace einloggen kann.
Immerhin begeben sich die Wissenschafter in T. C. Boyles Roman »Die Terranauten«, der auf einer wahren Begebenheit beruht, freiwillig als Versuchskaninchen in ein geschlossenes Ökosystem zu dem Versuch, das Leben in einer überschaubaren Welt nachzubilden. Zwei Jahre darf keiner der acht Bewohner die Glaskuppel von „Ecosphere 2“ verlassen. Doch das Leben ist unvorhersehbar und lässt sich nicht im Zaum halten.
Gelesen wurden die Texte im Wechsel von den Schauspielern Lisa Natalie Arnold, die zum Ensemble des Düsseldorfer Schauspielhauses sowie des Schauspiels Hannover gehörte und als Sprecherin tätig ist und Robert Gwisdek, der sich als Schauspieler, Musiker und Buchautor einen Namen gemacht hat.
Lisa Natalie Arnold, geboren 1982 in Mainz, begann nach ihrem Abitur ihr Schauspielstudium an der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg. Seit 2005 ist sie in verschiedenen Rollen an den bedeutendsten Hamburger Theatern zu sehen, darunter als Meggie in der Inszenierung von Cornelia Funkes Erfolgsroman »Tintenherz« am Deutschen Schauspielhaus. Für die Rolle des Franz Mohr wurde sie 2006 beim Schauspieltreffen in München mit dem Solopreis ausgezeichnet. Seit 2007 arbeitet sie auch als Sprecherin für Hörspiel- und Hörfunkproduktionen, unter anderem für den NDR, den Oettinger Verlag und Universal Music.
Robert Gwisdek, geboren 1984, ist der Sohn des Schauspielers Michael Gwisdek und der Schauspielerin Corinna Harfouch.
Gwisdek hat die Schule abgebrochen und an der Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“ (HFF) in Potsdam Schauspiel studiert.
Inzwischen ist er aber hauptsächlich Sänger und Texter der Band Käptn Peng & die Tentakel von Delphi. Die Musikalben werden auf dem eigenen Label Kreismusik veröffentlicht. Seit Oktober 2017 ist die Band wieder auf Tour.
Robert Gwisdek ist vielseitig und in kein Schubfach zu stecken. Er filmt, schreibt und schneidet Musikvideos und Kurzfilme, baut Möbel und übt das Üben. Gwisdek lebt in Berlin, wandert aber viel.
Die Kurzfilme »Hyper-Reality« von Keiichi Matsuda und »CirCuit« von Robert Gwisdek wurden ebenfalls im Scala-Programmkino gezeigt. Mehr Infos zu »Hyper-Reality« finden Sie »hier«.
Da ich Robert Gwisdeks alias Käptn Pengs surreale Wortakrobatik, die er in den gerappten Songs seiner Band «Die Tentakel von Delphi» beeindruckend unter Beweis stellt, sehr schätze, bin ich schon gespannt auf seinen spirituellen Roman »Der unsichtbare Apfel«, der 2014 im Kiepenheuer & Witsch Verlag erschienen ist. Seine Songs stellen unsere Welt und uns selbst in Frage und hören auch dort nicht auf, wo es schmerzhaft wird. Eine wahrlich spirituelle Erfahrung. Ich bin sicher, der Roman wird dem in nichts nachstehen.
Obwohl ich »CirCuit« bereits vor dem Abend in Lüneburg mehrfach gesehen habe, war es natürlich ein besonderes Erlebnis, den Film auf großer Kinoleinwand zu genießen und ihn von Robert Gwisdek, der für das Drehbuch, den Schnitt, die Regie und die Produktion verantwortlich war und außerdem natürlich auch noch als Hauptdarsteller auftrat, vorgestellt zu bekommen.
In einem Interview mit Ricarda Feckenstedt beim Landscape Filmfestival berichtet Robert Gwisdek von den Dreharbeiten und den Möglichkeiten für heutige Filmemacher.
Wie ein Mensch von Unglaubigkeit über Verzweiflung, Wut, Resignation, Meditation, Selbstbegegnung zu Selbstaufgabe, dem Loslösen von der eigenen Identität, was einem spirituellen Tod gleichkommt, hin zu leuchtender Erkenntnis gelangt, zeigt dieser knapp fünfzehnminütige Film auf beeindruckende Weise.
Mehr zum Inhalt des Kurzfilms will ich lieber nicht verraten. Schauen Sie sich den technisch brillanten, prämierten Kurzfilm doch selbst an und lassen Sie ihn auf sich wirken. „Licht aus, Fiebertraum an“ um es mit Robert Gwisdek zu sagen:
Fazit: Charlotte Milsch und Jens Meyer-Kovać haben wirklich eine gelungene Mischung ausgewählt und sie zu einer bunten Collage aus Literatur und Film zusammengesetzt. So führten die beiden überzeugenden Vorleser Lisa Natalie Arnold und Robert Gwisdek ihr Publikum auf dem schmalen Grad zwischen künstlichen und scheinbar realen Welten. Ich habe diese Grenzgänge sehr genossen und der Abend hätte gern die doppelte Länge haben können. Der Weg von Hamburg nach Lüneburg hat sich auf jeden Fall gelohnt. Vieles hat zum Nachdenken angeregt und bewegt sich auch jetzt noch in meinen Gedanken.
In diesem Jahr steht das Literaturfest Niedersachsen übrigens unter dem Motto Beziehungen. Vom 6. bis 23. September 2018 bringt das Festival dann beziehungsreiche Programme an außergewöhnliche Spielstätten überall in Niedersachsen. Das macht neugierig auf das Programm!
Laila Mahfouz, 15. Januar 2018
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Unsere Fotostrecke zur Veranstaltung finden Sie hier. Die Rechte an den Fotos liegen bei Anders Balari.
Informationen zu Laila Mahfouz finden Sie hier.