26. September 2015 im Theater „Das Zimmer“: Der Regisseur Lars Ceglecki und der Schauspieler Jan Holtappels kreierten unter dramaturgischer Mitarbeit von Jan Horstmann aus Georg Büchners fragmentarisch hinterlassener und posthum veröffentlichter Novelle »Lenz« ein intensives Ein-Personen-Theaterstück mit zutiefst beeindruckender Leistung Jan Holtappels.
Handlung: Aus Angst vor einer vermuteten aufkeimenden Geisteskrankheit flieht der Sturm-und-Drang-Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz am 20. Januar 1778 ins Gebirge. Dort sucht er auf Empfehlung seines Freundes Kaufmann bei dem Sozialreformer und Pfarrer Johann Friedrich Oberlin Ruhe und Genesung. Die Handlung spielt im elsässischen Waldbach (eigentlich Waldersbach) und den umliegenden Vogesen. Die Beschäftigung mit Religion, Literatur oder Bildender Kunst helfen ihm dort nur zeitweise und ein Rückfall folgt auf dem Fuße. Sein Zustand verschlechtert sich und er verliert immer stärker den Bezug zur Realität. Oberlin, der ihm ein Seelsorger und Mentor wird, kann ihm schlussendlich nicht helfen. Drei Wochen später wird er unter Bewachung fortgeschafft.
Georg Büchners Novelle basiert auf den Aufzeichnungen Johann Friedrich Oberlins, die während der Zeit angefertigt wurden, die der Sturm-und-Drang-Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz bei ihm verbrachte, wobei Büchner Lenz‘ Innenansichten komplett hinzugefügt und damit ein verständliches Bild gezeichnet hat.
»Es drängte in ihm, er suchte nach etwas, wie nach verlor’nen Träumen, aber er fand nichts.«
Schon mit dem ersten in vielen Variationen vorgetragenen Satz hatte mich Jan Holtappels in seinen Bann gezogen. Wie er ganz in Lenz hineinkroch, die scheinbar wirren Gedanken und Gefühle aus sich heraussprudeln ließ, beeindruckte mich sehr. Und dann, als ich verstand, welche Rosse Lenz jagten, weinte ich mit Lenz und für ihn und erst am Ende des Stücks dachte ich wieder daran, dass ein Schauspieler vor mir stand.
Wieder einmal hat mich auch das Bühnenbild von Nicole Bettinger überwältigt. Der Wahnsinn, sagt sie, ist für sie gelb und so zeigte sich die für dieses Theaterstück verengte Bühne in kränklich gelber Farbe, die sich in Jan Holtappels Kluft wiederholte. Mehrere Video-Installationen, die zwischendurch auf die gelbe Wand geworfen wurden, unterstrichen die Stimmung nochmals.
»[…] die Meisten beten aus Langeweile; die Andern verlieben sich aus Langeweile,
die Dritten sind tugendhaft, die Vierten lasterhaft und ich gar nichts, gar nichts,
ich mag mich nicht einmal umbringen: es ist zu langweilig.«
Anmerkung: Inwieweit Jakob Michael Reinhold Lenz verrückt war oder nicht, können wir heute nicht mehr beurteilen. Wohl aber können wir den Worten Büchners entnehmen, wie er seine Figur „Lenz“ der Nachwelt hinterlassen wollte. Büchners Lenz ist ein Suchender, ein an der Welt Verzweifelnder, ein Mensch, der der Erleuchtung so nahe kommt, dass er an ihr verbrennt. Seine Umwelt muss seine Worte und Taten zwangsläufig für irrsinnig halten, können sie doch nicht durch seine Augen sehen, durch eine Gedanken wandern und durch seine Gefühle empfinden.
Erleuchtete Menschen wirken für alle anderen oft wahnsinnig, doch sehr deutlich wird Lenz‘ wahrer Zustand, der als Psychose oder paranoide Schizophrenie eingestuft wurde, an den Feststellungen, er hätte an einer Störung des Ich-Bewusstseins gelitten, so dass er sich vom Rest der Welt nicht getrennt betrachten konnte. Wer sich mit dem Thema Erleuchtung / Quantenphysik beschäftigt weiß, dass dies der eigentlich richtige, gesunde Zustand des Geistes ist, denn wir SIND nicht getrennt, die Trennung ist nur eine Illusion – eine nötige Illusion jedoch, denn ohne diese Dualität gäbe es unsere physische Realität nicht. Alles ist eins und alles ist das Nichts, aus dem es in letzter Konsequenz besteht – ein maximales Potenzial im Zustand größtmöglicher Entropie. Lenz‘ Geschichte ist also ein wenig wie die des weisen Königs in der Parabel von Khalil Gibran, der vom Wasser, das verrückt macht, trinken muss, damit ihn sein Volk, das bereits davon getrunken hat, nicht mehr für verrückt hält. Sich fast gänzlich in die Natur zurückzuziehen, ist meiner Meinung nach ein sehr weiser und logischer Zug, doch wie bei vielen Menschen, die weiter und empfindsamer als ihre Mitmenschen sind, überfällt Lenz eine heftige Depression, die es ihm teilweise unmöglich macht, aufzustehen oder ein „normales“ Leben zu führen. Vielleicht lässt sich Büchners Werk unter diesen Gesichtspunkten nochmals ganz neu betrachten. Wie tief jeder dem weißen Kaninchen in den Bau folgen will, ist natürlich wie immer jedem selbst überlassen.
»Auch bei Tage bekam er diese Zufälle, sie waren dann noch schrecklicher;
denn sonst hatte ihn die Helle davor bewahrt.
Es war ihm dann, als existiere er allein, als bestünde die Welt nur in seiner Einbildung, als sei
nichts, als er, er sei das ewig Verdammte, der Satan; allein mit seinen folternden Vorstellungen.
Er jagte mit rasender Schnelligkeit sein Leben durch und dann sagte er: konsequent, konsequent;
wenn Jemand was sprach: inkonsequent, inkonsequent;
es war die Kluft unrettbaren Wahnsinns, eines Wahnsinns durch die Ewigkeit.«
»Lenz wand sich ruhig los und sah ihn mit einem Ausdruck unendlichen Leidens an, und sagte endlich: aber ich, wär‘ ich allmächtig, sehen Sie, wenn ich so wäre, ich könnte das Leiden nicht ertragen, ich würde retten, retten, ich will ja nichts als Ruhe, Ruhe, nur ein wenig Ruhe und schlafen können.«
Fazit: Einen Tag nach der ausverkauften Premiere lief Jan Holtappels erneut zu Hochform auf. Er rannte, schwitzte, sprang, redete, bibberte, rang nach Luft und klarem Sinn. Er leuchtete wie eine glühende Energiekugel, die sich in für den Betrachter wirren Bahnen durch den Raum bewegt. All dies geschieht im Zimmertheater in unmittelbarer Nähe zum Publikum. Somit war »Lenz« das bisher intensivste Stück Theater, das ich je gesehen habe. Vom Schauspiel über Regie, Dramaturgie und das Bühnenbild bis zu den Videoinstallationen ist alles rundum gelungen. »Lenz« ist ein Glanzstück, das sich kein Hamburger Theatergänger entgehen lassen sollte. Das ist Theater, wie es sich anfühlen kann, wenn Schauspieler und Zuschauer sich dafür gänzlich öffnen. Ein unvergessliches Erlebnis der ganz besonderen Art!
»Er tat Alles wie es die Andern taten, es war aber eine entsetzliche Leere in ihm, er fühlte keine Angst mehr, kein Verlangen; sein Dasein war ihm eine notwendige Last. – So lebte er hin.«
Laila Mahfouz, 8. Oktober 2015
Links:
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Die Website von Jan Holtappels finden Sie hier.
Georg Büchners „Lenz“ können Sie in voller Länge hier nachlesen.
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