Kathrin Weßling hat mit „Drüberleben – Depressionen sind doch kein Grund, traurig zu sein“ ein wichtiges und lange überfälliges Buch über ein weit verbreitetes aber dennoch in unserer Gesellschaft nicht gesellschaftsfähiges Thema geschrieben. Im Details beschreibt sie Stimmungen und Denkweisen von Menschen mit Depressionen und lässt vor den Augen des Lesers den Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik lebendig werden. Mit klarer, mutiger Stimme und gelungenen Metaphern zeigt Kathrin Weßling uns das Innere ihrer Protagonistin Ida Schaumann.
Klappentext: Ida steht zum wiederholten Mal in ihrem Leben vor der Tür einer psychiatrischen Klinik, mit einem Zettel, auf dem ihr Name und der Grund für ihren Aufenthalt genannt sind. F 32.2. Schwere depressive Episode ohne psychotische Symptome. »Drüberleben« erzählt von den Tagen nach diesem Tag, von den Nächten, in denen die Monster im Kopf und unter dem Bett wüten, den Momenten, in denen jeder Gedanke ein neuer Einschlag im Krisengebiet ist. Es erzählt von Gruppen, die merkwürdige Namen tragen, von Kaffee in ungesund großen Mengen, von Rückschlägen und kleinen Fortschritten, von Mitpatienten und von Therapeuten. Es ist die Geschichte einer jungen Frau, die sich zehn Wochen in eine Klinik begibt und dort lernt zu kämpfen. Gegen die Angst und gegen das Tiefdruckgebiet im Kopf.
Da Kathrin Weßling in den Buchhandlungen kein Buch zum Thema Depression fand, das ihr wirklich weiterhelfen bzw. ihre Situation beschreiben konnte, startete sie am 17. Oktober 2010 unter dem Titel „drüberleben“ einen Blog. Die fast 100.000 Menschen, die allein innerhalb der ersten drei Monate ihren Blog anklickten, gaben der jungen Frau recht. Es war nötig, dass sie Worte für ihre Gefühle, ihre Stimmungen, ihre Ängste gefunden hat und es ist nötig, dass Menschen diese Worte lesen können. Mit ihrem Blog „drüberleben“ wurde sie 2010 sogar und sehr eindeutig zum Bloggermädchen des Jahres gewählt. Waren ihre ersten Leser nun unter diesen 20 % von uns, die laut Statistik mindestens einmal im Leben an einer Depression leiden? Diese Frage kann ich nicht beantworten, aber klar ist, dass Kathrin Weßlings Dokumentation für Betroffene ebenso gut wie für Angehörige sein kann. Auch mich hat der Roman „Drüberleben“ besonders interessiert, weil ich Menschen mit Depressionen kenne, deren Verhalten / Stimmungen / Denkweisen mir manchmal nicht schlüssig erklärbar sind. Vielleicht, weil die Betroffenen selbst keine Worte finden können?
Kathrin Weßling © Thomas Duffé
Nicht ohne Grund begann der Blog „drüberleben“ mit den Worten: „Ich heiße Kathrin Weßling und ich bin 25 Jahre alt. Ich bin Autorin, angehende Kunststudentin und ich leide seit 9 Jahren an Depressionen. Die medizinische Bezeichnung nennt sich F.32.2. Ich nehme Medikamente und war in zahlreichen Therapien und Kliniken. Im Moment gehe ich täglich in eine ambulante psychiatrische Klinik in Hamburg. Ich bin eine normale junge Frau.“ Depressionen sind normal, sind leider so weit verbreitet, dass sie uns auf Schritt und Tritt begegnen und doch werden die Betroffenen oft ausgegrenzt, nicht ernst genommen, verurteilt und verlacht. Warum können wir nicht damit umgehen, wenn Menschen nicht mehr „funktionieren“, wie sie es als „normale“ Menschen sollten? Wenn sie an den einfachsten Alltagsaufgaben scheitern? Ich habe auch nach der Lektüre des Buches keine Antworten auf diese Fragen gefunden, aber ich habe durch „Drüberleben“ viele neue Erkenntnisse über Depressionen gewonnen wie z. B. diese:
Jede Depression ist anders.
Der Auslöser für diese Krankheit ist so unterschiedlich wie ihre Auswirkungen.
Hilfe zu suchen, zu finden und auch anzunehmen, ist unendlich schwer.
„Drüberleben – Depressionen sind doch kein Grund, traurig zu sein“ ist kein Ratgeber, kein Seelentröster, kein „Wenn-Du-das-liest-geht-es-Dir-gleich-wieder-gut“ und auch kein „anderen-geht-es-noch-viel-schlechter“. Dies ist ein Roman, der sehr sensibel, mutig und wortgewaltig mit einem sehr ernsten und wichtigen Thema umgeht. So erzählt die junge Autorin hier auch nicht ihre eigene Geschichte, sondern entwirft das Leben ihrer Protagonistin Ida Schaumann und verschafft so intime Einblicke in Idas schwierigen Kopf, bis der Leser mit Ida gemeinsam ihre verwirrenden Gedanken denkt. Der Roman beginnt am Abend vor einem weiteren Klinikaufenthalt. Schon hier wird die Zwiespältigkeit in Idas Verhalten, ihrem großen Wunsch nach Nähe und ihrer absoluten Ablehnung derselben deutlich. Ida Schaumann, ihre Therapeuten und Mitpatienten sowie die Therapiegespräche sind exzellent gezeichnet. Einzig Idas Eltern bleiben ein wenig blass und konturlos, vermutlich, weil sie und ihre Welt gänzlich außerhalb von Idas Reichweite liegen.
Kathrin Weßling © Thomas Duffé
Auch ist der Roman so fesselnd geschrieben, dass es mir schwer fiel, ihn aus der Hand zu legen. Ich muss allerdings anmerken, dass ich das Buch auch an zwei Menschen weitergereicht habe, die trotz Therapie und Klinikaufenthalten immer noch mit ihrer Depression mal weniger mal mehr zu kämpfen haben. Für sie war die Lektüre nicht so einfach zu bewerkstelligen wie für mich und sie mussten irgendwann aufgeben, weil Idas oder ihre eigene Schwere sie daran hinderten, weiter Seite um Seite umzublättern. Ein wenig hatte ich befürchtet, dass mir der Inhalt des Buches viel zu bleiern sein würden, doch obwohl Ida Schaumann, wie sie selbst zugibt, teilweise geradezu in Selbstmitleid badet, ist mir die Lektüre sehr leicht gefallen. Dies liegt sicher am wunderbaren Stil der Autorin. Mir hat das Buch ein klareres Bild von Depressionen aufgezeigt und daher kann ich es insbesondere Angehörigen und Freunden von Menschen mit Depressionen ans Herz legen.
Fazit: Empfehlenswerte Einblicke in die Gedanken von Menschen mit Depressionen, in die Welt, die hinter den Klinikmauern und den Therapiezimmertüren liegt. Ein mutiges Buch über ein sehr wichtiges Thema, authentisch und sensibel erzählt. Eine Empfehlung für Betroffene und deren Angehörige.
Und ganz aktuell: Daniel Wahl hat fürs Stadttheater Freiburg Kathrin Weßlings Buch „Drüberleben“ auf der Bertoldstraße inszeniert. Mehr Infos dazu finden Sie hier und einen Artikel dazu finden Sie hier.
Kathrin Weßling „Drüberleben: Depressionen sind doch kein Grund, traurig zu sein“, Gebunden, 320 Seiten, erschienen beim Goldmann Verlag für EUR 16,99 ISBN 978-3442312849.
Kathrin Weßling „Drüberleben: Depressionen sind doch kein Grund, traurig zu sein“ erschienen im Goldmann Verlag für EUR 8,99, Taschenbuch, 320 Seiten, ISBN 978-3442157167.
Über die Autorin: Kathrin Weßling, 1985 in Ahaus geboren, lebt in Hamburg. Sie war als Regie-Assistentin, Texterin, Online-Beraterin und freie Autorin tätig. Zurzeit arbeitet sie an ihrem zweiten Roman, der für 2014 geplant ist.
Laila Mahfouz, 31. Oktober 2013
Links:
Homepage von Kathrin Weßling
Informationen zu „Drüberleben“ auf den Seiten des Goldmann Verlags
NACHTRAG 2016: Empfehlen möchte ich allen Betroffenen den hilfreichen Blog Kraftschöpfer mit Tipps und Ermutigungen für chronisch Erschöpfte mit Dysthymia.
Informationen zu Laila Mahfouz