12. Oktober 2013 im Theater in der Washingtonallee: Lessing lebt. Nämlich in Hamburg Horn, im Herbst 2013, von Donnerstag bis Samstag, jeweils für rund eineinhalb-plus-minus-x Stunden. Nicht ein Adept Dr. Frankensteins haucht ihm Leben ein, sondern Angelika Landwehr und Thorsten Heinz. Somit trifft man nicht auf schwarzmagisch zusammengefügte Leichenteile, sondern auf erhellend miteinander verwobene Teile aus Lessings Werk und Leben. Keine Begegnung der dritten, aber der hochnotwendigen Art. Souverän ermöglicht durch das Soloschauspiel Angelika Landwehrs.
In der Schule war – hauptsächlich altersbedingt – schon der Zugang zu den Dramen „Emilia Galotti“ und „Nathan der Weise“ schwer und mühsam, die Wahrscheinlichkeit, sie in aller Tiefe zu begreifen, japste hingegen nahe am Nullpunkt vor sich hin – wenig überraschend blieb deren Autor Gotthold Ephraim Lessing noch viel unfassbarer, sein menschlicher Nachhall und seine Ideen fanden keinen Halt in der faltenfreien pubertären Haut und mussten beim Versuch, in Herz und Verstand zu klettern, zurück in den riesigen Ozean jener Informationen stürzen, aus denen in einem raffinierten mehrstufigen Prozess Erkenntnis erwachsen mag – oder vielfach auch nicht, selbst und vor allem dann, wenn der Vorgang auf der tückischen Zwischen-und-nur-vermeintlich-Endstufe „Wissen“ stecken bleibt.
Wie überrascht war ich also, Hamburgs kleinstes Theater mit dem Gefühl zu verlassen, ich würde ihn nun ein wenig kennen, ihm kurz wahr- wie auch leibhaftig begegnet sein, diesem Lessing. Was war geschehen? Auf welche Weise war es Angelika Landwehr mit Unterstützung von Thorsten Heinz geglückt, mich auf eben diese Weise in die Nacht zu entlassen? Da war kein Plot, kein Stück im engeren Sinne, dafür viel Erzähltheater, das sich mitunter erfolgreich auf die Metaebene wagte, dabei auch schon mal die Interaktion des von ihm dadurch wahrgenommenen Publikums einforderte. Dichte, Nähe, starke Emotionen, mal Sanftheit, mal wie ein Schlag mitten auf die Nase – nicht auf die Augen, nicht auf die Ohren, nicht auf den Mund; denn die brauchte man, die brauchte man doch.
„Ein Mensch wie Lessing täte uns not. Denn wodurch ist dieser so groß als durch seinen Charakter, durch sein Festhalten! So kluge, so gebildete Menschen gibt es viele, aber wo ist ein solcher Charakter!“ sagte Goethe im Jahr 1825 zu Johann Peter Eckermann. Was er heute wohl erst sagen würde? Er, Goethe. Aber auch er, Lessing. Wir wissen es freilich nicht. Doch wir wissen, dass es Worte aus Lessings Munde oder Feder gibt, die auch hier und heute nichts von ihrer Kraft verloren haben. Die folgenden Aussagen mochten dem Theaterbesucher in der Washingtonallee begegnen, weil Fortuna es so wollte – denn Fortuna durfte mitspielen, war Teil des Erlebens, Teil der Dramaturgie.
„Die Menschen sind nicht immer, was sie scheinen, aber selten etwas Besseres.“
„Wer über gewisse Dinge den Verstand nicht verliert, der hat keinen zu verlieren.“
„Kein Mensch muss müssen.“
„So ist es nun einmal in der Welt, das zahme Pferd wird im Stall gefüttert und muß dienen, das wilde in seiner Wüste ist frei, verkommt aber vor Hunger und Elend.“
„Wenn der Rat eines Toren einmal gut ist, so muß ihn ein gescheiter Mann ausführen.“
Fazit: Ein besonderer, eindringlicher, intellektuell wie auch emotional ansprechender und somit inspirierender Theaterabend, fernab der meist beschrittenen Wege. Robert Frost dichtete einst: „Two roads diverged in a wood, and I – I took the one less traveled by, And that has made all the difference“. Dies gilt gleichermaßen für Gotthold Ephraim Lessing wie für das Schauspielsolo von Angelika Landwehr – und wohl auch für Angelika Landwehr selbst und ihr Theater. Ich für meinen Teil würde mir in den Allerwertesten beißen, wenn mir dieses Erlebnis entgangen wäre.
Anders Balari, 17. Oktober 2013
p.s.: Was noch bleibt, ist meine Antwort auf die wahrscheinlich schon in der Titelzeile innerlich gestellte Frage: Was zum Geier ist die STSsche „Hektomatik-Welt“? STS ist eine legendäre steirische Band. Die „Hektomatik-Welt“ ist eine Wortkreation aus ihrem Aussteigerlied „Irgendwann bleib I dann dort“. Wer’s nicht kennt, hat Gelegenheit, es ausgerechnet in Hamburg Horn kennenzulernen. Fernab der Steiermark. Und fernab der besungenen weißen Sandstrände. Falls die Neugier allzu groß sein sollte, bietet sich der Link unten an, der zu einer kurzen Hörprobe führt.
Links:
„Lessings Abschiedsbrief an Hamburg“ wird im Theater in der Washingtonallee noch bis Dezember gezeigt. Nähere Informationen finden Sie auf der Seite des Theaters in der Washingtonallee.
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Hier geht’s zu einer Fotostrecke des Stücks.
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