Angelika Klüssendorf liest am 9. Januar 2012 aus ihrem viel beachteten Roman „Das Mädchen“. Eine Geschichte von Vernachlässigung, Gewalt, Auflehnung und Widerstandskraft.
Nach einer Einführung durch Carola Ebeling in die Werke Angelika Klüssendorfs liest die Autorin fast eine Stunde aus ihrem neuen Roman „Das Mädchen“. Die 1958 in Ahrensburg bei Hamburg geborene und in Leipzig aufgewachsene Autorin siedelt die Handlung ihres Romans in der ehemaligen DDR an. Wie sie im anschließenden Interview deutlich macht, ist die Geschichte aber „nicht DDR-spezifisch“ und könnte so auch überall sonst auf der Welt passieren. Die Wahl des Ortes ist wohl in Klüssendorfs eigener Kindheit in der DDR begründet. In klarer, manchmal fast erschreckend kalter Sprache werden intensive Bilder gezeichnet, die sich im Kopf einnisten. Zurecht schaffte es dieser Roman auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises 2011.
Inhalt:Die Handlung beginnt mitten im Leben eines zwölfjährigen Mädchens. Schon nach wenigen Sätzen wird die verzweifelte Situation klar, in der sie sich befindet. Die Mutter, eine Alkoholikerin, vernachlässigt sie und ihren kleinen Bruder und straft sie für alles, was sie gerade stört, mit Putzarbeiten, Hausarrest und besonders mit körperlicher Gewalt. Während der kleine Bruder immer verhaltensgestörter wird, bewahrt sich das Mädchen wie durch ein Wunder einen Ort in sich selbst, in den sie sich zurückziehen kann, in dem sie ihre Seele zu schützen versucht. Obwohl sie sensibel und verletzlich ist, trotzt sie den Umständen. Wieder und immer wieder erhebt sie sich und kann nicht mit ansehen, wie der kleine Bruder widerspruchslos alles mit sich machen lässt. So sehr sie Mitleid für ihn empfindet, so sehr macht er sie zornig. Sie ist intelligenter als ihre Umwelt ihr erlaubt es auszuleben und stellt sich oft philosophisch anmutende Fragen wie „Frieren Bäume im Winter?“ oder „Können Ameisen traurig sein?“ Wenn die Welt um sie herum zu schrecklich erscheint, versinkt sie in Grimms Märchen oder kriecht fast in Brehms Tierleben hinein. Sie träumt von einer Waldidylle, in der sie leben will und weiß:
»Träume und Wünsche sind nicht unwahr,
nur weil sie Träume und Wünsche sind«,
ohne ihre Träume würde sie niemals das Haus im Wald bewohnen, und sie wüsste wahrhaftig keinen Grund, warum das Leben sonst einen Sinn haben sollte.“ Sie liebt Bücher, besonders „Der Graf von Monte Christo“, das sie komplett in ein Heft abschreibt, um es immer wieder lesen zu können. Auch in manchen Menschen findet sie Halt, so wird ihre neue Mitschülerin Elvira ihre beste Freundin und auch Elviras Eltern nehmen sie ernst und akzeptieren sie. Ihr eigener Vater taucht nur sporadisch auf und das Mädchen versucht, auch in ihm einen Anker zu finden, doch ertrinkt beinahe. Es rührt sie, dass auch ihr Vater sich sein Leben anders erträumt hat, wie sie den im Keller gefundenen Geschichten entnimmt, die er einst verfasst hat und in denen sein Alter Ego ein Inspektor ist, der einen Bankraub aufklärt und zum Helden wird. Als das Mädchen schließlich im Heim landet, leidet sie besonders darunter, keine weiblichen Formen anzunehmen. Wieder fühlt sie sich ausgeschlossen und beginnt, schwächere Kinder zu unterdrücken. Bis zu ihrem siebzehnten Geburtstag begleiten wir sie durch das Buch, immer von der Hoffnung getrieben, es möge für sie am Ende des Regenbogens eine Kiste Wärme und Geborgenheit warten. Vielleicht gewährt die Autorin uns dies in der geplanten Fortsetzung, die ich mit Spannung erwarte.
Wie Angelika Klüssendorf sagt, war es ihr „wichtig, den Widerspruchsgeist des Mädchens darzustellen“. So schafft es das Mädchen trotz all der Schrecken um sie herum und sogar in den schlimmsten Momenten noch, sich zu behaupten und nie nur Opfer zu sein. Obwohl der Roman gänzlich aus Sicht des Mädchens geschildert ist, verzichtet die Autorin auf die Erzählweise in der Ichform und erreicht, was sie sich vorgenommen hat, denn sie wollte „durch die dritte Person Distanz und Nähe darstellen“. Auf die Frage, warum sie dem Mädchen keinen Namen gegeben hat, antwortet Angelika Klüssendorf, dass es ihr „angemessen erschienen“ sei, denn das Mädchen würde stellvertretend für alle diese Mädchen stehen.
Für ihre schonungslose Offenheit bei diesem Thema möchte ich mich bei der Autorin bedanken und empfehle das Buch gern. Es verfügt über einen bewundernswert klaren Stil und eine starke Sprache. Die Distanz zur Handlung durch wenig Emotionalität hat die Wirkung, dass all diese schockierende Grausamkeit den Leser noch stärker erreicht. Kein Buch zum einfach so nebenbei Lesen. Szenen, Worte, Gedanken, Bilder, die lange nachwirken und sicher unvergesslich bleiben.
Angelika Klüssendorf „Das Mädchen“ erschienen beim Verlag Kiepenheuer & Witsch für EUR 18,99 unter ISBN 978-3462042849.
Laila Mahfouz, 11. Januar 2012
Links:
Informationen des Verlags zu dem Roman „Das Mädchen“
Informationen zu der Autorin Angelika Klüssendorf
Nominierung für den Deutschen Buchpreis inkl. Leseprobe
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