14. April 2012 im Theater in der Washingtonallee: In ihrem auf der gleichnamigen Erzählung von Christa Wolf basierenden Soloschauspiel „Kassandra“ weiß Angelika Landwehr mit ihrer urgewaltigen Intensität und der hohen Aktualität des Stoffes zu überzeugen.
Kassandra, Königstochter in Troja und durch Apoll mit Sehergabe beschenkt, weist die Annäherungsversuche des Gottes zurück und wird daher von ihm dazu verflucht, dass niemand ihren Prophezeiungen Glauben schenkt. Sie muss fortan mit ansehen, wie all ihre schrecklichsten Ahnungen Wirklichkeit werden. Sie sieht viele Mitglieder ihrer Familie sterben und kann trotz ihrer Warnungen nicht verhindern, dass die Trojaner das von den Griechen „zurückgelassene“ Pferd in ihre Mauern holen und damit den Untergang der Stadt heraufbeschwören. Es ist die Geschichte einer Aussenseiterin, gefangen in den Fesseln des Patriarchats, die durch ihre sehr mühevolle und bis an den Rand ihrer Kräfte, ihrer nackten Existenz gehende Selbstaufklärung, die Loslösung vom Ich, heilsam schmerzende Einsicht, einen Splitter holographischer Erleuchtung erlangt und sich so innerlich aus den herrschenden Strukturen lösen kann.
Angelika Landwehr hat in monatelanger Arbeit das Bühnenstück aus Christa Wolfs Erzählung „Kassandra“ „herausgesiebt“, hat einen Reigen eindrücklicher, intimer Schaubilder kreiert, die sie auf unter die Haut gehende Weise zum Leben erweckt, begünstigt von der Enge und ganz besonderen Atmosphäre des Zimmertheaters. Für die 50. Premiere im Theater in der Washingtonallee hat sie damit einen sehr guten Stoff gewählt: Es ist dies eine Würdigung der leider im Dezember 2011 verstorbenen großen Autorin und obendrein haben die Inhalte einen starken Bezug zu den politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahre, die sich aktuell zum Beispiel auch in den Reaktionen auf das Gedicht von Günter Grass widerspiegeln.
Das mit seiner pointierten Schlichtheit überzeugende Bühnenbild stellt ein Museum dar, in welchem Kassandras Leben konserviert wurde. Die symbolträchtigen Kostüme tragen die innere Entwicklung der Protagonistin ins Außen, was durch die direkt auf der Bühne stattfindenden Gaderobenwechsel zusätzlich betont wird. Außerdem dienen die Kleidungsstücke in einigen Szenen als Requisiten. An das Wesen der Zeit gemahnend, hängt im Vordergrund eine riesige Sanduhr, eine Spezialanfertigung der Glasbläserei Brunswieg. Sie erzeugt mit ihrer Dominanz eine besondere Stimmung, denn Kassandra greift durch sie zwar immer wieder in den Strom der Zeit ein, sie wühlt im Sand und beginnt in ihm zu graben, wenn die Zeit still steht, hat damit augenscheinlich die Kontrolle und dennoch ist Kassandra zugleich auch lange Zeit eine Gefangene der Zeit – ein denkanstoßendes Wechselspiel und Zeichen gegenseitiger Abhängigkeit: Ohne Kassandra keine Zeit, ohne Zeit keine Kassandra, oder doch ganz anders? Einem schwarzen Lederhandschuh vermag die Künstlerin mit ihrem Spiel eine aus großer Nähe spürbare Bedrohlichkeit zu verleihen. Ein Zuber wird zum Kriegsschauplatz, füllt sich mit dem Rot der Geschehnisse. Und viel mehr noch, oft allein durch die hohe Körperlichkeit von Angelika Landwehrs Darbietung zum Ausdruck gebracht. Die metaphorische Kraft dieser Bilder wirkt nach.
Agamomnon versucht Kassandra zu unterwerfen, doch hat Angst vor ihrer inneren Stärke. Foto: Anders Balari
Anfang der 80er Jahre nahm sich die ostdeutsche Autorin Christa Wolf des „Stoffes“ der Kassandra an und entwickelte eine Erzählung, mit der sie das durch Stasiüberwachung geprägte System auf subtile Weise angreifen konnte. Diese „Sicherheits“-Mentalität, die Troja ergriffen hatte und in deren Selbstverständlichkeit Kassandra sich nicht wiederfinden konnte, hat auch heute wieder Einzug gehalten. Natürlich leben wir nicht in Troja. Leider. Troja war überschaubar und der giftige Stachel Eumelos als Veranlasser aller Überwachungsgesetze, Kriegstreiber und Angstmacher vor einem erfundenen Feind war rasch gefunden und „sichtbar“. Wir hingegen stehen einerseits vor einer Informationsflut, die vielen Menschen undurchdringlich scheint und andererseits zugleich vor einer bestürzenden Gleichschaltung in der medialen Berichterstattung – Medien, die wegen „wirtschaftlicher Sachzwänge“ sowie leider häufig auch aus propagandistischen Gründen nicht bloß zahnlos geworden sind, sondern wiederholt und unisono für jene Machtelite zubeißen, deren Treiben sie aus kritischer Distanz zum Wohle der Allgemeinheit und zum Schutz der in langem Kampf errungenen Freiheit in westlichen Gesellschaften beleuchten sollten. Und so bewegen auch wir uns in erschreckend großen Schritten auf ein Geflecht von Militär- und Überwachungsstaaten zu, das jeden unserer Schritte kontrolliert.
„Der Feind ist schon da gewesen, bevor der Feind kam. Er hieß Eumelos.“
Der aktuelle Bezug des Schauspiels ist nicht zu übersehen. Nicht nur der Satz „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns“ – eine totalitäre Denkweise und in ähnlicher Form vor einigen Jahren von George W. Bush geäußert – zeigt, wie ungemein stark die Parallelen zu dem Trojanischen Drama sind. Kassandra, die den Untergang der Stadt und viel Unheil vorhergesehen sowie Eumelos und seinen Sicherheitsapparat verdammt hat, wurde als Feindin des Staates mundtot gemacht – so wie heute zu kritische, zu sehr um Wahrheit und Aufklärung bemühte Menschen vielfach ebenso rasch wie pauschal das Etikett „Verschwörungstheoretiker“ aufgeklebt bekommen, was einem intellektuellen und mitunter auch wirtschaftlichen Totschlag gleichkommt, denn einmal an diesen Pranger gestellt, einmal in diesen fraglos tatsächlich aus vielfach befremdlichen Ingredienzen gekochtem Eintopf geworfen, gibt es nur schwerlich einen Weg zurück, egal wie fundiert und seriös die Kritik auch sein mag. Dies wird vor allem auch durch eine in allen Schichten der Bevölkerung zu beobachtende kognitive Dissonanz getragen und genährt, von Orwell einst als „Doublethink“ bezeichnet und ein Refugium, in dem teils gar ohnmächtige Verzweiflung rasch und schmerzlos zu fanatischem Wahn vergoren wird.
Schon Eumelos hat einen Feind erfunden, um sich eine Rechtfertigung für seinen Überwachungtsstaat daraus zu zimmern. Eben dieses Verhalten finden wir als immer wiederkehrendes Muster in unserer jüngsten Geschichte und immer noch in unserer Gegenwart. Eumelos gelang das Schüren der allgemeinen Angst vor dem angeblichen Terror von außen ebenso gut wie unserer Machtelite heute, so dass die wirklich in hohem Maße qualitativ wie auch quantitativ bedrohlichen Gefahren in den blinden Fleck der Massenwahrnehmung abdriften. Kassandra hatte erkannt, dass die Mächtigen das Volk mit Absicht in einem betäubenden Unwissenheitsnebel lassen und fordert die Bürger Trojas auf, sich wichtige Fragen zum Zeitgeschehen zu stellen und nicht nur über das Wetter, die Liebe und die Ernte nachzudenken und wird dafür von Panthoos aufs Schärfste kritisiert: „Wer bist Du, ihnen andere Fragen aufzudrängen?“
„Wollte ich die Leute aus dem Kreis herausreißen, in den sie eingeflochten seien? Weil sie nichts anderes kennen. Weil man ihnen nur diese Art Fragen läßt.“
Kassandra zieht sich zur Auseinandersetzung mit Täuschung, Irrglauben und Gewohnheiten schließlich zurück und verfällt in der Auflösung vom Ich immer mehr dem Wahnsinn und der Entrückung. Dieses Erleben wird passenderweise durch das Musikstück „Space Oddity“ von David Bowie verstärkt. Kassandra gelangt schließlich an eine Stelle, an der sie nicht mehr weiter kommt und an der ihr nur noch Arisbe (überzeugend verkörpert von Lena Conrad), die erste Gattin ihres Vaters Priamos, helfen kann, die sie wieder zurück zu sich selbst und in ihre Wirklichkeit führt. Der hinter ihr liegende Weg, diese Monomanie, die unter Tränen vollzogene Häutung der Zwiebel des Selbst sowie der durch eine vom Selbst verschiedene Instanz ausgelöste „finale Schlag durch die Maske“ sind symptomatisch für die innere Befreiung, so wie sie von vielen Menschen erlebt und als spirituelle Erleuchtung bezeichnet wurde. Die Erkenntnis des Ichs in seiner ultimativen, wahnhaft anmutenden Auflösung und eine Wiedergeburt aus der eigenen Asche, nach der man sich ob der eigenen Nichtidentifikation mit dem Ich nie mehr ganz in die anderen Menschen dieser Welt hinein zu fühlen vermag und zugleich dennoch in seiner Gegenwärtigkeit die ganze Welt ist – einen Splitter davon hat Kassandra abbekommen und mit ihr der Zuseher, ein Splitter, der ob der holographischen Natur des Erwachens ein vollkommenes, wenn auch abgeschwächtes Bild des Ganzen in sich trägt.
Angelika Landwehr ist eine Ausnahmekünstlerin, die seit 13 Jahren mit ihrem Theater auf eigenen Beinen steht. Ihre leidenschaftliche Darstellung der Kassandra, der so viel Unglück widerfährt und der niemand glaubt, wenn sie ihre Rufe erschallen lässt, ist fesselnd, wiederholt urgewaltig und in Summe absolut überzeugend. Ob sie gerade das Herz Hektors auf einer großen Waage mit Gold aufzuwiegen versucht oder von einem Alptraum berichtet, in dem ihr Apoll als Wolf mit vielen Mäusen im Gefolge begegnet ist, stets transportiert sie eine alles durchdringende Intensität, der man sich als Zuseher freilich aber auch hingeben muss, um sie umfassend wahrnehmen und spüren zu können – ein sehr intimes, faszinierendes Erleben. Rasch zieht Angelika Landwehr uns in ihren Bann und das zweistündige Crescendo ihres Schauspiels vergeht wie im Fluge. Auf eine Pause verzichtet sie dabei bewusst und das ist gut, um Spannung und Stimmung zu halten, um die Nähe und das tiefe Erleben nicht zu stören.
Fazit: Sehenswerte Theaterkunst, denn „Kassandra“ ist ein aufrüttelndes Werk, das mit hoher Kunstfertigkeit, Leidenschaft und viel Herzblut durch Angelika Landwehr in ihrem Theater zu intensivem Erleben erwacht. Sie macht dabei auch das, wozu Ernst Fischer einst so eindringlich aufforderte: „In einer zerfallenden Gesellschaft muss die Kunst, wenn sie wahrheitsgetreu ist, diesen Zerfall widerspiegeln. Und wenn sie nicht von ihrer sozialen Funktion abweichen will, hat Kunst die Aufgabe, die Welt als veränderungsfähig darzustellen und zu ihrer Veränderung beizutragen.“
In diesem Sinne ruft Kassandra am Ende aus: „Ich verfluche alle, die sich an Krieg und Gewalt beteiligen, mit ewiger Ruhelosigkeit!“
Laila Mahfouz und Anders Balari, 16. April 2012
Links:
„Kassandra“ wird im Theater in der Washingtonallee noch bis einschließlich 26. Mai gezeigt. Nähere Informationen finden Sie auf der Seite des Theaters in der Washingtonallee.
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