17. September 2012 im Ernst Deutsch Theater: Eine Familie, deren Mitglieder sich gegenseitig zerfleischen, ein Drama, das zum Nachdenken anregt und ein Thema, mit dem wir uns alle beschäftigen sollten. Ich empfehle den Besuch von Nina Raines mehrfach ausgezeichnetem Stück „Sippschaft“.
Die Familie von Billy (Anfang zwanzig) besteht aus Künstlern, die durchweg egozentrisch und einsam sind. Sie legen viel Wert auf eine gewählte Sprache und lachen oft über ihre eigenen Scherze, die sie dem gehörlosen Billy nur auf Nachfragen und auch nur, wenn sie es für wichtig erachten, erklären. Billy ist dem Leben der Hörenden sehr gut angepasst, denn er kann von den Lippen lesen und kommuniziert, Dank des intensiven Unterrichts seiner Mutter, lautsprachlich. Um ihn aufwachsen zu lassen wie jedes andere Kind, hat seine Familie nie die Gebärdensprache gelernt, obwohl die detaillierte Art sich ausdrücken zu können gerade in dieser Familie höchste Priorität hat. In den täglich stattfindenden Diskussionen gehen alle ihrem liebsten Hobby nach: Die anderen Mitglieder der Familie verbal zu demütigen und zu verletzen. Billy ist von dieser Form der „Zuwendung“ ausgenommen. Als er sich in Sylvia verliebt, die langsam ihr Gehör verliert, bringt die neue Welt der Gehörlosen, in die Sylvia ihn einführt, die Wände des Kartenhäuschens der Familie zum Einstürzen.
Nina Raine, eine der großen Talente des britischen Theaters, erschuf mit ihrem dritten und vielfach ausgezeichneten Bühnenstück „Sippschaft“ ein Drama der besonderen Art. Nicht nur wird in unserer von Sprache geprägten Welt das Thema Taubheit hier so intensiv beleuchtet, dass der Zuschauer lange darüber nachdenken muss, die Bühnenautorin schafft es auch, die Einsamkeit innerhalb der Familie hervorragend darzustellen. Es ist erschreckend, wie abhängig alle einzelnen Personen von Billy sind. Als er selbstständig wird, bricht die Fassade der anderen zusammen. Insbesondere seine beiden Geschwister Dan und Ruth sind nicht in der Lage, ihre Leben in den Griff zu bekommen. Im Interview mit dem Hamburger Abendblatt zeigte sich die aus einer Literatenfamilie stammende britische Autorin begeistert von der punktgenauen Besetzung ihres Stücks, das im Londoner Royal Court Theatre uraufgeführt worden war. Die deutsche Bearbeitung für die Bühne entstand unter der Regie von Peter Hailer in Kooperation mit dem Institut für Deutsche Gebärdensprache und Kommunikation Gehörloser.
Billys Befreiung aus der Angepasstheit an seine Familie stößt auf Entsetzen! © Oliver Fantitsch
Das Ernst Deutsch Theater zeigt aufgrund des wichtigen Themas alle Vorstellungen übertitelt und bietet an drei Terminen auch Gebärdendolmetscher an (Sa., 25.08., Fr., 07.09. und Mi., 03.10.2012). Im Leben des 24-jährigen gehörlosen Darstellers Eyk Kauly (Eric Kaulisky) existieren einige Parallelen zu seiner Rolle Billy, nachzulesen im Interview im Hamburger Abendblatt. Auch er wuchs als einziger Gehörloser in einer Familie hörender Menschen auf und verkörperte wohl auch daher die Ruhe wie auch die Wut seines Charakters hervorragend. Wie er stetig die Angepasstheit an seine Familie losließ, sich mehr und mehr freischwamm und schließlich seinen eigenen Weg fand, war wunderbar anzusehen.
Ein gelungener Trailer des Ernst Deutsch Theaters für das neue Stück „Sippschaft“:
Die Figur des Billy wirkte zwar von Anfang an getrennt vom Rest der Familie, dennoch war er im Laufe des gesamten Stücks der Einzige, mit dem ich nie Mitleid empfungen habe. Billy ist der stärkste Charakter in „Sippschaft“. Selbst zu Beginn, da er seinen Platz im Leben noch nicht gefunden hatte, wirkten alle anderen getrieben und mit sich selbst im Missklang und er als Einziger in sich ruhend. Der Vater Christopher (wunderbar meckernd von Carsten Klemm verkörpert) beschwert sich täglich, dass seine Kinder wieder im Haus leben und untergräbt ihr Selbstbewusstsein nur zu gern. Die Mutter Beth (Isabella Vértes-Schütter) zeigt den Kindern zwar ihre Zuneigung, aber erkennt ihre Bedürfnisse nicht. Erschreckend ist auch der Umgang mit Billys Behinderung: Vater – „Billy ist nicht taub!“ Dann alle entnervt – „Billy ist taub!“
Die Tochter Ruth (Theresa Rose) ist Dauer-Single und relativ erfolglose Opernsängerin, die den Sinn ihres Lebens sucht und aus Frust am liebsten mit Dan streitet. Ruth gehörte eine gehörige Portion meines Mitgefühls, denn sie wirkt sehr verloren und ungeliebt. Sven Gey verkörpert den in sich gefangenen Dan geradezu manisch intensiv. Man möchte alle anderen von ihm abschotten und ihm Raum zum Atmen verschaffen. Mit Billys Auszug verschlimmern sich Dans psychische Probleme zusehens und seine emotionale Abhängigkeit vom Bruder wird überdeutlich. Dan ist wohl unwidersprochen die tragischste Figur in diesem gelungenen Familiendrama und Sven Gey meistert seine Rolle ausgezeichnet.
Katharina Pütter überzeugte mich auch in der Rolle der Sylvia wieder und erzeugte sehr unterschiedliche Emotionen. Vielleicht ist ihre Sylvia die Person, mit der sich das Publikum am besten identifizieren kann. Mir jedenfalls erging es so und bei aller Beherrschtheit wurde ihre Verletzlichkeit erkennbar und der letztendliche Verlust ihres Gehörs war schmerzhaft spürbar.
Fazit: Ein Bühnenstück, das den Zuschauer (Zuhörer!) fordert. Fragen über die Grenzen der Kommunikation und den Ausdruck der Worte werden aufgeworfen und ausgerechnet Billy findet am Ende den verbalen Schlüssel zur Tür des Verständnisses. Ein berührendes Stück, das in seiner verbalen Heftigkeit schier weh tut und den Zuschauer (hoffentlich die meisten!) denken lässt „Bin ich froh, dass meine Familie nicht so ist!“ Sehen und hören Sie sich „Sippschaft“ an. Ein Werk zum Nachdenken und zum Diskutieren, in welcher Sprache auch immer!
Vielen Dank an Claudia!
Verschenkte Erlebnisse sind doch eine ganz eigene Form von Geschenken,
die mit nichts anderem vergleichbar sind!
Laila Mahfouz, 18. September 2012
Links:
„Sippschaft“ im Ernst Deutsch Theater
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