7. Januar 2011 im Theater in der Washingtonallee, dem kleinsten Theater Hamburgs: Noch bis 18. Februar überraschen die Darsteller des modern inszenierten und im Jahr 2012 angesiedelten „Hamlet“ den Zuschauer mit großer Intensität und ziehen ihn mitten hinein in einen zeitgemäß tragisch-verrückten Reigen aus Intrigen, Liebe, Rache, Mord und Verzweiflung, der nichts an Aktualität verloren hat, den es 2012 aber freilich weitgehend auf metaphorischer Ebene zu würdigen gilt. Sehens- und empfehlenswerte Theaterkunst in einem durch seine Intimität überwältigenden Rahmen.
Auf der sehr kleinen Bühne des Theaters in der Washington Allee wäre es nicht leicht gewesen, das Stück in herkömmlicher Weise und mit entsprechend vielen Schauspielern zu inszenieren. Und wirkt die räumliche Enge zunächst überraschend oder vielleicht gar befremdlich, so zeigt sich rasch, dass diese Gegebenheiten eine Nähe und Intensität begünstigen, die sonst in dieser Form kaum möglich ist. Die Darsteller Susanna Dübbers, Horst Seidler und Lena Conrad, die alle drei auch gleichzeitig die Regie übernommen haben, nutzen all das gekonnt und ziehen das Publikum mitten in das Geschehen, auch emotional – darauf muss man sich natürlich einlassen können und wollen; will und kann man es, wird man mit einer vereinnahmenden und belebenden Intensität belohnt, die noch lange nachwirken kann. Dazu trägt insbesondere auch bei, dass die Darsteller den Zusehern in dem kleinen Theaterraum wiederholt unverwandt, intensiv und lange genug direkt in die Augen blicken, um einen Sog und eine Nähe zum Geschehen zu bewirken, die ihres Gleichen wohl sehr lange suchen.
Horst Seidler als überzeugend interpretierter moderner Hamlet, hier in einem der wenigen etwas (stimmungs-)helleren Momente des Prinzen. Foto: Anders Balari
Die Inszenierung setzt am Schluss der Handlung an, was ausnehmend gut funktioniert. Aus dem Dunkel taucht gleich zu Beginn Hamlet in seiner Sterbeszene am Ende des Stücks auf und nimmt seinem Freund Horatio das Versprechen ab, von den vergangenen Ereignissen zu berichten, was dieser in weiterer Folge auf seine ganz eigene Weise macht. Immer wieder schlüpft der Hamlet Darsteller Horst Seidler zu diesem Zweck auch in die Uniform von Horatio und bringt die Handlung erzählerisch weiter voran. Dies ist mit einem Perspektivensprung verbunden, den Horst Seidler über das Maß eines einfachen Rollenwechsels hinaus geschickt nutzt – etwa um pointiert zu kommentieren oder den Spannungsbogen abrupt weiter anzuspannen. Horatio ist zugleich das einzige Element, das so etwas wie „objektive Normalität“ ausstrahlt, dem Publikum ein überaus kritischer Leuchtturm in einer Brandung aus zunehmender Verrücktheit ist; eine Verrücktheit, die weniger pointiert im alltäglichen Geschehen rund um uns ihrerseits und anstelle „wahrer Normalität“ – angesichts der immanenten Relativität ein begriffliches Unding, klar – viel zu leicht als Normalität durchgeht. Hamlet, so wie Horst Seidler ihn präsentiert, ist schwach, desillusioniert, auf depressive Weise bissig, pessimistisch und abträglich geerdet, und immer dann, wenn er zumindest in eine Melancholie hoch zu kriechen vermag, scheint er sich darin zu baden und zeigt damit auch noch einen tragischen Narzissmus. Ein Hamlet, der mehr deprimiert wirkt als verrückt. Ein Hamlet, der für einen halb erwachten Menschen der Gegenwart stehen mag, der sich vom Erwachen erschlagen fühlt und ob seiner gefühlten, verzweifelten Ohnmacht den Prozess des Erwachens zum Nachteil Aller vor der Zeit abbricht, um lethargisch bis zu seinem Ende in einer fatalistischen Twilight Zone zu verweilen.
Hamlet und sein Onkel, der König von Dänemark. Susanna Dübbers und Horst Seidler glänzen mit ihrem intensiven Spiel. Foto: Anders Balari
Susanna Dübbers wirkt als Hamlets Onkel und aktueller König Dänemarks sofort intensiv auf die Zuschauer ein, sobald sie die Bühne im Ledermantel erstmals betritt: Ein arroganter Claudius, kühl und distanziert einerseits, andererseits auch bedrohlich und autoritär, schwer fassbar im Sumpf seiner Dekadenz irgendwo zwischen überheblicher Ignoranz und vernichtender Explosion verortet – und andererseits in der letztendlichen Quintessenz zugleich elend und armselig, lächerlich und im Geiste krank. Ein schizophren wirkendes Herrschaftsgehabe, das in seiner intendiert überzeichneten Präsentation an so manche Machtfigur aus Politik und Wirtschaft im 20. und vor allem auch 21. Jahrhundert erinnert. Daneben kontrastiert – und ergänzt, denn mitunter wirkt es wie zwei Seiten derselben Person – Susanne Dübbers ihre eigene Darbietung auf gelungene Weise durch ihre Interpretation von Hamlets Mutter Gertrude, die sie ebenfalls mimt. In dieser zweiten Rolle gelingt ihr die nach außen hin letztlich wirkungslos bleibende innere Wandlung besonders gut. Die praktisch durchgehende Handhaltung Gertrudes (siehe dazu das erste Foto oben) erinnert wohl nicht zufällig an die zunehmend hilflos wirkende deutsche Kanzlerin, mit einem bedeutenden Unterschied: Susanna Dübbers symbolisiert durch die vergleichsweise meist deutlich tiefere Platzierung des wohlbekannten Dreiecks zugleich jene Weiblichkeit, die Merkel in ihrem Verhalten leider vermissen und somit jene ausgleichende Kraft völlig ungenutzt lässt, die schon in kurzer Zeit gesellschaftlich sehr positiv wirken könnte.
Anmerkung von Anders Balari: Was sich empirisch beispielsweise dadurch zeigt, dass die herausfordernde und kommunikationsintensive Organisationsform „Matrixorganisation“ in Anwesenheit weiblicher Verhaltensaspekte signifikant besser funktioniert, so zu beobachten im skandinavischen Raum. Als ich das vor knapp 11 Jahren, freilich von einer Professorin 😉 , als nicht in den relevanten Lehrbüchern vorhandene Information als Antwort auf die von mir nicht beantwortbare Frage bei meiner Diplomprüfung serviert bekam, hielt sich meine Freude über diese Erkenntnis zunächst in Grenzen – bald darauf folgten Dankbarkeit und Jahre tendenziell und auch in anderen Kontexten bestätigender Beobachtungen. |
Ophelia (Lena Conrad) spielt gedankenverloren auf einer Gitarre und ahnt nichts von den Schrecken, die ihr kurzes Leben noch für sie bereit halten wird.
Foto: Anders Balari
Lena Conrad spielt Ophelia und auch die zu einer Person zusammengefassten Rosenkranz und Güldenstern, wobei diese Zusammenfassung ein sehr guter und passender Einfall ist. Während der stets maskierte Rosenkranzgüldenstern oder „Güldenkranzrosenstern“ gelungenerweise marionettenhaft und hohl bleibt, findet die noch sehr junge Lena Conrad nur mit einigen Startschwierigkeiten in die Rolle der Ophelia. Doch im Laufe des Stücks erreicht sie Schritt um Schritt die Überzeugungskraft und Intensität ihrer Kollegen, was – gewollt oder ungewollt – sehr gut mit dem Spannungsbogen und dem Klimax der Inszenierung harmoniert. Insgesamt ein Bild, in dem auch die kindlich-jugendliche Unschuld, ein neben der Weiblichkeit hier stärker als in anderen Inszenierungen betonter Aspekt, nicht von der Feuersbrunst des letztlich alles verschlingenden Wahnsinns verschont bleibt.
Polonius (Narrenstab), die einzige Fehlbesetzung, im Gespräch mit Claudius. Foto: Anders Balari.
Die Rolle des Polonius kam ohne Worte sowie mit nur wenig Bewegung aus. Dafür konnte ein Narrenstab gewonnen werden, doch er ist die einzige Fehlbesetzung in dieser Inszenierung. Einerseits und an der Oberfläche wegen der nur geringen, aber dennoch vorhandenen Verwechslungsgefahr mit dem verstorbenen Hofnarren Yorick, der sonst als Schädel auftritt und hier – ohne Schaden an der Inszenierung – gänzlich ausgespart wird. Andererseits jedoch wegen der letztendlichen Bedeutung des Narrentums, wie sie etwa in Khalil Gibrans „Der Narr“, in Jostein Gaarders „Das Kartengeheimnis“ und in Lithographien von A. Paul Weber gut skizziert, doch leider vielfach fehlinterpretiert wird. Diesem Rollenbild wird Polonius weder in Shakespeares Original noch in dieser modernen Inszenierung gerecht. An dieser Stelle wäre unserer Ansicht nach ein Rauswurf des Narrenstabes angebracht, vielleicht würde eine Klobürste, die man wahlweise auch als Rohrstock verwenden könnte, ja besser passen?
In dieser Inszenierung wird nicht nur der allseits bekannte Text von Shakespeare dargeboten, vielmehr haben die Darsteller den Kontakt zu aktuellem Zeitgeschehen gesucht und gefunden, haben dazu auch wiederholt passende Zitate von Persönlichkeiten aus jüngerer Zeit einfließen lassen. Die moderne Auslegung und die – notwendigerweise oft nur metaphorisch – in unsere Zeit versetzte Handlung gipfelt in der Schlußszene, einer Ergänzung, die sich ähnlich dem leider oft ausgesparten Vorspiel zu Goethes Faust auf eine Metaebene begibt. Dort verschmelzen Hamlet mit Horst Seidler und Ophelia mit Lena Conrad, nicht mehr tot, sondern gleichermaßen ver- wie entrückt. Dort vereinigen sich Claudius und Gertrude zu deren Irrenärztin, die lieber psychiatriert, abstempelt und in die Ecke stellt als wirklich hinzusehen und zu heilen – vielleicht ja gar als Ausdruck einer skurrilen Schizophrenie, einerseits getrieben von der Angst, selbst in einem halberwachten Zustand der ohnmächtigen Entrückung und Verrücktheit zu landen und andererseits berauscht von ihrer Macht und deren Erhalt, mesmerisiert von dem, bei Tageslicht mit Herz und Verstand betrachtet, lächerlichen Mummenschanz, den sie für die Wirklichkeit hält und, wenn man sie ließe, gar auch bald als alternativlos bezeichnen würde; vielleicht auch nicht und es gehen uns hier bloß die interpretatorischen Pferde durch, allein, es würde zu den stumpfsinnigen Elendsgestalten passen, die sich heute vielfach auch dann noch als elitäre Führungspersönlichkeiten gefallen, wenn sie selbst bereits in jenen Abgrund stürzen, in den ihre Verfehlungen und Versäumnisse einen guten Teil der Gesellschaft nebst dem von ihr bewohnten Planeten seit geraumer Zeit mit zunehmender Geschwindigkeit befördern. Wenn Ophelia und Hamlet also statt dem Tode der Wahnsinn packt, verbleiben sie hinter verschlossenen Türen, was in gewisser Hinsicht ebenfalls in einem erschreckenden Maße für die Abwesenheit von Leben steht.
Fazit: Tiefsinniges, intensives Theater in einem überaus interessanten Umfeld, das eine besonders intime und vereinnahmende Herangehensweise ermöglicht, die sehr gut genutzt wird. Nach „ELLADA – Griechenland und die Liebe des Diogenes“ von Angelika Landwehr, der Betreiberin dieser außergewöhnlichen Bühne, konnte uns auch dieser „Hamlet“ voll und ganz überzeugen, ja durchdringen. In unserem persönlichen Theatermenü etabliert sich das Theater in der Washingtonallee damit als Fixgericht. Ans Herz legen können wir das Stück allen Shakespeare-Freunden und denen die es werden wollen ebenso wie allen Freunden des experimentellen Theaters. Sie werden auf Ihre Kosten kommen. Durch die Enge des Raumes und die Nähe zu den Schauspielern wird eine Intensität geboten, wie sie auf Hamburgs Bühnen wohl einmalig ist und es verwundert, dass diese außergewöhnliche Adresse nicht allein schon nur wegen ihres Alleinstellungsmerkmals in jedem Kulturführer Hamburgs zu finden ist. Es sei abschließend jedoch angemerkt, dass es gut tut, sich zumindest in den Grundzügen über den Inhalt von Shakespeares Hamlet informiert zu haben. Wer das Stück und seine Charaktere überhaupt nicht kennt, könnte ein wenig verloren gehen und es wäre schade, wenn ihm dadurch dieses Theatererlebnis der besonderen Art getrübt würde.
Die Inszenierung ist übrigens der erst im letzten August an Knochenkrebs verstorbenen Schauspielerin Rosel Zech gewidmet.
Anders Balari & Laila Mahfouz, 11. Januar 2012
Links:
Die Homepage des Theaters finden Sie hier: www.theaterwashingtonallee.de
Hier geht’s zu einer Fotostrecke des Stücks.
Hier geht’s zu einer Information zu Shakespeares Hamlet.
Mehr über den Autor und Photographen unter www.431verstaerker.de
Mehr über die Co-Autorin unter www.lailamahfouz.de