Michael Zicks »Türkei – Wiege der Zivilisation« ist ein sehr übersichtlich gestaltetes Buch über neueste archäologische Entdeckungen/Erkenntnisse in der Türkei/Kleinasien, das man aufgrund der vielen informativen und ausdrucksstarken Fotos, teilweise sogar im A3 Format, fast als Bildband bezeichnen könnte – aber es ist sehr viel mehr als das.
Verlagstext: Türkei – Brücke zwischen Europa und Asien In der Türkei vollzogen sich entscheidende Schritte der Menschheitsgeschichte: Hier wurden die ersten Tempel der Welt erbaut, hier schlossen der ägyptische Pharao und der hethitische Großkönig den ersten Friedensvertrag der Geschichte, hier liegen die Wurzeln Europas. Der Band führt zu den beeindruckenden Stätten alter Kulturen – zum monumentalen Heiligtum Göbekli Tepe und zu den ältesten Hochzeitsbildern der Menschheit im Latmos-Gebirge, zu den Ruinen der Hethiterhauptstadt Hattuscha und nicht zuletzt nach Troja, der sagenumwobenen Stadt an der türkischen Westküste. In erzählerisch starken Texten und brillanten Fotos liefert dieser Band eine umfassende Darstellung der Geschichte der Türkei, von der Steinzeit bis hin zum geistigen Urknall an der türkischen Ägäisküste, wo ab dem 6. Jahrhundert v. Chr. Philosophie, Wissenschaft und Literatur »erfunden« wurden.
Schon der Titel »Türkei – Wiege der Zivilisation« lässt aufhorchen, denken doch die meisten Menschen mit „normalem“ Schulwissen bei diesem Begriff sofort an Mesopotamien mit Ur und Babylon oder Ägypten mit den Pharaonenreichen. Wer sich für Archäologie interessiert, hat allenfalls schon von dem lange versunkenen und vergessenen Hethiterreich in der heutigen Türkei gehört, dessen Bedeutung man erst in den 1980-1990er Jahren durch Übersetzung eines großen Fundes von Keilschrifttexten in Hattusa erforschte und erkannte.
Dieses Buch von Michael Zick fährt wie ein frischer Wind durch all unser antiquiertes Wissen, denn die Ausgrabungen der letzten Jahrzehnte in der Türkei haben viele Überzeugungen widerlegt und „Wissen“ teilweise auf den Kopf gestellt.
So waren Wissenschaftler vor der Entdeckung von Göbekli Tepe (bauchiger Hügel) der Überzeugung, Kultur und feste Bauten gar bis hin zu Tempeln wären erst mit Beginn der Sesshaftigkeit der Menschen möglich. Die Funde in Göbekli Tepe haben das Gegenteil bewiesen, denn zur Zeit der Errichtung dieser großen Tempelanlage vor mindestens 11.600 Jahren lebten die Erbauer noch als Jäger und Sammler und versammelten sich dort nur zu bestimmten Ritualen und Festen.
Und diese beeindruckende Tempelanlage besteht nicht, wie die berühmte von Stonehenge, die erst ca. 8.000 Jahre später errichtet wurde, aus groben, unbehauenen Steinen, sondern aus monolithischen, fein bearbeiteten Vier-Meter-Pfeilern mit verschiedenen Tierreliefs. Dicht unter dem „heutigen“ Boden kamen außer den riesigen T-Pfeilern, Mauern runder und rechtwinkliger Räume sowie fein geschliffene Terrazzoböden zum Vorschein, wie man sie erst aus römischer Zeit kennt.
Wie die berühmte Höhle von Lascoux sind auch die Tempelanlagen von Göbekli Tepe inzwischen in der Nähe naturgetreu zwecks Besichtigung nachgebaut worden, um die Originale vor Beschädigungen duch zu viele Touristen zu schützen.
Die Ausgräber fanden auf den Pfeilern massenhaft Piktogramme, die sie als Notationssystem interpretierten, mit dem die Menschen Nachrichten „haltbar“ machen wollten. Es wäre das älteste der Welt.
Nicht nur die Ausgrabungen auf dem Göbekli Tepe beeindrucken. An vielen anderen Orten der Türkei sind seitdem sensationelle Entdeckungen gemacht worden , obwohl erst ein Bruchteil der verborgenen Schätze entdeckt und ausgegraben wurde.
So zeigt uns zum Beispiel das Innenleben des Catal Höyük (Gabel Hügel) in der Konya Ebene ein Gesamtkunstwerk kultureller wie zivilisatorischer Entwicklung, das bis heute einzigartig ist. Kein Fleckchen in ihren Häusern blieb unbemalt, Wandgemälde, Reliefs und Skulpturen von Rinderschädeln schufen ein unverwechselbares Ambiente. Die „dicken Damen aus Catal Höyük“ und weitere Funde ließen hier ein Matriarchat vermuten. Die Bergbewohner des Latmos an der türkischen Westküste malten vor 8.000 Jahren ihr Leben auf die Felsen: Tanz, Götter, Hochzeit – aber nie Jagd, Krieg oder Waffen – ein Steinzeit-Woodstock!
Sehr ausführlich erfahren wir auch Neues von dem wohl wichtigsten bzw. bekanntesten und zu seiner Zeit mächtigsten Volk dieser Region, den Hethitern, die im Nebel der Geschichte verschwunden und vergessen waren.
Dabei waren die Hethiter besonders fortschrittlich im Denken, speziell politisch gesehen: Bei Konflikten stand nicht die Vernichtung des Gegners im Vordergrund, sondern das Ziel war ein Interessenausgleich. Töchter konnten den Thron erben und Asylsuchende, denen in der Heimat der Tod drohte, durften nicht ausgeliefert werden. Moderner geht es wohl kaum.
Nach Eroberungen wurde nicht, wie die Europäer dieses später praktizierten, alles niedergemacht, die Götter der besiegten Völker verboten und bekämpft – die Hethiter waren absolut tolerant und integrierten – soweit möglich – die fremden Gottheiten in ihre Glaubenswelt oder ließen sie zumindest neben ihren bestehen, wodurch sie auch das Volk der tausend Götter genannt wurden.
Ein Großkönig Telipinu diktierte den später so genannten Telipinu-Erlaß, eine Art Staatsverfassung – die erste der Welt. Nach diesem Edikt sollte das politische Denken der Hethiter geprägt sein von Einigkeit, Loyalität und Verantwortungsbewusstsein. Daran könnten und sollten sich viele heutige Politiker / Regierungen ein Beispiel nehmen!
Weiteres wichtiges Wissen vermitteln die neuen Erkenntnisse, auch durch die Bergung versunkener Schiffe, über die seit der Steinzeit bestehenden und immer weiter ausgebauten Handelsbeziehungen der Völker Kleinasiens mit dem gesamten Mittelmeerraum bis in den Norden nach England und bis ins Baltikum und östlich bis nach China und Indien.
Auf 176 Seiten vermittelt dieses Buch so viel Wissen, eine Rezension kann dies nur leicht antippen und soll ja auch nur den Appetit anregen, sich ausführlich mit diesen neu entdeckten Schätzen der Menschheit zu beschäftigen. Ich habe zum Beispiel gelernt, wie viele verschiedene Völker, Königreiche, Herrschaftsgebiete, Titel und verschiedene Sprachen und sogar Schriften es im Laufe der Jahrtausende in diesem Gebiet gegeben hat, von denen ich vorher nie gehört hatte.
Und dann stellt Michael Zink neben der Vermittlung von so viel neuen Erkenntnissen und Entdeckungen die Frage, die bis heute nicht wirklich beantwortet werden kann und über die ich nun auch nachdenke: Warum wurde der Mensch sesshaft?
»Zwei Millionen Jahre lang lebte der Mensch als Jäger und Sammlerin – und war es offenbar zufrieden. Plötzlich kam ein neuer Trend auf: Ein festes Haus wurde chic und wer ein Schaf mehr hatte als der andere, war wer. Seitdem hat sich an der Entwicklung der Menschheit nur noch graduell etwas geändert.«
Seite 35
(Beziehungsweise, möchte ich dazusagen, damit begannen alle Probleme der Menschheit (und die allmählich zunehmende Ausbeutung des Planeten Erde), weil plötzlich Haben wichtiger wurde als Sein und das ist leider bis auf den heutigen Tag in unserer „zivilisierten“ Welt so geblieben, insbesondere dort, wo dem Kapitalismus wie einer neuen Religion blind gefolgt wird.)
Die großformatige Gestaltung des Buches mit dem ansprechenden Cover des Schutzumschlages ist äußerst gelungen. Durch das feste und sehr glatte Papier und den harten Einband ist das Buch trotz der Größe gut zu handhaben, die Schrift ist klar und gut zu lesen und durch das feine Hochglanzpapier kommen die vielen wunderbaren Fotos bestens zur Wirkung.
Die inhaltliche Gliederung ist sehr übersichtlich in drei wesentliche Bereiche unterteilt:
1. Morgenröte der Menschheit – Die Steinzeit
2. Im Bannkreis der Hethiter – Die Bronzezeit
3. Anatolien und die Geburt Europas – Die Eisenzeit
Die große Zeittafel und das Glossar im Anhang sind hilfreich. Die vielen im Text eingefügten Landkarten und Zeittafeln zum jeweiligen Thema erleichtern es sehr, die zeitlichen Zusammenhänge zu erfassen, ohne ständig nach hinten blättern zu müssen.
Leider ist Michael Zick, dieser fabelhafte Archäologiekenner und Autor, bereits im November 2011 im Alter von 70 Jahren verstorben. Mit seinem so sorgsam recherchierten und liebevoll gestalteten Buch über diesen bisher vergessenen Teil der frühen Menschheit hat er mir einen ganz neuen Blick auf die Geschichte der Türkei und ganz Kleinasiens eröffnet. Besonders gefreut hat mich, dass er zu der neuen Generation der Wissenschafter gehörte, die nicht mehr ihr Wissen als strenges und unantastbares Dogma betrachten, sondern bei allen Aussagen hinzufügen „nach dem heutigen Stand der Wissenschaft oder nach unserem heutigen Erkenntnisstand“, denn nur das können wir aussagen, zu viele „Wahrheiten“ sind inzwischen als Unwahrheiten auf dem Müll der Geschichte gelandet.
Fazit: Das Buch ist für Jedermann ein Genuss. Für Menschen, die sich schon ausführlicher mit Geschichte und Archäologie beschäftigt haben, ist es eine absolute Bereicherung und Inspiration, ihr Wissen zu erweitern und alte Erkenntnisse zu revidieren. Für „Neulinge“ auf diesem Gebiet sind sicher viele Entdeckungen nicht nur spannend, sondern auch zum Staunen und durch die vielen eindrucksvollen Fotos, den flüssigen Schreibstil und die leicht verständlich beschriebenen Fakten macht es auf jeden Fall Lust auf mehr, unter Umständen sogar darauf, sich diese neuentdeckten Wunder selbst vor Ort anzuschauen.
Für mich persönlich habe ich außer dem korrigierten und erweiterten Wissen über die Geschichte Kleinasiens eine fast philosophische Erkenntnis erlangt. Dabei wusste ich oft nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Mehr als 10.000 Jahre Menschheitsgeschichte lasen sich zeitweise wie die heutigen Nachrichten, nur die Namen waren ausgetauscht: So viele verschiedene Völker mit diversen Regierungen und Herrschern, die immer alle Macht an sich raffen wollen und andere dafür kämpfen lassen, ständig Kriege, Verrat, Spionage, Geheimdienste, Flüchtlinge, Asylanten, Zerstörung und Wiederaufbau bis zur erneuten Zerstörung – ein ständiges Hin und Her der Macht, der Grenzen, des Goldes (Geldes) und der Völker. Seit der Sesshaftwerdung ohne Pause bis auf den heutigen Tag – warum fällt den Menschen nicht mal etwas anderes ein?
Michael Zicks Sachbuch »Türkei – Wiege der Zivilisation« ist im Februar 2013 für EUR 36,95 im Theiß Verlag erschienen – gebunden, 176 Seiten, ISBN 978-3806227062.
Über den Autor: Michael Zick (1941 – 2011) war Wissenschaftsjournalist und Leiter von Kulturreisen. Er schrieb wissenschaftliche Berichte u. a. für Bild der Wissenschaft und ZEIT Online.
Auch Michael Zicks Buch »Die rätselhaften Vorfahren der Inka« ist 2011 ebenso schön gestaltet wie das vorliegende im Theiß Verlag erschienen.
G. Baschelke, 27. August 2018
Links:
Mehr zum Buch auf der Seite des Theiß Verlages.
Auch für die ZEIT Online schrieb Michael Zick viele wissenschaftliche Artikel – diese finden Sie hier.
Mehr Informationen zum Schaffen von Michael Zick finden Sie hier. Ein persönlicher Nachruf hier.