„Von Löwen und Giraffen – Judith Schalansky und Sibylle Lewitscharoff bändigen ungewöhnliche Romanstoffe.“ Die Hamburger BücherFrauen begrüßten die beiden erfolgreichen Autorinnen zu ihrem Literaturbrunch im La Yumba und genossen mit vielen Gästen in ausverkauftem Haus die Lesungen aus „Blumenberg“ und „Der Hals der Giraffe“.
Judith Schalansky (links) und Sibylle Lewitscharoff (rechts) im Gespräch mit der Moderatorin der Veranstaltung Christine Gräbe. Foto: Anders Balari
Seit mehr als einem Jahrzehnt veranstalten die Hamburger BücherFrauen einmal im Jahr ein Literaturbrunch, zu dem sie hochkarätige Schriftstellerinnen einladen. Da in diesem Jahr die temperamentvollen Autorinnen Sibylle Lewitscharoff und Judith Schalansky, die beide mit ihren Werken „Blumenberg“ und „Der Hals der Giraffe“ für den Deutschen Buchpreis nominiert waren, dieser Einladung gefolgt sind, waren die Karten rasch ausverkauft. Dennoch war es möglich über 100 Zuhörer unterzubringen.
Judith Schalansky „Der Hals der Giraffe“, 224 Seiten, erschienen beim Suhrkamp Verlag für EUR 21,90 unter ISBN 978-3-518-42177-2.
Nachdem alle Besucher von Dörte Kanis, Regionalsprecherin der BücherFrauen Hamburg, begrüßt wurden, am reichhaltigen Brunchangebot des Büffets ihre kulinarischen Bedürfnisse gestillt und einen Platz in dem schönen Saal der La Yumba Tanzschule gefunden hatten, las Judith Schalansky, die schon mit ihrem „Atlas der abgelegenen Inseln: Fünfzig Inseln, auf denen ich nie war und niemals sein werde“ zu begeistern wusste, den Anfang ihres als Bildungsroman gekennzeichneten Buches „Der Hals der Giraffe“, in dem Inge Lohmark, eine Biologie-Lehrerin, die den letzten Jahrgang am Charles-Darwin-Gymnasium in Vorpommern unterrichtet, an eben diesen, ihren darwinistischen Ansichten, scheitert. Als Judith Schalansky – noch immer selbst begeistert von ihrem Eingangssatz, der ihr als erstes „zugeflogen“ ist – zu lesen beginnt und ihre Hauptfigur Inge Lohmark, Lehrerin in Vorpommern ihre Schüler auffordert, das Buch auf Seite sieben aufzuschlagen, befinden wir uns auch in Judith Schalanskys Buch genau auf der Seite sieben. Dies zeigt nur eine der perfekten Kleinigkeiten, die dieses Buch zu dem großartigen Werk machen, das es ist. Judith Schalansky hat nicht nur den Einband gestaltet sondern auch Schrift, Satz und Zeichnungen ausgewählt und alles perfekt auf einander abgestimmt.
Judith Schalansky liest aus "Der Hals der Giraffe" und gibt durch ihre Intensität einen guten Einblick in die Psyche ihrer Figur Inge Lohmark. Foto: Anders Balari
Die Protagonistin Inge Lohmark fragt sich in Betrachtung eines sich im Stadium der beginnenden Herbstverfärbung der Blätter befindlichen Baumes, warum sich jeder Baum jedes Jahr die Mühe macht und vergleicht diese Sinnlosigkeit mit ihrer Arbeit als Lehrerin. In vielen solchen Momenten wird der Charakter und die psychische Verfassung Inge Lohmarks deutlich und hinterlässt ein schales Gefühl auf der Zunge und ein „Zum-Glück-sehe-ich-die-Dinge-anders“ in den Gedanken. Judith Schalansky endete auf Seite 24 mit dem von Inge Lohmark an ihre Schüler gerichteten Satz: „Merken Sie sich: Nichts ist sicher. Sicher ist nichts.“ Im Gegensatz zu der Schulklasse, die Inge Lohmark betroffen anblickt, dankt das Publikum Frau Schalanskys mit langem Applaus für diese großartige Darbietung. In meinem Begleiter und mir manifestiert sich der Wunsch, die Perfektionistin Judith Schalansky möge ihr Buch noch einmal selbst einlesen, obwohl schon ein Hörbuch vorliegt, welches sicher auch gelungen ist, welches ich aber nicht kenne. Ihr für Inge Lohmark so treffend monoton lakonischer Stil begeistert mich noch in der Erinnerung. Schon jetzt bin ich gespannt, mit welchem Roman Judith Schalansky uns als nächstes aufwartet; eventuell wird es ja der angedeutete Pilzführer, verpackt in eine ebenso auf hohem Niveau unterhaltsame Romanhandlung werden.
Sibylle Lewitscharoff „Blumenberg“, 220 Seiten, erschienen beim Suhrkamp Verlag für EUR 21,90 unter ISBN 978-3-518-42244-1.
Für „Pong“ erhielt Sibylle Lewitscharoff 1998 den Ingeborg-Bachmann-Preis. Es folgten die Romane „Der Höfliche Harald“, „Montgomery“ und „Consummatus“. Für ihren 2009 erschienenen Roman „Apostoloff“ wurde sie mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet. Ihr aktueller Roman stand auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis und hätte diesen auch verdient. Dem deutschen Philosophen Hans Blumenberg (* 13. Juli 1920 in Lübeck; † 28. März 1996 in Altenberge bei Münster) hat sie mit ihrem Roman „Blumenberg“ ein grandioses Denkmal gesetzt und um ihn und vier fiktive Studenten Blumenbergs eine spannende Romanhandlung zu einem Schmetterlingskokon ersponnen, der sich erst im letzten Kapitel öffnet und alle Beteiligten zum nächsten Schritt in ihrer Entwicklung führt. Doch zunächst begegnet Blumenberg eines nachts gleich im ersten Satz des Buches in seinem Arbeitszimmer einem großen alten Löwen. In seiner ruhigen Unbeweglichkeit löst dieser in Blumenberg keine Panik aus, vielmehr große Verwunderung. Der Löwe wird nicht umsonst „Zuversichtsgenerator“ genannt, denn obwohl Blumenberg den Löwen als Ehrung und Auszeichnung versteht, beginnt alsbald fast ein Abhängigkeitsverhältnis, denn die pure Anwesenheit des Löwen gibt Blumenberg in diesen letzten Jahren seines Lebens Trost und Kraft.
Sibylle Lewitscharoff liest aus ihrem Roman "Blumenberg" mit Inbrunst und der richtigen Dosis Humor das Kapitel "Nr. 255431800".
Foto: Anders Balari
Blumenbergs Studenten haben alle wenig oder in den meisten Fällen überhaupt keinen Kontakt zu ihm, da er alle auf Abstand hält und wenig am Leben um ihn herum teilnimmt. Sibylle Lewitscharoff lässt den Leser mehr oder weniger tiefe Blicke in die Leben vierer Studenten Blumenbergs werfen. Diese Leben sind längst mit dem seinen verwoben, ohne dass er davon die geringste Ahnung gehabt hätte. Erst im wunderbaren letzten Kapitel lässt Sibylle Lewitscharoff sie alle noch einmal zusammentreffen und vereint all die kleinen Fragmente zu einem phantastischen Schluss. Vor der Lesung bemerkte die Autorin, dass sie dem letzten Satz noch mehr Stellenwert gibt als dem ersten und jeder, der „Blumenberg“ gelesen hat, wird mir zustimmen, dass ihr ein großartiger Schlusssatz entsprungen ist.
Sibylle Lewitscharoff und Judith Schalansky beantworten einige Fragen – hier ein Auszug…
Gräbe: Frau Lewitscharoff, wenn man sich ihre Bücher „Pong“, „Der höfliche Harald“, Montgomery“, „Apostoloff“ und jetzt „Blumenberg“ bei einer ganz oberflächlichen Betrachtung anguckt, die ja auch sehr oft Männerfiguren in den Titeln ihrer Romane haben, beschäftigen Sie sich lieber mit Männern?
Lewitscharoff: Das ist jetzt nur in dem Roman Apostoloff etwas anders, da ist die Hauptperson, die Erzählerin, eine Frau und die wichtigste Figur ist auch die Schwester, das ist anders, aber ich bevorzuge Männer aus einem ganz einfachen Grund, und zwar in der Regel versuche ich dem allzu biographischen Schreiben zu entkommen. Und es ist für mich immer eine sehr viel stärkere Form der Zurückhaltung. Wenn ich eine Frauenfigur in den Parcours schicken würde, womöglich noch eine, die so alt ist wie ich, dann fängt die Selbstzensur extrem an zu wirken. Deshalb fühle ich mich in der Beschreibung einer männlichen Hauptfigur einfacher zu Hause, weil ich mehr davon riskieren kann, was mich umtreibt, in so eine Figur hinein zu versetzen, als ich es täte, wenn eine 57-jährige Frau meine Hauptfigur wäre. […] Ich scheue doch davor zurück, sozusagen das eigene Leben so eins zu eins auszuschachten und das ist der Grund, warum ich mich gerne in Männer hineinversetze. Ich glaube, das ist der einzige Grund.
Gräbe: Dennoch schöpft man ja beim Schreiben aus dem Erlebten, aus den Lebenserfahrungen, aus dem Autobiographischen […] Bei Ihnen beiden geht dem Schreiben eine sehr lange und intensive Recherche ihrer Stoffe voraus. Ist Ihnen das eigentlich wichtig?
Lewitscharoff: Kann ich von mir nicht sagen. Bei Blumenberg ja, da musste ich ja alle Bücher lesen, er hat ja viel geschrieben, das ja, aber eigentlich bin ich nicht so der Recherche-Kasper. […] Mich langweilt Recherche zutiefst im Grunde.
Schalansky: Ich liebe Recherche. Recherche ist eigentlich das Tollste am Schreiben. […] Für mich ist jedes Buch vor allem ein Forschungsprojekt. Ich hatte mich aufgemacht, damit ich endlich mal etwas zu tun hatte im Kartenlesesaal der Berliner Staatsbibliothek.
Gräbe: Ist es tatsächlich so vorzustellen, dass sie jeden Tag in die Bibliothek gehen, um dort zu arbeiten und zu recherchieren?
Schalansky: Ja, vor allem mache ich das aber auch, damit ich mit anderen Leuten zusammen in die Mittagspause gehen kann. Das ist ja doch so ein komischer Beruf, ich weiß ja nicht, wie es Frau Lewitscharoff geht, aber man ist ja eher vom sozialen Leben abgeschottet. Ich verordne mir dann immer einen Verabredungs-Stopp, treffe keine Freunde mehr und in so fern ist die Bibliothek so ein Ort, wo es mir gelingt, doch in der Welt verankert, verhaftet zu sein, zumindest die Illusion.
Lewitscharoff: Ich hatte schon in meinen Studentenjahren Schwierigkeiten, in Bibliotheken zu lesen. Ich lese lieber zu Hause auf dem Sofa. Ich schlafe in Bibliotheken grundsätzlich ein und zwar sehr schnell.
Gräbe: Frau Lewitscharoff, warum musste es Blumenberg sein?
Lewitscharoff: Nun Blumenberg hat mich wirklich fasziniert. Ich habe ihn zu Abiturzeiten zum ersten Mal gelesen, fast nichts verstanden, er ist nicht leicht zu lesen, aber ich erahnte, dass das nur an mir liegt und dass ich davon wirklich mehr lesen sollte. Er ist ein wunderbarer Philosoph gewesen.
Dann berichtete Frau Lewitscharoff, wie umfassend Hans Blumenbergs Wissen in Philosophiegeschichte, Kunstgeschichte und Religionsgeschichte gewesen war und dass er einer der wenigen Philosophen der Moderne gewesen wäre, der sich gänzlich in der Theologie ausgekannt hätte.
Lewitscharoff: Obwohl er ein scharfer Abrechner auch war in theologischen Fragen, aber das hat mich natürlich wärmstens zu ihm hingezogen. Ich habe ihn mein Leben lang gelesen, aber das ist ja kein Romangrund, ist ja klar, der Romangrund ist schon eher, dass der Mann ein derartig zurückgezogenes Leben geführt hat, dass er nie ein Interview gab, keine Fernsehaufzeichnungen zuließ, dass er die letzten zwanzig Jahre seines Lebens nur noch nachts unterwegs war, bis auf eine Vorlesung um fünf Uhr nachmittags. Das heißt, er führte wirklich das Leben eines Exzentrikers und das ist für einen Schriftsteller schon interessant. Und die dritte Voraussetzung ist, dass ich nicht bei ihm studiert habe. Ich habe den Mann nie gesehen, sonst hätte ich nicht über ihn schreiben können.
Gräbe: Sie haben aber bei zwei Professoren, glaube ich, Religionswissenschaften studiert, die ebenfalls einen legendären Ruf haben. Ich habe gehört, dass in die Vorlesungen von Klaus Heinrich auch durchaus Studenten aller Fachrichtungen gegangen sind, um diese zu erleben, um diesen Vortrag zu hören. Ist davon etwas enthalten?
Lewitscharoff: JA! […] Klaus Heinrich ist ja eine Koryphäe, wirklich ein unglaubliches Geisthaus, kann man so sagen. […], aber diese Koryphäen sind blitzegefährlich und zwar deshalb, weil sie natürlich nicht so etwas tun wie Studenten peu à peu heranführen an eine Tätigkeit, […] die gehen immer davon aus, man wisse zumindest die Hälfte auch schon, das heißt also, die sind zwar unglaublich anregend für Leute, die schon eine gereiftere Persönlichkeit haben und sich nicht ganz davon blenden und kirre machen lassen, aber sie sind irrsinnig verhängnisvoll für etwas schwankende Naturen, deren Persönlichkeit nicht feststeht und das ist bei vielen jungen Leuten einfach der Fall. […] Eine Koryphäe zeichnet sich dadurch aus, die Leute wissen unglaublich viel und zwar schon mit zwölf, die können sich nicht vorstellen, dass wir normal Sterbliche auch mit dreißig irgendwie noch nicht ganz so fixe sind im Hirn. Für die ist solch Wissen vorausgesetzt.
Gräbe: Frau Schalansky, stand die Stimmung der Figur Inge Lohmark gleich am Anfang des Romans für sie fest.
Schalansky: Klar. […] Mir ging es da ganz ähnlich, was die Formalien des autobiographischen Schreibens anging, dass ich eben schon dadurch, dass das eine Frau ist, mit dem selben Geburtsjahr übrigens wie Frau Merkel. Ich habe sie als die Zwillingsschwester von Angela Merkel konzipiert. Ich hatte auch gedacht, dass ich ihnen vielleicht eine gemeinsame Schulzeit in Templin noch andichten könnte, das brauchte es dann alles gar nicht, das transportiert sich eigentlich mit, weil sie die Schwester, sozusagen die Genossin war, die sich nicht angepasst hat, sondern die, die in doppeltem Sinne gewissermaßen zurück geblieben ist in ihrem Leben und sozusagen aus dieser großen Weltengrenzöffnung und neue Systeme usw. eher sich dagegen entschieden hat, daraus etwas zu machen, sondern verharrend. […] Zwar kommt sie ganz wissenschaftsgläubig daher, aber sie ist eine große Bildanbeterin, diese Frau, das steckt auch in dem Buch, auch in dem Wort Bildungsroman ja drin.
Lewitscharoff: Ich persönlich fand es klasse, weil sie natürlich diesem ganzen Anbiederungs-Chichi so schön widersteht. Das hat eine ungeheure Charakterfestigkeit. Das ist nicht sehr sympathisch, aber das hat etwas, dass man doch den Hut zieht vor der Person.
Schalansky: Unbedingt, das war mir auch wichtig. Es ging mir nicht darum, eine sympathische Figur zu schaffen, sondern eher eine, die eine Attraktivität hat, derer wir uns dann doch an manchen Stellen nicht entziehen können.
Beide Autorinnen stellen fest, dass die Anwesenheit von Tieren beim Schreiben ungemein inspirierend wirkt. Frau Lewitscharoff führt als Beispiel Katzen, Hunde, Spatzen und Rinder an. Sie vergleicht die Beobachtung eines Tieres mit Meditation. Frau Schalansky kann ihr nur beipflichten und gesteht, beim Schreiben eine wahre Rinderfaszination entwickelt zu haben und seither „die ganze Kuhheiligkeit zu verstehen“.
Lewitscharoff: Ich finde, dass die Beobachtung von Tieren, egal an welchem Tier man nun einen Narren frisst, uns auf eine grandiose Weise von uns selbst erlöst, das ist das Schönste daran. […] Die Tiere sind für mich schützender Beistand von wirklich großem Wert!
Nachdem Judith Schalansky erklärte, dass kein Skelett einer fossilen Giraffe mit kürzerem Hals existiert und als Wissenschaftsbeispiel dienen könne, meinte sie augenzwinkernd: „Die Giraffe ist ein ewig wundersames Tier, bei dem man denken könnte, es ist eigentlich nur erfunden, damit es mit langem Hals aus der Arche Noah rausgucken kann.“
Zum Abschluss signierten die beiden Autorinnen ihre Werke. Judith Schalansky hatte dafür eigens zwei Kästen voll Stempel mit wunderschön zarten Tiermotiven (natürlich u. a. auch eine Giraffe) mitgebracht. Freudig durfte jeder Buchbesitzer sich ein Stempelbild aussuchen. Es war eine rundum gelungene Veranstaltung der Hamburger BücherFrauen und ich bin schon gespannt auf das nächste Jahr. Herzlichen Dank an alle Beteiligten!
Laila Mahfouz, 23. Februar 2012
Links:
Informationen des Verlags zu dem Roman „Blumenberg“
Informationen zu Sibylle Lewitscharoff
Informationen des Verlags zu dem Roman „Der Hals der Giraffe“
Informationen zu Judith Schalansky
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