Ein Roman über die Macht unausgefüllter Stunden, die Kleinigkeiten am Wegesrand Gewicht verleihen und über den Tellerrand hinaus sehen lassen. Lee Rourkes Roman „Der Kanal“ entwickelt einen Sog, dem sich der Leser nicht entziehen kann.
„Manche Leute halten Langeweile für etwas Schlechtes, das vermieden werden sollte, und meinen, dass man das Leben mit allem möglichen Zeug anfüllen sollte, nur um die Langeweile in Schach zu halten. Das denke ich nicht. Ich halte Langeweile für etwas Gutes; sie formt uns und treibt uns an. Langeweile ist machtvoll.“
„Der Kanal“ von Lee Rourke:
Ausgezeichnet mit dem
Not The Booker Prize
des britischen Guardian
Der Ich-Erzähler des Romans ist ein junger Mann in London, dessen Name der Leser nicht erfährt. Eines Tages geht er auf dem Weg zur Arbeit einfach stattdessen an den Kanal und setzt sich auf eine Bank. Er spürt eine innere Ruhe und Freude in der „Nicht-Langeweile“, die in ihm einen immer größeren Sog entfaltet. Er ist glücklich, wenn er dort auf der Bank sitzen und das Leben und die Affären anderer beobachten kann.
Im weißgestrichenen Haus am Kanal sieht er die Menschen wie Ameisen vor hochmodernen Bildschirmen sitzen und ihr Leben fristen, ohne die Wunder zu entdecken, die sich ihm nun täglich offenbaren. Er hat eine wundersame Begegnung mit einem großen Schwan und fragt sich jeden Tag, wann endlich die Kanalarbeiter kommen, um den Dreck und Unrat aus diesem Teil des Kanals zu entfernen, um es den Wasservögeln leichter und ihm schöner zu machen. Auch Regen ist kein Hindernis für den jungen Mann, der schon nach kurzer Zeit seinen Job kündigt, um jeden Tag dort auf der Bank sitzen zu können. Eine Bande Jugendlicher macht ihm allerdings das Leben nicht leicht und versetzt ihn mit ihrer aggressiv zerstörerischen Art in Angst.
Alles ändert sich, als eine junge Frau sich eines Tages zu ihm auf die Bank setzt. Ihre Zurückhaltung und Unnahbarkeit faszinieren ihn ebenso wie die Tatsache, dass sie ebenfalls intensiv die Menschen im weißgestrichenen Haus beobachtet. Sie kommt regelmäßig und setzt sich zu ihm. Bald schon ist er ihrem Geheimnis verfallen, das sie nur nach und nach preisgibt. Bald schon drehen sich seine Gedanken nur noch um sie. Er entwickelt eine regelrechte Obsession und verfolgt sie. Schon sehnt er die Kanalarbeiter nicht mehr herbei, die seinen besonderen Platz verändern würden. Als die junge Frau dann ihre grausame Geschichte erzählt, wird dem jungen Mann und wohl auch jedem Leser klar, dass etwas Düsteres in der Luft liegt und auf das Grauen in ihrer Erinnerung vermutlich etwas Schreckliches folgen wird.
Erwähnen möchte ich noch die sprachlich schöne Übersetzung aus dem Englischen von Roberta Schneider und die wirklich gelungene Gestaltung des gebundenen Buches. Obwohl mir ein paar wenige Fehler aufgefallen sind, ist diese Ausgabe des Mairisch Verlages bemerkenswert hochwertig umgesetzt.
Fazit: Dem Londoner Journalisten Lee Rourke gelingt es in seinem ersten Roman leicht, die Spannung zu halten und den Leser auf eine leise und dennoch verstörende Reise mitzunehmen. Es geht an den Kanal, heraus aus dem Alltagsleben und hinein in die Aussichten und Einblicke der Einsamkeit. Die eindringliche Erzählweise lässt den Leser die Depressionen, die Ängste und Hoffnungen der Figuren spüren. Bilder und Szenen lässt Rourke im Kopf des Lesers entstehen und dort verweilen, als wären sie eigene Erinnerungen. Ein lesenswerter Roman und keine leichte Kost!
Lee Rourke „Der Kanal“, Hardcover, 224 Seiten, erschienen beim Mairisch Verlag für EUR 17,90 unter ISBN 978-3938539200.
Zum Autor: Lee Rourke wurde 1972 geboren und lebt als Autor und Literaturkritiker in London. Er zählt zu den Autoren der Offbeat-Generation. U.a. schreibt er regelmäßig für The Guardian, The Independent, The Observer, TLS und New Statesman. Er ist Mitherausgeber des 3:AM Magazine.
Laila Mahfouz, 2. August 2013
Links:
Die Homepage von Lee Rourke
Infos zu Lee Rourke und „Der Kanal“ auf den Seiten des Mairisch Verlags
Informationen zu Laila Mahfouz