25. Januar 2013 im Theater in der Washingtonallee: Wer war der Erschaffer Hamlets? Wie sind seine Texte zu verstehen und auf welche Weise stehen sie im Kontext zu unserem heutigen Leben? Anlässlich des 449. Geburtstags von William Shakespeare entzieht sich Horst Seidler dem zu erwartenden Trubel des Shakespearejahres 2014 und begibt sich schon dieses Jahr auf die Metaebene: Hin zum Menschen William Shakespeare, seinem Werk und dessen Würdigung im Fluss der Zeit – einfühlsam und doch messerscharf, schlau und hautnah, intensiv und – nur bei oberflächlicher Betrachtung – griesgrämig.
Foto: Anders Balari.
„Hamlet hat uns heute nichts mehr zu sagen.“ So Alfred Kerr im Jahre 1910. Es ist kein großes Wagnis, wenn man in Anbetracht dieser sehr befremdlichen Aussage vermutet, dass Hamlet Alfred Kerr wohl zu keiner Zeit etwas zu sagen gehabt hätte. Horst Seidler zeigt in dem von ihm geschriebenen, inszenierten und gespielten Stück „Tales from an Open Hand“, wieviel uns nicht nur „Hamlet“, sondern auch viele andere Werke Shakespeares zu sagen haben, oder besser hätten: wenn man denn seine grauen Zellen etwas anstrengt und sich dem Vergleich zu aktuellen Geschehnissen nicht verwehrt.
Foto: Anders Balari.
„Nach Gott hat Shakespeare am meisten geschaffen.“ So James Joyce, ein Zeitgenosse Kerrs, in seinem Werk „Ulysses“. „Tales from an Open Hand“ verdeutlicht in komprimierter Form, was Joyce vielleicht angetrieben haben mag, als er diesen Satz schrieb. Wie viel Arbeit Horst Seidler in dieses Bühnenstück gesteckt hat, können wir nur vermuten. Das wieder und wieder lesen, recherchieren, hineindenken, hineinfühlen, analysieren und Parallelen ziehen hat sich allerdings mehr als gelohnt. Der bereits tote Shakespeare selbst erzählt sein Leben, analysiert seine Stücke mit Bezug zur Gegenwart und bedient sich dazu der willigen Hülle Horst Seidlers. So sagt dieser Shakespeare zum Beispiel: „Keiner hat mich so gut verstanden wie Brecht.“ Dem Schauspieler und Shakespeare-Liebhaber gelingt hiermit großes, sehenswertes und aufrüttelndes Theater.
Foto: Anders Balari.
Erneut versteht Seidler es, die Besonderheiten des kleinsten Theaters von Hamburg vorteilhaft zu nutzen, indem er das Publikum gekonnt in sein Stück integriert. Von Lena Conrad in den Theaterraum geführt, sahen wir uns wie alle anderen Zuschauer der gut besuchten Vorstellung einer spannenden Initialraumgestaltung gegenüber, deren Wirkung durch Lichteffekte noch verstärkt wurde. Leider zerstörten an dieser Stelle dumme Kommentare einiger weniger Theaterbesucher, die zum Wohle aller besser bei ihrem gewohnten RTL-Feierabend geblieben wären, die so meisterlich erzeugte Stimmung ein wenig. So konnten die ersten gesprochenen Worte von Horst Seidler nicht jene besondere Wirkung erzielen, die sie in der anfänglichen Stille sonst gehabt hätten. Die Initialraumgestaltung wurde unter Beteiligung des Publikums zu einer teilweise zufälligen Streuung aus Bühne und Zuschauerraum, ein Würfelergebnis, das dennoch wohl ersonnen ist und die Grenzen zwischen Bühne und Zuschauerraum verschwimmen oder gar verschwinden ließ, was bis zum Ende des Stückes so blieb.
Foto: Anders Balari.
„Tales from an Open Hand“ thematisierte also immer wieder die Parallelen zwischen Shakespeares Meisterwerken und unserer heutigen Zeit und verdeutlichte, dass wir oftmals leider nicht allzu viel von der Vergangenheit gelernt oder solch großartige Dramen nur als Unterhaltung angesehen haben. Die Hexen in MacBeth wurden so zu heutigen Wirtschaftsexperten, neoliberalen Auguren. An anderer Stelle bot sich ein Vergleich zum FBI an, das die friedliche Occupy-Bewegung als Terrorismus einstufte, um durchgreifen zu können. Wenig überraschend kam die Sprache auch auf Aldous Huxleys „Brave New World“, der sich seinerseits beim Titel für seine Dystopie von Shakespeares „Der Sturm“ inspirieren ließ, wo es im 5. Akt in den Versen 181 bis 183 heißt: „O, wonder! How many goodly creatures are there here! How beauteous mankind is! O brave new world, that has such people in’t!“. Sehr gut gewählte Zitate aus Shakespeares „Der Sturm“ folgten. Insgesamt führt Horst Seidler fort, was schon im alten China das Theater ausmachen sollte: Das Aufzeigen krankender gesellschaftlicher Phänomene und Strukturen sowie die Ursachen dafür.
Foto: Anders Balari.
„Wer bin ich?“ Hier auf der Bühne stellte sich Shakespeare diese Frage selbst und gibt sie gleichsam mit Gebrauchsanweisung an sein Publikum weiter, das sich die Frage aller Fragen in Ruhe zu Hause beantworten soll. Schnell würden wir dabei feststellen, dass wir uns von Fernsehen, Handy oder Internet allzu gern ablenken lassen, da die Beantwortung der Frage uns Angst macht, mehr Mut abverlangt, als wir im Regelfall aufbringen können.
„Good friend, for Jesus‘ sake forbear,
To dig the dust enclosed here.
Blest be the man that spares these stones,
And cursed be he that moves my bones.“
Die Grabinschrift Shakespeares
Foto: Anders Balari.
Im kleinsten Theater Hamburgs ist man den Schauspielern stets näher als irgendwo sonst auf den Bühnen der Hansestadt. Noch intensiver wirkt das Erlebnis in diesem Fall, da Horst Seidler eben ganz bewusst das Publikum mit einbezieht. Er stellt Fragen, die in Ruhe in Gedanken beantwortet werden können oder zum Nachdenken anregen sollen. Er rüttelt an uns, mal sanft, mal ganz stark. Wichtig dabei ist stets die Frage: Was bedeutet uns Theater heute? Muss das Theater nicht wie jede Kunstform der Forderung Ernst Fischers gerecht werden, sich sehr kritisch, ohne Maulkorb und abseits des Mainstream mit der Gesellschaft auseinandersetzen, aber dabei auch Alternativen aufzeigen?
Foto: Anders Balari.
Nicht unerwähnt bleiben soll auch Lena Conrads Enthusiasmus. Sie war einerseits für Licht und Ton verantwortlich, andererseits übernahm sie die neben Shakespeare einzige andere Rolle, die einer namenlos bleibenden Vorleserin und Erzählerin. Die junge Schauspielerin hat ihre Texte sehr ausdrucksstark und einfühlsam gesprochen und schaffte es, dies sehr gut mit der Bedienung von Licht und Ton zu koordinieren.
Fazit: Alfred Kerr irrte freilich mit seiner Aussage. Horst Seidler zeigt detailliert, warum. Empfehlenswert, mit Nachdruck!
Anders Balari und Laila Mahfouz, 5. Februar 2013
Links:
„Tales from an Open Hand“ wird im Theater in der Washingtonallee noch bis einschließlich 23. Februar gezeigt. Nähere Informationen finden Sie auf der Seite des Theaters in der Washingtonallee.
Theater in der Washingtonallee auf Facebook.
Hier geht’s zu einer Fotostrecke des Stücks.
Mehr über den Autor und Photographen Anders Balari
Mehr über die Autorin Laila Mahfouz