In meinem Leben habe ich mich sehr oft so gefühlt, als würde ich von einem anderen Planeten stammen. Was ich an anderen Menschen beobachten konnte, blieb mir sehr häufig ein großes Rätsel, sie schienen Geheimnisse miteinander zu teilen, über die sie niemals sprechen mussten, die wie selbstverständlich einfach da waren, ohne dass ich Zugang zu ihnen hatte, weder selbstverständlich, noch mit viel Anstrengung.
Ich wollte das ergründen, wollte Teil dieser Gemeinsamkeit sein, wollte mich selbst in jungen Jahren zurecht schrauben und zurecht biegen. Was ich auch versuchte, es funktionierte nicht und über die Jahre drohten diese Versuche, mich zu zerstören.
Die Ausgrenzung und Isoliertheit schrieb ich unterschiedlichen Faktoren zu, bis zur Auflösung der erkennbaren „Symptome“ meiner sozialen Herkunft aus einer Arbeiterfamilie regelmäßig auch dieser sozialen Herkunft. Nachdem alle diese „Symptome“ irgendwann durch meinen Lebensweg nicht mehr da waren, mein Anderssein mit seinen unterschiedlichen Auswirkungen aber schon noch weitgehend, löste sich dieser Erklärungsansatz in Luft auf.
Als ich vor einigen Jahren einen Dokumentarfilm über das Asperger-Syndrom sah, erkannte ich Vieles wieder. Ich besorgte mir viel Literatur dazu und beschäftigte mich rund ein halbes Jahr intensiv damit, eine Untersuchung durch eine Expertin für die Diagnose von Asperger bei Erwachsenen eingeschlossen.
Die Expertin gelangte nach einigen Sitzungen über einen Zeitraum von mehreren Monaten zum Ergebnis, dass es mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit nicht das Asperger-Syndrom sei, auch wenn viele Symptome passen würden.
Ein weiterer Erklärungsansatz löste sich in Luft auf, wenngleich das kein Leid verursachte, sondern lediglich mein Wissens- und Erkenntnisdurst in jener Ecke, in der ich selbst das Thema bin, nicht ganz gestillt werden konnte.
Vor mittlerweile fast zwei Jahren hörte ich auf zu Rauchen. Erstaunlicherweise führte das eine Weile lang zu einem starken Anstieg der „Aspie“-Symptome und fand ich sogar einige wissenschaftliche Arbeiten, die auf einen Zusammenhang zwischen der Anzahl der Nikotinrezeptoren im Gehirn und der Stärke von Autismus-Symptomen verwiesen.
Worauf ich in dieser Phase auch stieß, war ein Blog-Beitrag von Dr. Karin Joder über die Parallelen zwischen dem Asperger-Syndrom und Hochbegabung. Das fand ich interessant und ein Stück weit hatte ich gleich den Wunsch, dem weiter nachzugehen.
Aus unterschiedlichen Gründen ergab es sich, dass es bis Mitte April 2022 dauerte, bis ich das auch wirklich machte, in Form einer testdiagnostischen Untersuchung auf Basis der Wechsler Adult Intelligence Scale – Fourth Edition (WAIS-IV), Petermann, 2012.
Dass ich überdurchschnittlich intelligent bin, ist mir als mittlerweile 48 Jahre altem Menschen nicht entgangen, dennoch überraschte mich das Ergebnis: eine intellektuelle Hochbegabung im Bereich der Höchstbegabung.
Parallel und auch danach las ich Vieles über Hochbegabung und tauschte mich mit anderen Hochbegabten über unsere bisherigen Lebenserfahrungen aus. Ich lernte und lerne immer noch viel darüber und Vieles lässt sich nun besser einordnen, ich finde mich noch ein gutes Stück weit besser zurecht mit jenem Teil meines Lebens, der maßgeblich aus Interaktionen mit der Welt außerhalb meines Selbst besteht (…im Innen finde ich mich schon seit längerer Zeit für mich hinreichend gut zurecht :-)…).
Bis jetzt, also bis zum Schreiben dieses Textes, scheute ich davor zurück, offen und öffentlich zu dieser Höchstbegabung zu stehen. Beim Gedanken daran, dies zu tun, erlebe ich einen merkwürdigen Gefühlscocktail, bei dem auch Angst und Scham eine große Rolle spielen, wie auch das mir gut vertraute „Hochstaplergefühl“.
Heute morgen entschloss ich mich dazu, dass ich das – dass ich mich – nicht länger verstecken möchte. Die Gesamtheit dessen, was mich ausmacht, funktioniert signifikant anders als bei den meisten anderen Menschen. Hinsichtlich der Lösung von Problemen hat dies Vor- und Nachteile, hinsichtlich sozialer Interaktion ebenfalls. Ich irritiere und bin irritiert, ich verschrecke und bin verschreckt etc. etc.
Die Empirie zeigt, dass die Hochbegabung im Berufsleben regelmäßig zu Nachteilen und zu Leidensdruck führt, aus unterschiedlichen Gründen – Leidensdruck etwa dann, wenn es regelmäßig zu einem „Kassandra-Syndrom“ kommt oder zu Unterforderung durch Einsatz bei Aufgaben, die hochbegabte Menschen zwar überdurchschnittlich gut können, die ihr Potenzial aber bei Weitem nicht nutzen.
Öffentlich zu der Höchstbegabung zu stehen, hat mir ein Stück weit auch deswegen Angst gemacht – doch Moment: Viele der beschriebenen Probleme und Nachteile kenne und erlebe ich ja ohnehin schon während meines gesamten bisherigen Berufslebens. Warum also nicht dazu stehen? Vielleicht bewirkt das sogar eine positive Veränderung?
Die Empirie zeigt auch, dass es Hochbegabten meistens nur um die Sache geht, nicht um sich selbst, nicht um politische Spiele, nicht um Macht, all das langweilt und nervt sie sogar regelmäßig. Auch identifizieren sie sich häufig voll und ganz mit dem Gesamterfolg der Organisation, in der sie arbeiten und können gar nicht anders, als alles ganzheitlich wahrzunehmen und bearbeiten, was dabei eine Rolle spielt, auch wenn sich das regelmäßig außerhalb ihrer eigenen Domäne befindet. So ist auch mein inneres Erleben.
Wie ist Hochbegabung einzuordnen? Wie jeder Mensch mache ich Fehler, jede Menge sogar, begleitet aber von genauer Beobachtung und dem Streben, es in kleinen Schritten immer besser zu machen, alleine und auch im Kollektiv. Es gibt Vieles, was ich sehr gut kann, zugleich aber auch Vieles, was ich sehr schlecht kann und besonders Vieles, was irgendwo dazwischen liegt. Bei Höchstbegabung ist sogar regelmäßig zu beobachten, dass alltagspraktische Tätigkeiten nicht so gut funktionieren, fran wie Thales von Milet sogar in einen Brunnen fallen mag, weil gerade tief in Gedanken versunken – in einen Brunnen bin ich noch nicht gefallen, aber meine Frau kann mehr als ein Lied von meinen Schwierigkeiten mit alltagspraktischen Tätigkeiten singen.
Unabhängig vom Thema Hochbegabung ist es mein Herzensanliegen, dass jeder Mensch in seinem beruflichen und privaten Umfeld sie oder er selbst sein kann, voll und ganz, mit allem, was sie oder ihn ausmacht. Aus diesem Grund liebe ich das, was unter dem Sammelbegriff „Teal Organisations“ in zunehmendem Maße zu beobachten ist und auch, dass einige Aspekte davon hinsichtlich des Umgangs miteinander in meiner Wahrnehmung auch in immer stärkerem Maße in Organisationen zu beobachten ist, die ansonsten weit davon entfernt sein mögen, „Teal Organisations“ zu sein.
Die bunte Vielfalt, die Diversität, die wechselseitige Anerkennung, Wohlwollen, Respekt und – ja – Liebe sind es, die uns in Kollektiven – aus ganzheitlicher Sicht und wahrlich nachhaltig im Sinne von auch langfristig tragfähig – Herausragendes leisten lassen.
So möchte ich arbeiten, so möchte ich leben. Mit meinen Stärken und Schwächen bin ich wie jeder andere Mensch lediglich ein Puzzleteilchen, eines von sehr vielen Puzzleteilchen, die lediglich durch ihre richtige Kombination das Gesamtbild ergeben und das Puzzle lösen. Ich möchte Teil einer richtigen Kombination sein, hinsichtlich dessen, wer ich bin, was ich kann und was ich nicht kann, was ich gerne mache und was ich nicht gerne mache, hinsichtlich dessen, was mich zum Wohle aller und mir selbst „Flow“ erleben lässt.
Oder, in den Worten von David Mitchell, in seinem wunderbaren Buch „Cloud Atlas“: „My life amounts to no more than one drop in a limitless ocean. Yet what is any ocean, but a multitude of drops?“