25. Oktober 2011 im Ernst Deutsch Theater: Volker Lechtenbrink schafft seit Ende September den Marathon des Ein-Mann-Stücks „Heute weder Hamlet“ mit Bravour. Ihm gelingen die Sprünge von einer Stimmung zur nächsten gewohnt souverän und auf den Punkt genau.
Vor das wartende Publikum tritt ein Ansager und informiert, dass die Vorstellung von „Hamlet – Prinz von Dänemark“ leider aufgrund eines Krankheitsfalls ausfallen muss. Die Zuschauer murren, doch niemand steht auf. Irgendwann öffnet sich der Vorhang und gibt den Blick frei auf Ingo Sassmann, den Vorhangzieher, der gerade beginnt, die Theaterkulisse von Hamlet abzubauen. Er ist überrascht, irritiert und versucht anfangs, das Publikum zum Gehen zu bewegen. Schließlich jedoch beginnt er zu reden, erst zögerlich, dann immer mehr. Er berichtet vom Theater, von seinem Beruf erst auf und jetzt hinter der Bühne und auch in leisen Tönen aus seinem Leben. Ich bin ergriffen, überwältigt, erstaunt. Wie gelingt es Volker Lechtenbrink nur, diesen 46 Seiten Theatermonolog so mit Leben zu erfüllen, dass jede Sekunde vor den Augen des Publikums zur Wirklichkeit, zur Realität wird? Er erschleicht sich erst langsam unsere Aufmerksamkeit und packt dann aber in einem Moment großer Emotionalität umso kräftiger zu.
Der anfangs über sein unerwartetes Publikum noch irritierte Sassmann beginnt bald, von seinem Beruf als Vorhangzieher zu berichten. Was verbirgt sich hinter dem Theatervorhang? Trennt dieser doch die Welten zwischen Lüge und Wahrheit, Realität und Illusion, zwischen Sein und Schein am Anfang und zwischen Schein und Sein am Ende. Leider ist Ingo Sassmann, der selbst lange als Schauspieler aufgetreten ist, seit Jahren dazu verdammt, die heißgeliebten Bretter, die die Welt bedeuten, nur noch von der Seite zu sehen, da er dort auf den Vorhangeinsatz wartet. Er sitzt in der Tat am Rande der Gesellschaft, darf nicht mehr mitspielen, weder auf der Bühne noch im Spiel des Lebens. Er ist hier gestrandet und erträgt seine Situation geduldig und ohne aufzubegehren bis zu dem Moment, da er das Publikum und seine Chance vor sich sieht. Der Vorhang ist geöffnet, das Publikum in Erwartung und ein Schauspieler auf der Bühne – das Theater kann beginnen. Plötzlich erwacht in Sassmann das viel zu lange zurückgedrängte Verlangen zu spielen, Theater zu machen, sich jemandem mitzuteilen. Er sucht im Publikum nach dem Verständnis, das ihm bisher verwehrt wurde. Doch die anscheinend überfällige Auseinandersetzung mit seinem Leben, seinem Schicksal und sich selbst birgt auch die Gefahr von Verzweiflung und Ohnmacht.
Ingo Sassmann wurde zum Gefangenen seines Schicksals hinter dem Theatervorhang. Dem Vorhang, der sein Leben entschieden hat. Aus diesem lebendigen Gebilde aus Samt und Illusion kann er sich nicht befreien. Mit Schrecken stelle ich fest, dass Mitgefühl für die Leiden, den schweren Lebensweg Sassmanns leider einem Teil des Publikums fehlt und so wird an Stellen vereinzelt gelacht oder gescherzt, an denen sich mir die Kehle zuschnürt. Mehrere unglückliche, tragische Umstände verändern Sassmanns Leben. Erst erleidet seine Frau einen furchtbaren Unfall auf der Bühne, dann verliert Sassmann aufgrund eines Missgeschicks sein Engagement am Theater und muss fortan mit dem Spott, der in Theaterkreisen nie in Vergessenheit geratenen „Anekdote“ durch sein Leben ziehen und findet keine Rollen mehr. Sein Leben als Schauspieler ist vorbei und auch seine große Liebe droht zu zerbrechen. Ich bin noch immer leicht geschockt über so wenig Empathie seitens einiger Zuschauer und kann denjenigen, die wirklich den Schmerz Sassmanns nicht nachempfinden und diesen nur mit hohlem Gelächter quittieren konnten, nur dieses Videoempfehlen, um sich bewusst zu werden, dass Empathie normal ist und eben nicht das Lachen über das Leid eines anderen in einer Ellenbogengesellschaft.
Volker Lechtenbrink und Andreas Kaufmann (Regie) ist es gelungen, das Publikum zu fesseln, zu bewegen und ein wenig auch zu entsetzen. Hier sehen wir nicht „Hamlet – Prinz von Dänemark“, ein Stück, welches uns vertraut ist, aber doch immer einen großen Abstand zu unserem eigenen Leben hält, am Ernst Deutsch Theater wird momentan weder Hamlet noch sonst ein Stück gespielt. Dargestellt aber wird das Leben, so wie wir es kennen, mit all seinen Aufs und Abs, seinen Niederlagen, Erfolgen, Schicksalsschlägen und Anforderungen. Hier finden wir uns wieder und erkennen Parallelen zu unserem Dasein, können das Gesehene nicht als pure Unterhaltung „abtun“. Hier findet eine Auseinandersetzung statt. Sassmann setzt sich mit sich selbst und mit dem Publikum auseinander und bestenfalls auch jeder Zuschauer mit Sassmann und mit sich selbst. Am Ende drängt sich das Publikum, dessen Wahrnehmung gerade bis zum Äußersten gefordert wurde, hinaus, lässt Sassmann und den Theatersaal zurück und nimmt doch einen Teil mit sich. Zu Recht wurde das Ernst Deutsch Theater mit dem Pegasus Preis 2011für die beeindruckende Gesamtleistung (besonders für den vielschichtigen Spielplan, die engagierte Jugendarbeit und die behutsamen konzeptionellen Änderungen) von einer unabhängigen Jury ausgezeichnet. Mit diesem seit 1999 verliehenen und mit EUR 35.000 dotierten Preis für Hamburger Privatbühnen kann das Ernst Deutsch Theater in der kommenden Spielzeit eine besondere Produktion realisieren. Ich bin schon jetzt einerseits gespannt auf das Ergebnis, andererseits sicher, dass auch diese Produktion mich wieder überzeugen wird.
Aber jetzt möchte ich erst noch allen, die „Heute weder Hamlet“ noch vor sich haben, viel Genuss an dem hervorragenden Spiel Lechtenbrinks, gute Unterhaltung und hinterher Zeit zum Nachdenken wünschen. Der Rest ist Schweigen.
Laila Mahfouz, 26. Oktober 2011
Links:
Hier geht’s zu einer Fotostrecke des Stücks.
Mehr über die Autorin Laila Mahfouz
Mehr über den Photographen Anders Balari