02. April 2012: Urs Widmer erklärte, warum Schweizer gern ins Ausland gehen, beschrieb sein Verhältnis zu den Künstlern Hodler und Amiet und las aus seinem aktuellen Theaterstück „Das Ende vom Geld“, in dem die Finanzkrise zur Apokalypse wird.
Das Ian Karan Auditorium im Bucerius Kunst Forum am Rathausmarkt war gestern um 20 Uhr gut gefüllt, denn Urs Widmer ist unter anderem für seinen Humor bekannt und nicht nur aus diesem Grund sind seine vielen literarischen Werke sehr beliebt. Er versteht es wie kaum ein anderer, seine Leser mit staunenden Augen in eine vertraute und zugleich fremde Welt zu führen und trotzdem niemals Zweifel an den vielen phantastischen Elementen seiner Geschichten aufkommen zu lassen. Alles was möglich ist, ist real und eben deshalb kommen uns Urs Widmers Werke so nahe. Seine Geschichten lassen alles zu, schränken sich und uns nicht ein, sind einfach in kein Genre zu quetschen: Urs Widmer ist somit eine Ausnahmeerscheinung in der deutschsprachigen Literaturwelt.
Frau Dr. Ortrud Westheider, Direktorin des Bucerius Kunst Forums, fasste die Biographie des Autor zusammen und stellte das Bucerius Kunst Forum sowie die derzeitige Ausstellung von Werken Ferdinand Hodlers und Cuno Amiet vor. Ihre Frage, warum so viele Schweizer den Weg ins Ausland wählen, beantwortete Urs Widmer, der unter anderem in Frankreich studiert hat und danach 18 Jahre lang beim Suhrkamp Verlag in Frankfurt als Lektor tätig war, mit der Vermutung, dass dies eine Nachwirkung des zweiten Weltkrieges sein könnte, während dem die Schweiz praktisch eingeschlossen gewesen war, was sich bis in die 50er Jahre kaum geändert hätte. Dieses Leben auf engstem Raum hätte die Schweizer sehr geprägt, so Widmer. Auch in jüngere Generationen hätte sich diese Reise- und Erkundungsfreude weitergetragen, wobei Künstler hier besonders hervorzuheben wären: „Alle schweizer Künstler haben den Drang ins Ausland.“
Im Zusammenhang mit der derzeitigen Ausstellung im Bucerius Kunst Forum fragte Frau Dr. Westheider den Autor nach seiner Meinung zu Ferdinand Hodler und Cuno Amiet. Widmer gestand, zu Hodler, der in Widmers Jugend geradezu übermächtig präsent gewesen war, erst spät gefunden zu haben. Seine Kunst hatte er erst wirklich zu schätzen gewusst, als auch Hodler von der Realität der aktuellen Zeit gebrochen worden war. Den Zugang zu Cuno Amiet hatte der Schriftsteller jedoch schon früh gefunden. So hatten zum Beispiel Hodlers heldenhafte Darstellungen des Wilhelm Tell den Rebell im jungendlichen Widmer in Aufruhr gebracht, da sie die Verehrung der Phantasie-Legende Wilhelm Tell aufleben ließen.
„Heute glaube ich an beides:
Wilhelm Tells Heldentaten und
dass es ihn nicht gegeben hat.“
Urs Widmer erzählte von der Arbeit an seinem wunderbaren Roman „Herr Adamson“ (2010) und wie sehr er selbst den Zaubergarten vor sich sehe. Auf seine drei Romane „Der Geliebte der Mutter“ (2003), „Das Buch des Vaters“ (2005) und „Ein Leben als Zwerg“ (2008) angesprochen, meinte er zum Begriff „Trilogie“ nur lakonisch: „Ein Gerücht, dass ich nicht mehr dementiere, denn offenbar stimmt es.“ Dennoch klärte er auf, dass das dritte Buch wirklich keineswegs aus seiner, sondern viel mehr aus der Sicht einer lebendigen Zwergenfigur geschrieben wurde, in dessen Leben er, Widmer, eben ab und an auftauche.
„Man kann mit Wörtern viel machen und dann entsteht
ein funkelndes Bild.“
Natürlich kam seine vielgelobte kleine Prosa „Stille Post“ (2011) auch zur Sprache. Das Werk umfasst verschiedenste Geschichten, unter anderem die von der ZEIT Hamburg und dem Tages-Anzeiger Zürich unterstützte Unternehmung „Stille Post“. Zu diesem Zweck wurde eine von Urs Widmer märchenhaft verfasste Kurzgeschichte zu professionellen Übersetzern nach Spanien, China, England, Russland und Frankreich geschickt, wobei jeder immer nur den Text des letzten Übersetzers erhielt. Was am Ende dabei herauskam, ist spannend, amüsant und lehrreich zugleich, jedoch hat es kaum mehr etwas mit dem feinsinnigen Text Widmers gemein, der dazu schmunzelnd anzumerken hatte: „Zum Schluß realisierte ich aber, wie riskant die Unternehmung war: es hätte ja auch besser zurück kommen können.“
„Alle Kunst ist auch Spiel.“
Zur Überraschung des Publikums las der Autor anschließend nicht aus seinen Romanen, sondern erstmals öffentlich aus dem am 24. März 2012 mit großem Beifall im Staatstheater Darmstadt uraufgeführten Theaterstück „Das Ende vom Geld“. Wie schon in seinem bisher erfolgreichsten Theaterstück „Top Dogs“ nahm Widmer die Manageretage wieder aufs Korn. „Ich dachte in mir, die Ökonomie muss ich nochmal packen.“ Er schickt die höchsten Banker zu einer Weltwirtschaftskonferenz und damit an den Rand des Abgrunds, der durch ihre eigene Habgier entstanden ist. Das Zürcher Schauspielhaus hatte Widmers neues Stück nicht haben wollen, da – nach ihrer Meinung – die Finanzkrise ja vorbei wäre, bevor das Stück auf die Bühen käme. Weit gefehlt – leider! Weitere Aufführungen des Stücks sind dieses Jahr noch in St. Gallen und in Münster geplant.
Erschienen sind Urs Widmers Bücher von Anfang an im zu recht so beliebten Diogenes Verlag, dessen Verleger Daniel Keel leider im September vergangenen Jahres verstorben ist. Der Diogenes Verlag zeichnet sich durch eine hervorragende Auswahl an Autoren, besondere Betreuung und Nähe, sowie qualitativ hochwertige Texte und Form aus (Welcher andere Verlag bindet jedes Hardcover noch in Leinen?). Ich wünsche Urs Widmer weiterhin viel Erfolg und besonders, dass er die Freude am Schreiben und seine bemerkenswert irre Phantasie behalten möge. Vielen Dank für diesen schönen Abend und für die Geduld beim Signieren meiner unzähligen mitgebrachten Bücher!
Laila Mahfouz, 3. April 2012
Links:
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Die Bücher Urs Widmers
„Das Ende vom Geld“: Aktuelles Theaterstück von Urs Widmers im Staatstheater Darmstadt
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