9. November 2012: Die Hamburger Autorenvereinigung und der Verband deutscher Schriftsteller Hamburg in ver.di haben wieder zu einer Lesung gegen das Vergessen eingeladen.
Das Gebäude der Hamburger Kammerspiele in der Hartungstraße entwickelte sich einst zum Zentrum der jüdischen Gemeinde im Viertel Rotherbaum. Im Logensaal hielt bis 1937 auch die jüdische Freimaurerloge ihre Sitzungen ab. In diesem Raum fanden sich gestern Menschen zusammen, die den vielfältigen historischen Ereignissen des 9. Novembers gedenken und gegen das Vergessen aufrufen wollten.
Zu Erinnern galt es u. a. der Abdankung des Kaisers und Ausrufung einer Republik 1918, dem Hitler-Putsch in München von 1923, den Ausschreitungen gegen Juden in ganz Deutschland in der Reichskristallnacht 1938, dem Fall der Berliner Mauer 1989 und der Zerstörung der weltberühmten Mostar-Brücke in Bosnien 1993 während des jugoslawischen Bürgerkrieges. Das Motto des Abends wurde deutlich durch die Worte: „Wenn Kultur geht, entsteht Gewalt“ und die Aufforderung an die Träger des freien Wortes:
»Leben in einer Idee bedeutet, sich mit dem Unmöglichen zu befassen,
als wäre es möglich!« (Johann Wolfgang von Goethe)
Als erstes las Reimer Eilers, Vorsitzender des Verbandes Deutscher Schriftsteller in Hamburg, aus "Der Untergang" von Hans Erich Nossack. Hier berichtet Nossak, der u. a. 1950 eines der Gründungsmitglieder der Freien Akademie der Künste in Hamburg war, vom Feuersturm auf Hamburg 1943, den er als Augenzeuge von der nahe gelegenen Lüneburger Heide aus erlebte. Auch Dagmar Seifert blieb mit ihrer sensiblen Geschichte "Hamburg und Gomorrha" bei diesem Thema. In ihrer Erzählung berichtet ein Mädchen, wie es die Bombardierung Hammerbrooks an seinem Geburtstag und den Verlust der Eltern erlebte. Die Autorin überzeugte mit dem richtigen Gespür für kindlichen Ausdruck und Tiefe in der Schlichtheit ihrer Wortwahl.
Andreas Buschmann Foto: Anders Balari
Vor und nach jeder Lesung verzauberte Andreas Buschmann das Publikum mit seinem einfühlsamen Harfenspiel. Die ausgewählten Musikstücke passten gut zu der andächtigen Stimmung. Die zarten Klänge der Harfe perlten über Buschmanns Finger und ließen die nachdenklichen Worte noch tiefer in die Gedanken sinken.
Gino Leineweber las seine Geschichte "Dein Wort sei Ja". Der Autor, der schon seit fast zehn Jahren 1. Vorsitzender der Hamburger Autorenvereinigung ist, hat sich der Zerstörung der Mostar-Brücke als Thema angenommen und traf mit seiner sehr gut gelesenen Erzählung genau den richtigen Ton.
Zum Abschluss des Abends trug Nina George ihr aufrüttelndes Gedicht „Hoffentlich“ vor, welches sie ihrem Großvater widmete, der im zweiten Weltkrieg Juden zur Flucht verhalf. Anschließend las sie mit ihrer gefühlvollen Stimme aus den Autobiographien zweier starker Frauen: Lucille Eichengreen „Von Asche zum Leben“ und Hiltgunt Zassenhaus „Ein Baum blüht im November“. In diesen Texten wird deutlich, dass man immer etwas tun kann, dass Hinsehen eine Verpflichtung ist, der wir uns nicht entziehen können.
Fazit: Ein Abend, der Hoffnung machte und das Schweigen brach. Gestern wurde nicht nur der Juden gedacht, die Hauptleidtragende der schwärzesten Zeit deutscher Geschichte waren, sondern aller Vergangenheit, die aufrüttelt und zum Hinsehen und Nachdenken veranlasst. Möge das Entsetzen über Vergangenes uns den Blick weiten, das Herz öffnen und mit Liebe für alle Wesen füllen, damit wir uns nicht gegeneinander wenden, sondern in Frieden miteinander leben.
Laila Mahfouz, 10. November 2012
Links:
Website von Reimer Eilers
Informationen zu Dagmar Seifert
Website von Gino Leineweber
Website von Nina George
Informationen zu Andreas Buschmann
Website von Laila Mahfouz
Website des Photographen Anders Balari